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Über dieses E-Book

Teheran im Jahre 1884, Tâdsch os-Saltane wird in die Dynastie der Kadscharen geboren, als eine weitere – ungezählte – Tochter von Nâser ed-Din Schah und einer seiner 25 Frauen. Ohne Liebe, aber in unermesslichem Reichtum, wächst sie heran, wird im Alter von acht Jahren verlobt, fünf Jahre später verheiratet. Nach ihrer Scheidung heiratet die mehrfache Mutter noch zweimal. 1896 stirbt ihr Vater an den Folgen eines Attentats. In ihren Memoiren wirft sie einen schwermütigen Blick zurück, beschreibt ihre Zeit und die Sitten am Hof dieser Dynastie kurz vor dem Untergang. Klug reflektiert sie über längst fällige Reformen und schaut mit Wehmut nach Europa, wo die Frauen mit zunehmendem Erfolg für ihre Rechte eintreten.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum16. Juni 2016
ISBN9788711449516
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    Buchvorschau

    Memoiren - Tâdsch os-Saltane

    www.egmont.com

    Teil I – Die Memoiren

    Am Donnerstagabend, dem letzten Tag des Rabi’ ol-avval 1332, der dem 7. Dalv¹ entspricht. An diesem Spätnachmittag, an dem der Himmel wolkenverhangen und die Luft trübe und – passend zu meinen Gedanken und Überlegungen – trist und sorgenschwer war, saß ich im Halbdunkel meines Zimmers und widmete mich dem Malen. Es schneite heftig, und außer dem Wehen des Windes war kein Laut zu vernehmen. Eine traurige Stille umgab mich, verstärkt noch durch den sanften roten Schein des Feuers im Ofen.

    Ich dachte überhaupt nicht mehr an den trübsinnigen jungen Mann – ja, ich hatte ihn wirklich ganz vergessen –, der hinter meinem Rücken in einem Lehnstuhl versunken saß und mit mitleidigem und mildem Blick meinen wenig zielgerichteten und fehlerhaften Federstrichen folgte, mit denen ich dabei war, ein Mädchengesicht zu zeichnen. Wiederholt seufzte er tief auf.

    Schließlich sagte er: »Sie geben sich wirklich große Mühe und quälen sich gar sehr. Es ist wohl besser, wenn Sie sich ein wenig ausruhen. Es ist auch schon dunkel draußen; das macht es dem Maler doch recht schwer.«

    Seine Stimme, die zu hören ich nicht erwartet hatte, da ich mich allein wähnte, ließ mich mit einem Ruck auffahren: »Ach, Soleimân! Waren Sie die ganze Zeit hier?«, entfuhr es mir.

    Er verfiel in ein eigentümliches Lachen und erwiderte: »Ihre konfusen und sprunghaften Gedankengänge führen immer wieder dazu, dass Sie Anwesende, ja sogar sich selbst vergessen. Allmählich bedrückt mich Ihre viele Grübelei. Wenn Sie spüren, dass Sie wieder anfangen zu grübeln, sollten Sie sich lieber angenehmen Gesprächen hingeben, draußen spazieren gehen und die Natur genießen, oder besser noch, lesen Sie etwas über vergangene Zeiten.«

    Bitter lächelnd erwiderte ich lauter, als ich wollte: »Ach, mein lieber Lehrer und Cousin! Wo doch meine eigene Vergangenheit und Gegenwart eine einzige erstaunliche und qualvolle Geschichte sind, denken Sie da wirklich, ich sollte mich mit der Geschichte anderer befassen? Ist es denn nicht die beste Ablenkung auf der Welt, wenn man sich die eigene Geschichte vor Augen hält?«

    Soleimân zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Ach! Eine Geschichte über alle guten und schlechten Erfahrungen eines Menschen ist eigentlich nicht das, was ich unter Geschichte verstehe. Aber wenn Ihre Geschichte dermaßen ungewöhnlich und erstaunlich ist, warum erzählen Sie sie mir dann nicht, so dass ich daraus etwas lernen kann?«

    Ich antwortete: »Meine Geschichte ist so bedeutsam und voller verwickelter Geschehnisse, dass selbst ein Jahr nicht ausreichte, um sie Ihnen zu erzählen, selbst wenn ich Stunde um Stunde ununterbrochen redete! Und manches Mal ist sie so kummervoll, bisweilen aber auch so erfreulich, dass sie den Zuhörer in Erstaunen versetzen würde.«

    Neugierig geworden horchte er auf und sagte: »Hört, hört! Könnte es sein, dass Sie sich über mich lustig machen und nur Scherze mit mir treiben?«

    Doch als Soleimân bemerkte, dass ich ihn aufrichtig und ernsthaft anblickte und mir also gar nicht nach Scherz und Spaß zumute war, sagte er noch im gleichen Augenblick nachdenklich: »Ach, verehrte Dame! Bestünde wohl die Möglichkeit, dass Sie mir erzählen, was Sie erlebt haben?«

    »Lieber nicht«, meinte ich.

    Hoffnungsfroh bat und bettelte er und wollte allen Ernstes, dass ich ihm alles berichte. Und je mehr ich mich weigerte, desto mehr beharrte er darauf.

    Letzten Endes schlug ich ihm vor: »Für den Augenblick habe ich nichts dazu zu sagen. Doch ich verspreche Ihnen, meine Geschichte für Sie niederzuschreiben.«

    Freudig dankte er mir. Vorab halte ich es an dieser Stelle aber für notwendig, zunächst ein paar Worte über meinen Lehrer zu verlieren und ein gutes Bild von ihm zu zeichnen. Danach will ich mit meiner Geschichte beginnen.

    Soleimân, der Lehrer

    Der junge Mann wurde am 11. Muharram 1307 geboren und betrieb bereits in seinen Grundschuljahren Studien. Im Alter von 17 Jahren, im Jahre 1324² trat er der »Gesellschaft der Armut und Gotteserkenntnis« bei und widmete sich ungefähr zwei, drei Jahre lang mit großer Hingabe dem Studium der Gnostiker und Dichter. Danach besuchte er die »Akademie für Politische Wissenschaften«, deren er aber auch recht bald müde wurde und die er wieder verließ, um dann auf die »Akademie der edlen Künste« zu wechseln und sich zwei Jahre lang mit der Malerei zu beschäftigen.

    Aus seinem abwechslungsreichen und sprunghaften Leben können wir trefflich auf seinen Charakter schließen und leicht ersehen, dass dieser junge Mann überaus kapriziös war und kein festes Ziel vor Augen hatte. Mit 18, 19 Jahren verfiel er in seiner Fantasiewelt sogar in Liebe zu einer imaginären Person und tat es in seinen Handlungen dem berühmten Don Quichote gleich. Als er dann endlich seine imaginäre Geliebte wirklich fand, vergalt diese ihm seine besessene Liebe mit Untreue. Der junge Mann litt entsetzliche Qualen und begab sich schließlich auf Reisen. Dieser Künstler, mein lieber Lehrer, ahnte, dass die Trennung von seiner Geliebten bevorstand.

    Über seinen Charakter habe ich hinlänglich berichtet, nun will ich über sein Äußeres reden. Er hat ein anziehendes, edles und schönes Gesicht mit tiefschwarzen Augen; sein Gesichtsausdruck lässt ihn nachdenklich und traurig erscheinen, die Wangen sind eingefallen, sein Teint gelblich, die Nase gleicht einem Adlerschnabel. Immer wenn ich ihn sehe, muss ich an die Zeit denken, in der ich mich mit französischer Geschichte befasste. Dort war stets von der Familie des Fürsten de Condé die Rede. Die Nasen ihrer Mitglieder sollen Adlerschnäbeln geglichen haben. Mein Lehrer war sehr sanftmütig und ruhig, und Untergebenen gegenüber zeigte er sich respektvoll, ja fast unterwürfig. Gegenüber seinen Altersgenossen, mit denen er sich in die Gnosis vertiefte, war er gutmütig und verständig. So also war es um die äußeren wie inneren Qualitäten meines Lehrers bestellt.

    Hier will nun ich mit der Schilderung des Verlaufs und der Geschichte meines Lebens beginnen, wofür ich diesem jungen Mann auf ewig in Dankbarkeit verbunden bin. Zu diesem Zweck lasse ich meine Vergangenheit Revue passieren und rufe mir die qualvollen wie auch die glücklichen Abschnitte meines Lebens ins Gedächtnis zurück.

    Beginn der Geschichte der Tâdsch os-Saltane

    Ich wurde Ende des Jahres 1301³ im Haus des Großherrschers geboren. Mein Vater und meine Mutter stammten aus derselben Familie, sie waren Cousin und Cousine. Als ich geboren wurde, war meine Mutter noch sehr jung. Sie hatte ein hübsches Gesicht und verfügte über löbliche Charakterzüge. Dazu gehörte ihre tiefe Religiosität. Sie war äußerst gläubig und verbrachte jede Stunde ihres Lebens damit, an Gott zu denken, die heiligen Verse zu beten und über den heiligen Büchern zu meditieren.

    Doch das allein reicht nicht aus. Sie hätte nicht nur eine gute Prinzessin sein sollen, sondern auch eine gute Mutter. Aber die Eigenschaften, über die wir als Mütter unbedingt verfügen sollten, besaß sie nicht. Nun will ich hier beileibe nicht – Gott bewahre –, meiner frommen und verehrten Mutter unberechtigte Vorwürfe machen! Nein, sie trifft überhaupt keine Schuld. Vielmehr sollte ich an dieser Stelle die königlichen Gepflogenheiten und Sitten tadeln, die allen Frauen den Weg zum Glück verstellten und diese armen Wesen in völliger Unwissenheit und Ahnungslosigkeit hielten. Die ganze moralische Unzulänglichkeit und alle Auswüchse sind allein darauf zurückzuführen und allein dadurch immer weiter verbreitet worden, dass es den Frauen in diesem Königreich an Wissen und Bildung fehlt.

    Bei genauer und vernünftiger Betrachtung erkennen wir nämlich, dass wir all die neuen Errungenschaften, die großartigen lobenswerten Entdeckungen sowie unsere Kenntnisse über Handel, Politik und Krieg den Müttern zu verdanken haben. Denn alle Persönlichkeiten, die Großes in der Geschichte bewirkt haben, waren die Kinder von gebildeten Müttern, die sie beschirmten und schützten und ihnen ihre Aufmerksamkeit widmeten; von solchen Müttern und von fortschrittlichen, kenntnisreichen Vätern wurden sie erzogen – daher sind sie in den Künsten und den Errungenschaften zu Vorreitern und zu wahren Dienern der Zivilisation geworden. Auch die wahren Krieger, die echten Freiheitskämpfer und die aufrichtigen Freiheitsliebenden wurden von Müttern geboren und wuchsen unter der Erziehung von Müttern heran. Als Beispiel mag das barbarische und wilde Volk der Spartaner dienen, das in reichem Maße gute und kriegerische Söhne herangezogen hat, welche ihm über lange Jahre hinweg die Freiheit bewahrten und Athen, die Hauptstadt Griechenlands, zerstörten und dem Erdboden gleichmachten. Unter anderem ist folgende Geschichte überliefert: Ein junger Mann kam nach Hause zurück und sagte zu seiner Mutter: »Mein Schwert ist zu kurz!« Seine Mutter entgegnete ihm voller Sanftmut: »Mein lieber Junge! So tritt doch im Kampf einen Schritt weiter vor!«

    Ein anderes Beispiel: In den Anfängen der Unabhängigkeit Roms überfielen die Gallier die Römer und entfachten einen großen Krieg. Nach einiger Zeit kam es zum Friedensschluss. Zur Festigung dieses Friedens verlangten die Gallier von den Römern Geiseln und überstellten, wie es dem Brauch entsprach, ihrerseits einige Geiseln. Überliefert ist nun diese Begebenheit: Eine junge Frau sollte über einige politische Dinge Auskunft geben, deren Enthüllung jedoch, wie sie meinte, großen Schaden für die Römer und den Verlust von deren Freiheit nach sich gezogen hätte. Deshalb biss sie sich die Hälfte ihrer Zunge ab, warf sie dem Herrscher vor die Füße und stürzte sich selbst in den Fluss; nur unter großen Mühen gelang es ihr, zu ihrem Volk zurückzukehren.

    Ja, gut ist die Mutter, die ihrem Kind beibringt, wie es sich richtig verhält! Verfügt die Mutter über Bildung, werden auch ihre Kinder zu ehrbaren Menschen heranwachsen. Aber es sind ebenfalls die Mütter, die uns heute ins Unglück stürzen und mit ihrer Gedankenlosigkeit unsere Unabhängigkeit aufs Spiel setzen, uns unvermittelt in die unterste der Höllen werfen und dort umherirren lassen; sie haben uns von Kindheit an alle Gefühle der Vaterlandsliebe und das ernsthafte Streben nach Erneuerung ausgetrieben. Außer Essen, Schlafen und Verweichlichung haben sie uns nichts gelehrt.

    Unterscheidet sich doch der, der den Freund im Arme hält,

    von dem, dessen Blick in Erwartung seiner auf die Tür nur fällt.

    Es macht einen Unterschied, ob einem Menschen bereits in der Kindheit Werte vermittelt wurden, oder ob er sich, nachdem er in seiner Jugend nur Unsinniges gelernt hat, nur einer selbstgefälligen Nabelschau hingibt und die Nachbarn nachäfft. Obwohl der Mensch über die Gabe der Vernunft verfügt, ist es ihm doch nicht möglich, die Eigenschaften, die er sich während seiner Kindheit angeeignet hat, wieder ganz abzulegen. Auch wenn er noch so sehr mit der Gemeinschaft gleichziehen will, bleibt dieses Bestreben doch nur äußerlich und entspringt nicht seinem Wesenskern.

    Oberschicht und Erziehung

    Folglich sollte die Mutter die Erste sein, die ihren Kindern das Tor zur Glückseligkeit aufstößt. Unglücklicherweise blieb mir dieses Tor verschlossen, und bereits hier nahmen die großen Unglücksfälle meines Lebens ihren Anfang: Eine Amme aus dem Mittelstand wurde für mich bestimmt, außerdem eine Leibdienerin und ein Kindermädchen aus derselben Schicht. Vor allem die Leibdienerin musste von schwarzer Hautfarbe sein. Denn Größe und Ansehen hingen zu jener Zeit davon ab, dass man Leibeigene besaß – die ja ebenso Gottes Geschöpfe waren wie wir und sich nur durch ihre Hautfarbe von uns unterschieden; unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit betrachtet, war am Hof des Schöpfers schwarz und weiß eigentlich nicht vorgesehen. Diese armen Menschen aber machte man zu Gefangenen; damit erniedrigte man sie, und sich selbst machte man groß und respektabel. Man nannte sie »Gekaufte« und erwarb und veräußerte diese unglücklichen Geschöpfe wie wilde Tiere. Da es sich um das Herrscherhaus handelte und meine Mutter in dessen ehrenwertem Harem lebte, und da der Vater meiner Mutter für einige Jahre mit der Herrschaft über Kermân und Balotschistân geehrt und ausgezeichnet worden war, gab es in unserem Haus solche Leibdienerinnen, Sklaven und »Gekaufte« im Überfluss. Zusätzlich wurde noch eine weitere schwarzhäutige Leibdienerin für uns ausgesucht. Sie sollte die Wiege in steter Bewegung halten. Auch das Zimmermädchen, die Ankleidedame und die Wäscherin waren von schwarzer Hautfarbe.

    Da man auf diese unglückselige Gruppe ständig mit Verachtung herabblickte und sie nicht von wilden Tieren und Bestien unterschied, war es diesen armen Menschen unmöglich, dem Tal der Unwissenheit zu entkommen, und sie konnten wahrlich kein X von einem Ypsilon unterscheiden. Noch weniger waren sie dazu imstande, sich an die Regeln und Gebräuche der zivilisierten Welt zu halten. Das also waren die Personen, die mich aufziehen und erziehen sollten! Hinzu kam noch, dass auch der Obereunuch zu dieser Gruppe zählte. Das Problem für den Obereunuchen bestand darin, dass er die Leute anzuhalten hatte, sich vor mir, einem Säugling, zu verbeugen und mir Ehrerbietung zu erweisen. Sollte es vorkommen, dass jemand seinen Pflichten nicht nachkam, musste er ihn mit einem Stock nach Kräften züchtigen. Das waren sie also, die Menschen, unter deren Schutz und Pflege ich armes Kind aufwachsen sollte. Und so wuchs ich also unter der Aufsicht dieser besonderen Erzieher wunschgemäß zu einem wohlgeratenen Kind heran.

    Angesichts der Weitläufigkeit der Örtlichkeiten und weil es die königliche Etikette verlangte, lagen die Räumlichkeiten, in denen ich und meine Untergebenen lebten, entfernt und getrennt von den Gemächern meiner Mutter. Zwei Mal täglich führte man mich mit meinem Einverständnis zu meiner verehrten Mutter und brachte mich nach einer Stunde wieder zurück. Dies wurde so beibehalten, bis ich etwas größer geworden war und mich selbst auf den Weg machen konnte. Ich habe keine Erinnerung mehr an die Zeit meiner frühesten Kindheit. Aber da ich ein aufgewecktes und gewitztes Kind war, erinnere ich mich noch gut an alles, was sich ab meinem fünften Lebensjahr zutrug. Als ich verständiger geworden war, hatte ich insbesondere meine Amme, mein Kindermädchen und meine Leibdienerin über alle Maßen lieb. Vor allem meine Leibdienerin liebte ich sehr.

    Die Leibdienerin

    An dieser Stelle sollte ich etwas über ihr Äußeres und ihr Wesen schreiben, damit die Leser mit dieser Frau ein wenig vertraut werden. Denn sie bemühte sich sehr, mich zu erziehen und mir gute Umgangsformen beizubringen.

    Sie war eine Frau mittlerer Größe, so um die 45 Jahre alt, mit einem Gesicht von tiefschwarzer Hautfarbe und ausdrucksstarken Augen. Sie redete nur sehr wenig, und wenn sie in seltenen Augenblicken einmal etwas äußerte, tat sie dies in strengem und unnachgiebigem Ton. Diese Leibdienerin hatte auch schon meine Mutter großgezogen und war als »Damenersatzmutter« an mich weitervererbt worden. Sie besaß weitgehende Befugnisse und gebot herrisch über alles, was mit Essen und Trinken, der Zubereitung der Speisen sowie der Vorratshaltung und all den damit verbundenen Verantwortungsbereichen zu tun hatte. Zu mir war sie sehr liebevoll, den anderen gegenüber aber verhielt sie sich hochfahrend und förmlich. Ich hatte mich trotz ihres schrecklich anmutenden Gesichts und ihres furchteinflößenden Äußeren so sehr an sie gewöhnt, dass ich bis in den Abend hinein in Tränen aufgelöst war, wenn sie einmal einen Tag lang nicht bei mir war. Nichts konnte mich dann trösten. Nicht einen Augenblick wollte ich ihre Umarmung missen, und war ich von ihr getrennt, gab es für mich keinen Trost. Aufgrund dieser Erfahrung betrachte ich bis heute jedes weiße Gesicht mit Verwunderung, ja Abscheu, und hege in Erinnerung an meine geliebte Leibdienerin noch immer eine Vorliebe für Menschen mit dunkelhäutigen Gesichtern.

    Angesichts der Liebe und Zuneigung, die mich mit meiner Leibdienerin verbanden, vergaß ich meine liebe, verehrenswerte leibliche Mutter völlig. Immer wenn sie mich in ihre Arme nehmen und küssen wollte, brach ich in Geschrei und Tränen aus, rannte sofort zu meiner geliebten Leibdienerin und warf mich ihr in die Arme. Stets durchforschte ich ihre Taschen und unterzog ihre schwarzen, sehnigen Hände einer gründlichen Inspektion. Meistens hielt sie auch eine Kleinigkeit für mich bereit, etwas Süßes zum Naschen, was ich über die Maßen liebte. Ich wollte so reden wie sie und äffte all ihre Gewohnheiten und Bewegungen nach. Nach all den Jahren, die ich nun schon lebe, bin ich meinem Gefühl treu geblieben und freue mich noch immer sehr, wenn ich jemandem aus der Familie meiner Leibdienerin begegne. Dann rede ich mit ihm in ihrem Tonfall, in klaren und einfachen Worten. Die tiefe Zuneigung zu meiner lieben Leibdienerin hat eine dauerhafte tiefe, geistige Verbundenheit zwischen mir und ihrer Familie geschaffen.


    Mein Lehrer! Wundern Sie sich nicht darüber, dass ich Ihnen über all die Gewohnheiten und Bräuche aus meiner Kindheit berichte. Habe ich Ihnen doch versprochen, dass ich umfassend Auskunft geben will über mein Leben. Daher überspringe ich nicht eine Sekunde davon und verpflichte mich, alles niederzuschreiben. Aber hätte ich doch bloß all die Gefühle der Zuneigung, die ich für meine Leibdienerin hegte und hier beschreibe, auch für meine verehrte, fromme Mutter empfinden können! Könnte ich doch bloß in dieser Weise auch über meine Mutter sprechen, und nicht nur über eine unwürdige Schwarze! Leider aber haben irrige Fantastereien und falsche Vorstellungen sowie Größenwahn, eingebildete Würden und Pedanterie mir die Zeit meiner Kindheit vergällt und dafür gesorgt, dass ich aus den Armen meiner verehrungswürdigen Mutter vertrieben und von ihr ferngehalten wurde. Ich kann Ihnen jedoch nichts anderes schreiben als das, was sich tatsächlich zugetragen hat.

    Mutterpflichten

    Etwas, das mich unausgesetzt beschäftigt und bekümmert, ist das Problem des Stillens. Warum sollte nicht die eigene Mutter ihre Kinder stillen und diese in der Geborgenheit ihrer mütterlichen Empfindungen und ihrer Zuneigung bei sich aufwachsen lassen? Warum muss sie die eigenen Kinder überhaupt weggeben und einer anderen Frau anvertrauen? Wo es doch nur dazu führt, dass die Kinder die eigene Mutter zurückweisen und verabscheuen, wenn man sie einer Amme überlässt. Umgekehrt bedeutet es, dass die Mutter aus ihrer Sicht die Kinder als nicht sonderlich wichtig und beachtenswert ansieht und somit die einfache Liebe und Verbundenheit gegen eine falsche Förmlichkeit eintauscht. Eben deshalb sah ich Arme mich zu Beginn meiner Kindheit von der warmherzigen Liebe meiner Mutter ausgeschlossen und nahm unser Verhältnis lediglich als eine bloße Förmlichkeit wahr.

    Eben dies ist ein bedeutsamer Punkt für das Erlernen guter Umgangsformen und die Zukunft der Kinder. Um ein Beispiel zu geben: Ich selbst habe vier Kinder, und heute, da sie alle erwachsen sind und auf eigenen Füßen stehen, hat jedes von ihnen einen ganz eigenen Charakter, obgleich ich mich doch intensiv um ihre Ausbildung gekümmert und mich für sie eingesetzt habe. Wenn ich sie aber sorgfältig beobachte und genau betrachte, zeigt sich deutlich, dass sie die Charakterzüge ihrer Ammen angenommen haben und in ihrem Wesen überhaupt keine Ähnlichkeit mit mir aufweisen. Ich sehe, dass ihre Ammen noch heute in ihnen präsent sind. Hätte ich sie jedoch selber gestillt und großgezogen, und wäre meine Verbundenheit und Liebe zu ihnen wahre Mutterliebe gewesen, dann hätte ich sie in ihrer Kindheit niemals zurückgewiesen und auch nie von ihrem Vater getrennt. Und wenn es mich tausend Leiden und Mühen gekostet hätte und ich mein ganzes Lebens lang Schikanen und Belästigungen dafür zu erdulden gehabt hätte!

    Wenn wir es uns ganz genau betrachten, dann ist es die erste Pflicht einer jeden Mutter, ihre Kinder nicht zu verzärteln und sie auch nicht von sich fernzuhalten und abzuschieben, damit dies nicht der Grund dafür wird, dass die Familie und das ganze Leben ihrer Kinder zerstört werden. Sie darf äußerlicher Pracht nicht den Vorzug vor den natürlichen und wirklich wichtigen Dingen geben und sich selbst und ihre Kinder damit ins Unglück stürzen. »Aus dem Krug fließt nur das, was zuvor in ihn hineingefüllt worden ist.« Die vornehmste Pflicht einer jeden Mutter ist es, den Kindern gute Umgangsformen beizubringen. All die großen Triumphe der Welt haben wir ihnen zu verdanken. Ich will ein Beispiel anführen: Einer der berühmten französischen Gelehrten im ausgehenden 19. Jahrhundert war Monsieur Jules Simon⁴; seine Theorien behandeln die Gesellschaftsphilosophie der Menschen, und seine Schriften gelten den Großen und Gelehrten als beispielhaft. Während die feurigen Worte der Redner im französischen Parlament die Ohren der Zuhörer ermüdeten und die Federn der fähigen Schriftsteller in den Zeitungen wie Speere aufeinandertrafen, die Steine hätten spalten können, und das französische Volk wie ein Kranker daniederlag, der an der Wahl der richtigen Medizin und der korrekten Art der Heilung verzweifelt, verfolgte Jules Simon diese Auseinandersetzungen mit Erstaunen und verfasste ein Buch über die wahre Reform.

    Wozu waren all die Aufregung und der Aufruhr gut? Sie halfen, den Weg zu einer wahren Reform zu finden! Manch einer hing der Überzeugung an, man solle die Gesetze des Königreiches einer Reinigung unterziehen; andere wiederum erachteten es als notwendig, Religion und Staat voneinander zu trennen; einige sprachen sich dafür aus, die Landwirtschaft anzukurbeln; wieder andere richteten ihre Aufmerksamkeit auf eine Erhöhung des Budgets für den Bildungssektor und dessen interne Reform. Eine Gruppe erfahrener Personen, deren Vordenker der berühmte Monsieur Jules Ferry war, stellten Vermutungen über die Bevölkerungsdichte an, befassten sich mit Fragen der Zeit und sahen die Lösung darin, die französischen Kolonialbestrebungen auszuweiten.

    Während all diese Gedanken aufeinanderprallten, was sagte da Jules Simon und was schrieb er? Im Folgenden will ich mit eigenen Worten eine Passage aus einem seiner hervorragenden Bücher wiedergeben⁵:

    Wer Reformen anstrebt und sein Land liebt und daher fehlerhaftes Handeln verhindern sowie seine Gemeinschaft zum Grade der Vollendung führen will, muss die heiligen Wörter Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit kennen. Trotz all der wünschenswerten Wirkungen, die mit diesen einhergehen, wird Nutzen sich nur einstellen und ein Ergebnis sich nur zeigen, wenn das Fundament solide ist. Nehmen wir einmal Folgendes an: Wir haben für eines der Völker auf der Welt einen Gesetzeskorpus erlassen, der alle Voraussetzungen für die Freiheit einschließt; den Sinn für Freiheit haben wir über alle Lebenszusammenhänge gestellt; wir haben die Machtbefugnis der Herrschenden durch Stellvertreter sowie ausländische Konkurrenten eingeschränkt. Was ist das Ergebnis all dieser Schritte? Glückseligkeit, Wohlstand. Gesetzt allerdings den Fall, die Einzelpersonen dieses Volkes erkennen die Erfordernisse der Zeit; säumen nicht, die zum Vorantreiben des Fortschritts notwendigen Voraussetzungen zu schaffen; beschreiten den Weg der Uneigennützigkeit und schreiten unter der Anleitung von Wissenschaft und Tatkraft voran, bis sie ihr Ziel erreichen. Nur wenn wir über einen edlen Charakter verfügen, werden wir aus dem Vorhandensein von Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit Nutzen ziehen. Die historischen Erfahrungen und die Abhandlungen der Philosophen und Weisen, die den rechten Weg aufzeigen, sowie die Grundlage einer jeden religiösen wie weltlichen Gesetzgebung lehren uns, dass die Größe der moralischen Werte die Seele des Menschengeschlechts ausmacht, die geistige Antriebskraft der Menschen auf der Welt darstellt und die feste Säule des Begriffes Reform ist.

    Die Wurzel der edlen moralischen Werte, welche frischen Trieben gleichen, gedeihen an zwei Orten: Wo aber liegen diese beiden Punkte, von denen das Wachstum der Menschheit ausgeht? In der Familie, in der Schule. Ja! Die Wurzel der guten Eigenschaften und trefflichen Fähigkeiten, wie Aufrichtigkeit und Redlichkeit, Mut, Vaterlandsliebe sowie der Drang zu Streben und Tatkraft entwachsen diesen beiden Orten, und unter der Aufsicht des freundlichen Gärtners des Hauses und des aufmerksamen Schullehrers werden die Mängel behoben. Wer ist der freundliche Gärtner des Hauses? Die Mutter. Was ist die vordringliche Aufgabe der Mutter gegenüber ihren Kindern? Erziehung. Wissen, Kenntnis, literarische wie gesellschaftliche Reform gehen der politischen Reform voraus. Wer gegen diese Grundsätze verstößt, gleicht demjenigen, der das Fundament seines Hauses nicht befestigt und stattdessen lieber Dach und Eingangsportal mit Malereien verziert. Ebenso ist allgemein bekannt, dass die Erziehung in der Familie vor der Erziehung in der Schule einsetzt. In Wahrheit ist Erstere die Basis, auf der die Zweite fortschreiten kann. Es ist dies eine der Gaben und Privilegien, die Gott den Frauen verliehen hat.

    Also hängen die gesellschaftlichen Reformen eines Volkes, der Ursprung der Glückseligkeit einer Nation, der Quell, aus dem eine Gruppe die süßen und heilsamen Wasser des Lebens schöpft, und die Hoffnung, den Anschluss an die Karawane der heutigen Zivilisation zu finden, von der Reform der Lebensumstände der Frauen und von ihrer Erziehung ab, auf dass sie wiederum ihre Kinder recht erziehen. Abgesehen davon, dass ihre Kinder glücklich werden, ist dies gleichzeitig ein großer Dienst an der Welt der Zivilisation.

    Mein Lehrer! Ich will Sie wirklich nicht damit ermüden und langweilen, wenn ich bisweilen von meinem eigentlichen Thema abschweife und auf historische Dinge eingehe. Ich erwähne diese historischen Tatsachen nicht absichtlich, aber eines bekümmert mich sehr und stimmt mich traurig: Warum wissen meine Geschlechtsgenossinnen, die iranischen Frauen, nicht über ihre Rechte Bescheid und warum packen sie die menschlichen Probleme nicht an? Warum verkriechen sie sich völlig hilf- und nutzlos in eine Ecke ihres Hauses und beschäftigen sich ihr Leben lang nur damit, sich nachteilige Verhaltensweisen anzueignen? Warum suchen sie nicht den Zugang zum Kreis der Zivilisation und irren lieber im Tal des Analphabetismus und des Nichtwissens umher? Es ist doch beispielsweise so, dass noch heute, da den Frauen der Weg des Fortschritts in einem gewissen Maß offen steht, und man seine Töchter in die Schulen schicken und ihnen die Zukunft mit dem Licht des Wissens und der Vervollkommnung erhellen kann, die Mehrzahl der Familien sagt: »Wir halten es für falsch, dass unsere Tochter zur Schule geht.« Genau wie früher stoßen sie diese armen Wesen damit wieder hinab in die Hölle des Untergangs und des Unglücks der traditionellen Erziehung. Sie handeln falsch: Sie müssen ihren Kindern Mutter sein, und ihre Kinder müssen unter ihrem mütterlichen Schutz erzogen werden.

    Mein lieber Lehrer! Es sind diese Familien, die in der Mehrzahl – vielleicht sogar alle – Wissen als Ehrlosigkeit und Nichtwissen als Auszeichnung betrachten. Verlieren Sie jetzt nicht die Geduld! Von hier ab beginne ich erneut, über mein persönliches Schicksal zu erzählen.


    Zunächst muss ich Ihnen erzählen, wie ich in jungen Jahren aussah und wie ich mich verhielt. Ich war ein aufgewecktes und gewitztes Kind, und Gott hatte, was meine äußere Erscheinung angeht, alle Flügel der Glückseligkeit über mir ausgebreitet. Ich hatte dunkelbraunes, natürlich gelocktes langes Haar und einen gesunden Teint. Meine Augen waren tiefschwarz, die Wimpern lang, die Nase war wohlgeformt, Lippen und Mund waren klein, mit weißen Zähnen, die meinen zinnoberroten Lippen einen eigentümlichen Glanz verliehen. Im königlichen Palast, wo ausgewählte, sehr schöne Frauen versammelt waren, gab es kein schöneres und lieblicheres Gesicht als das meine. Ich war wirklich ein hübsches, anbetungswürdiges Kind. Auch beim Spielen war ich umgänglich, und ich fesselte die Zuhörer mit dem, was ich sagte. Ich war bei den Stiefmüttern und allen Bewohnern des königlichen Palastes so gern gesehen, dass mir ihre Zuneigung fast unangenehm und lästig wurde. Denn sobald ich zum Spielen aus dem Haus ging und nichts anderes wünschte, als nach eigenem Willen herumzutollen und meinen Spaß zu haben, lief ich alle Augenblicke einer der Damen in die Arme, die gerade vorbeigingen. Sie küssten und herzten mich dann und hielten mich somit für einige Minuten vom Spielen ab. Um diesem Problem zu entgehen, ergriff ich schließlich einfach die Flucht, rannte, so schnell ich nur konnte, davon und warf mich meiner lieben Leibdienerin in die Arme. Erwischte mich aber zufällig eine von ihnen dennoch und küsste mich schließlich doch noch ab, wischte ich mir wutentbrannt ihren Kuss ab und warf ihr einen vernichtenden Blick aus meinen tiefschwarzen Augen zu.

    Ich hatte fünf, sechs kluge und liebe Mädchen als Spielgefährtinnen, allerdings entstammten sie der Mittelschicht. All diese Mädchen waren zwar älter als ich, doch natürlich von geringerem Stand. Wenn wir spielten, Kleider nähten und Sachen herbeiholten, machten sie oft Fehler, was mich immer sehr erboste. Dann verprügelte ich sie mit meinen kleinen, weißen Händen, aber nachher spielte ich gleich wieder mit ihnen.


    An dieser Stelle will ich Ihnen nun die äußere Erscheinung und die Charakterzüge meiner Spielgefährtinnen schildern, danach werde ich mein Spielzimmer und die Dinge beschreiben, mit denen ich mich in meiner Kindheit beschäftigte. Diese Mädchen waren völlig ungebildet und ohne jegliche Manieren, sie redeten in einfacher Basarsprache. Was ihr Äußeres anging, so waren eine oder zwei von ihnen recht ansehnlich. Die eine hatte sehr helle Haut, goldblondes Haar und himmelblaue Augen; sie wirkte stets nachdenklich und bedrückt, war überaus geduldig und freundlich, sehr pfiffig und neugierig. Meistens war dieses Mädchen bekümmert und sang und trällerte leise vor sich hin. Ein anderes der Mädchen war braunhäutig und hatte schwarzes, volles Haar, ihre Augen waren stechend und funkelten ein wenig; sie redete viel und war gewandt, konnte gut tanzen und machte gerne eigenwillige Späße. Immer wieder dachte sie sich lustige Wörter aus oder stellte Unsinn an. Oft brach sie

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