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Der Ruf der Heimat
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eBook372 Seiten5 Stunden

Der Ruf der Heimat

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Über dieses E-Book

Der alte Friedrich Vandekamp führt in einer traditionsreichen Hansestadt sein angesehenes Handelskontor. Er ist als Geschäftsmann umsichtig und erfolgreich, aber auch unbarmherzig hart, wenn es um die Durchsetzung der Interessen seines Hauses geht. Sein Sohn Timm will ausgerechnet die Tochter eines Handelspartners heiraten, den Vandekamp wegen eines Auftrags, den er ihm entzieht, in den Ruin treibt. Auch gegen viele andere Misslichkeiten, teils geschäftlicher, teils familiärer Art, muss Vandekamp ankämpfen. Eines Tages eröffnet ihm sein Arzt, dass er wegen eines unheilbaren Herzleidens nur noch ein Jahr zu leben hat. Jetzt trifft der alte Kaufmann Anordnungen, die nicht jedem in der Familie gefallen ...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum15. Jan. 2016
ISBN9788711487679
Der Ruf der Heimat

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    Buchvorschau

    Der Ruf der Heimat - Artur Brausewetter

    eigen!

    Erstes Buch

    Friedrich Vandekamp befindet sich auf seinem Morgenweg in sein Kontor. Es liegt auf der Speicherinsel, mitten im geschäftlichen Treiben der alten Hansestadt, die jetzt „Freie Stadt" genannt wird. Sein Landhaus aber hat er sich draussen aufgebaut. In grün umkränzte Hügel hat er es gebettet mit weitem freien Blick auf den sanft aufsteigenden Wald und den blauenden Himmel über ihm. Kein Ton der aufgeregten Geschäftigkeit dringt in seine abgeschlossene Stille. Nur das Surren der elektrischen Bahn hört man aus verschleierter Ferne. Sonst nichts als Vogelgezwitscher und Bäumerauschen, und an Tagen, an denen die Luft besonders tragfähig ist, ein dumpf verhaltenes Murren und Grollen, als käme es vom Meere herüber. Aber vielleicht bildet er sich das nur ein. Denn seine Frau, die oben krank auf ihrem Zimmer liegt und für alles, was um sie her klingt und tönt, ein sehr feines Gehör besitzt, hat für seine Wahrnehmung nur ihr überlegenes Lächeln und meint, das Meer läge viel zu weit von ihrem waldumgebenen Hause, als dass man sein Rauschen bis hierher vernehmen könnte. Mag sein, dass er es sich einbildet. Schliesslich ist es ihm gleich. Er hat an soviel anderes zu denken, für soviel anderes zu sorgen, das wichtiger und gewinnbringender ist.

    Er macht den Weg immer zu Fuss. Gewiss, er hat seinen Wagen. Aber er benutzt ihn nie. Sein Sohn Timm beansprucht ihn für seinen Sport, seine Jagden und galanten Ausflüge genügend, und er bedarf bei seiner angestrengten Tätigkeit der Bewegung und der frischen Luft.

    Der Weg ist weit, aber sehr schön. Besonders in der Morgenfrühe, wenn alles um ihn her eben aufgestanden und noch jung und unverbraucht ist. In den Vorgärten, die sorgsam, manchmal bis zu gezierter Überkultur, gepflegt sind, erfreut ihn die bunte Üppigkeit der scheinbar wahllos und doch in wohlüberlegtem Gleichmass gepflanzten Bäume. Am Wegesrand sind die schattenden Kastanien beschäftigt, ihre ersten Kerzen anzuzünden, einige sind bereits weiter in der Arbeit, andere scheinen sich Zeit zu lassen. Gerade so ist es mit dem Flieder; der weisse ist in voller Blüte, der rotblaue hüllt sich noch in keusch verschlossene Knospen. Aber leiser, weicher Duft schwebt schon herüber, erquickt den Sinn und lenkt Vandekamp, für Augenblicke wenigstens, von den Gedanken und Sorgen ab, die nun einmal mit ihm gehen, wohin er den Fuss auch wendet. Dafür ist er der Inhaber einer der grössten Firmen der Stadt, und dafür hat er zu Hause die kranke Frau.

    Nun ist er in die herrliche alte Allee eingebogen, die, zweireihig zu beiden Seiten der breiten, asphaltierten Strasse, den schmucken Vorort mit der Stadt verbindet.

    Die Linden, die Spätlinge des Frühlings, haben weichschimmernde grüne Schleier angetan, die sich hier und da schon verdichten, so dass die Morgensonne einige Mühe hat, mit ihren des Kampfes noch wenig geübten Strahlen durch ihr im leichten Winde spielendes Gewirr hindurchzudringen.

    Friedrich Vandekamp hat die Allee verlassen und wandert, den Schritt ein wenig beeilend, über die Nordpromenade, durch den winzigen Irrgarten, dessen Benennung einer übermütigen Ironie entsprungen scheint, der Stadt zu.

    Der Frühling ist diesmal später und kälter als sonst wohl auf den Plan getreten. Er hat hier oben im herbgetönten Osten ja immer ein etwas sprödes Gesicht. Diesmal jedoch ganz besonders. Gerade so aber liebt ihn Friedrich Vandekamp. Denn in seiner durchsichtigen Klarheit und härtlichen Würze wirkt er um so wohltätiger auf angespannte Nerven und ein überarbeitetes Gehirn. Dankbar geniesst er ihn mit jedem Schritt, den er vorwärts kommt, zugleich mit einer leichten Wehmut, zu der er neigt. Denn er weiss, wie bald und unversehens, wenn man Tag für Tag dieselbe Strasse wandert, das Bild wechselt, wie dieser lachende Frühling dem schwülen Sommer, in dem ihm der lange Weg nicht mehr ganz leicht fällt, und dem Spätherbst, unter dessen fröstelnder Feuchtigkeit er leidet, den Platz räumen wird.

    Wie pfeilschnell doch solche Jahre dahinfliessen, wenn jedes von ihnen genau dasselbe bringt: die streng geregelte Arbeit im Kontor, das anstrengende Disponieren, den niemals Ruhe lassenden Gelderwerb.

    Aber diese wunderbaren Denkmäler altdeutscher Kunst, die er auch heute wieder mit stiller Ehrfurcht betrachtet, sie bleiben sich in ihrer Schönheit immer gleich, ob er sie im flimmernden Spiel der jungen Frühlingskinder, im satten Glühen der sommerreifen Sonne oder in den grotesk gezackten Gebilden des winterlichen Schnees erblickt.

    Seltsam, dass das Geschaffene beständiger und dauerhafter sein kann als die Natur, ja, als das Leben selber, in dem der Wechsel das einzig Bestehende ist: dies goldgezierte Hohe Tor und gegenüber der altgotische Stockturm, über die Jahrhunderte hindurch Frühling und Herbst, Sommer und Winter dahingegangen sind und die so fest und trutzig dastehen, als gäbe es für sie weder einen Wechsel der Jahreszeiten noch der Schicksale.

    Die Langgasse mit ihren alten Patrizierhäusern schreitet er hinunter, wird überall gegrüsst, hier und da auch angesprochen, obwohl er ungern stehen bleibt und Antworten gibt, deren Einsilbigkeit nicht zum Weiterreden ermuntert.

    Pfeilschlank wie eine Nadel glüht der goldverbrämte Rathausturm zu ihm hinüber. Wie ein stiller Fingerzeig in Fernen, die man nur mit der Seele suchen und ersehnen kann. Feingemeisselte Spitzbogen lassen ihr wunderzartes Gewebe in der Sonne funkeln. Um den Neptunsbrunnen schwirren Tauben, flattern mit den silberglänzenden Schwingen hoch empor zum alten Artushof ...

    Und nun? Was wächst ihm da entgegen? Reckt sich vor ihm empor aus dem steinernen Wald von Zinnen und Mauern, dem Geäst spitzgeschärfter Vasallentürmchen, aus dem weich und warm ihn umschmiegenden Häusergewirr? Etwas Massiges, Wuchtiges, Unaussprechliches, ein Recke, stark und gewaltig, einsam in seiner unnahbaren Majestät. Lässt den Blick auf ihn hinuntergleiten, den armen kleinen Wanderer dort, der mit seinen Geldgedanken und Geschäftssorgen seine Strasse zieht, so stolz und geringschätzig zugleich, dass Friedrich Vandekamp, der eben eine sehr gewichtige, heute abzuschliessende Berechnung durchkalkuliert hat, über sich selber den Kopf schütteln muss.

    Der Turm von St. Marien ist es, das Wahrzeichen und der getreue Eckart der alten Hansestadt, der sturmverwitterte Zeuge ihrer Geschichte und Geschicke, ihrer Leiden, Kämpfe und Siege.

    Friedrich Vandekamp ist kein Kunstkenner. Er will auch keiner sein. Er ist Kaufmann. Das ganze Wesen und Werk seines in nüchterner Gleichmässigkeit sich abwickelnden Daseins ist in dies eine Wort eingeschlossen wie in eine Festung. Aber die Liebe zu seiner Heimatstadt, in der er geboren ist, in der er auch sterben will, die trägt er im tiefsten Herzen, und ihre alten Bauten und Kunstdenkmäler sind ihm vertraut von seiner ersten Kindheit an.

    Am Steffenshaus vorbei ist er durch das grüne Tor an die Mottlau gelangt. Und wieder ist ihm, als spürte er den Geruch der See, den der schärfer gewordene Wind von Neufahrwasser herüberträgt. Er liebt diesen Geruch. Eine erfrischende Würze ist in ihm und ein neubelebender Atem. Er muss an den Ausspruch eines süddeutschen Geschäftsfreundes denken: Dass die Leute im härtlichen Norden und Osten sich länger schaffensstark erhielten als die im weicheren Süden oder Westen.

    Auch er?

    Gewiss — — auch er.

    Und doch — — da regt es sich wieder, dies schreckliche Gefühl der Leere, das vom Magen aufsteigt, schmerzend über Brust und Rücken streicht, auch das Herz auf einen bangen Augenblick aussetzen lässt, so dass er stehen bleiben muss ... mitten auf der Strasse.

    Es sind einige Wochen her, dass sich diese Anfälle eingestellt haben, plötzlich und unvermutet, niemals mitten in der Arbeit, aber mehrere Male auf dem Wege zum Kontor, der vielleicht schon zu weit und anstrengend für ihn geworden.

    Er hat mit niemand aus seinem Hause darüber gesprochen. Mit wem sollte er auch? Seine Frau ist mit dem eigenen Leiden vollauf beschäftigt, und er darf sie nicht aufregen. Seine Kinder aber, Timm in seiner strotzenden Gesundheit und Ina in ihrer abgesonderten Art, wären einer Klage von ihm gewiss wenig zugänglich gewesen.

    Schliesslich hat er sich dem alten Meckbach, seinem vielbewährten Hausarzt, offenbart. Der hat ihn nach einer eingehenden Untersuchung für vollkommen gesund erklärt. „Ein bisschen Nerven- und Muskelüberanstrengung, hatte er gesagt. „Das ist alles. In unseren Jahren muss man haushälterisch mit seinem Körper umgehen.

    Und er hatte recht behalten. Es ging vorüber, geht auch jetzt wieder so schnell vorüber, wie es gekommen ist. Und er kann seinen Weg, von Druck und Schmerz befreit, fortsetzen.

    „Aber seltsam ist es doch, denkt er bei sich selber, „komisch beinahe! Da beschäftigt man sich den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit seinen Plänen und Geschäften, kauft die Zeit aus, wünscht der Sekunde Ewigkeitsdauer, nur um sie gewinnreich nutzen zu können. — — — Und eines Tages versagt der Körper seinen Dienst. Man wird schwach .. hinfällig .. krank .. Und dann — —

    Ja — — — und dann?

    Durch die Luft schwimmt heller Glockenton. Das Uhrenspiel im Rathausturm lässt einen frommen Choral ertönen, kündet dann mit ehernen, bedächtig ausholenden Schlägen die neunte Stunde.

    Es ist genau die Zeit, in der er Morgen für Morgen in die Speicherinsel einbiegt. Mit ihr beginnt die Welt, in der er lebt und wirkt. Wie ein weiter Lagerplatz dehnt sie sich mit den übereinandergetürmten Stockwerken, den scharf und spitz hervorspringenden Giebeln. Von den Stürmen der Zeit zerklüftet und zernagt stehen sie Schulter an Schulter, tragen noch ihre Inschriften, ihre meist der Tierwelt entnommenen Namen aus verklungenen Jahrhunderten.

    Hier befindet sich, ein Fremdling in seiner schmalfrontigen, verträumten Umgebung und sich fast grotesk von ihr abhebend, ein nach moderner Sachlichkeit breit und hoch aufgeführtes Gebäude: das Holzexporthaus Vandekamp & Co. Und als Friedrich Vandekamp in seine weitangelegte Flurhalle tritt, lässt er Frühling und architektonische Schönheit hinter sich, denkt und lebt in ihm nichts als das Geschäft.

    Im Kontor ist heute nicht die Ruhe, deren Vorbild er gibt und die er auch von den anderen verlangt. Alles ist in einer Erregung, deren Schwingungen sich von Pult zu Pult fortpflanzen. Man hat auf den Chef gewartet, gibt, scheinbar in eifriger Versenkung über seine Befrachtungstabellen und Konossemente gebeugt, gespannte Obacht, was er sagen, was er tun wird.

    „Er weiss noch nichts", flüstert Max Laudien, der Einkäufer, zu Herrn Siebenfreund hinüber, der der Abteilung für Polen und Pommerellen vorsteht.

    „Er weiss alles, gibt der zurück, „er sagt nur nichts.

    Indessen ist Friedrich Vandekamp in sein Privatkontor getreten. Es ist ein von allen anderen Räumen streng abgeschlossenes Zimmer, nicht umfangreich und mit nüchterner Einfachheit ausgestattet. In der Mitte, die grössere Hälfte des Zimmers einnehmend, befinden sich zwei gegenübergestellte Schreibtische. Auf dem des Chefs liegt ein Stoss der für ihn streng ausgesonderten Post. Der andere ist mit Geschäftsbüchern, Tabellen und Konnossementen belegt.

    Von dem Augenblicke an, in dem Friedrich Vandekamp diesen Raum betritt, ist er für alle anderen gesperrt. Dafür sorgt schon Söna Sentland, die niemanden zum Chef lässt. Nur unaufschiebbare Dinge und solche von höchster Wichtigkeit werden ihm persönlich vorgetragen. Für alles andere ist Berthold Kernreif da, der schmächtige, von oben bis unten zugeknöpfte Prokurist, der im Verkehr mit den Kunden und Maklern die Unnahbarkeit und die schweigende Strenge der Zurückhaltung von seinem Chef gelernt hat, ihn überhaupt, wo es angebracht oder nur möglich ist, gern kopiert.

    Und schon hat Friedrich Vandekamp den ersten Verdruss des Tages, gegen den er allmählich abgestumpft sein sollte, es aber immer noch nicht ist: der Stuhl ihm gegenüber ist leer.

    „Er kann sich nicht an die Pünktlichkeit gewöhnen, flüstert er mehr traurig als ärgerlich vor sich hin. „Vermutlich hat er wieder die halbe Nacht im Klub gesessen oder seine kleine Freundin nach dem Kino zu Lauterbach geladen ...

    Er nimmt seine Post zur Hand. Einige der zahlreich eingegangenen und meist ausführlichen Schreiben mustert er oberflächlich, um sie bald zur Seite zu legen, andere fliegt er durch, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Dann drückt er den roten Knopf auf dem umfangreichen Fernsprechapparat zu seiner Linken, nimmt den Hörer, ruft ein kurzes Wort hinein, und Theobald Kernreif, der im Dienste des Hauses ergraute Prokurist, erscheint.

    Friedrich Vandekamp gibt ihm an der Hand der verschiedenen Schreiben und der zu ihnen gemachten Bemerkungen seine Weisungen, knapp, klar, ein jedes Wort wägend, damit er nicht eins zuviel sage. Denn er weiss, mit zu grossen Anforderungen darf er den nur auf sehr gerader Linie laufenden Gedankengang seines Prokuristen nicht beschweren. Schliesslich braucht er kaum einen Prokuristen. Er disponiert und verfügt allein, und Söna Sentland mit ihrem schnellen Erfassen und gewissenhaften Ausführen genügt ihm vollkommen.

    So hat auch diesmal die ganze Unterredung nur wenige Minuten gedauert, und Friedrich Vandekamp gibt den üblichen kurzen Wink, der eigentlich nur ein ganz leichtes Aufheben des Armes von der Schreibtischplatte ist und bedeutet, dass Theobald Kernreif entlassen ist.

    Der aber rührt sich nicht von der Stelle. Wie angewurzelt verharrt er auf seinem Platze, das ernste, in einem unbestimmbaren Blassgrau schimmernde Auge unter den gewölbten Brillengläsern mit einem halb besorgten, halb ängstlichen Blick auf seinen Chef gerichtet.

    „Sie wissen wohl noch nicht, Herr Vandekamp — —"

    Schon hält er inne, macht eine jener schwerwiegenden Pausen, die er als eine seiner stärksten Gesprächshilfen ansieht und die Friedrich Vandekamp unerträglich sind.

    „Dass Brackmann und Collins, denen wir die grosse Lieferung von Eichenrund- und Exporthölzern übertrugen, in Schwierigkeiten geraten sind, dass die Nachrichten aus Spanien wenig günstig lauten, dass die Unruhen dort, die bereits im Abflauen sind, uns weniger Sorge machen dürften als die Mitteilung unseres Korrespondenten aus Madrid, dass die Firma, mit der wir abgeschlossen, auf nicht mehr ganz sicheren Füssen steht — nicht wahr, das wollten Sie sagen?"

    „Ja, wenn Sie so genau unterrichtet sind — —"

    Theobald Kernreif kaut an den Worten. Er will eine gewichtige Einwendung machen, überlegt sie aber hin und her. Denn er darf den Respekt nicht verletzen, den er seinem Chef schuldig ist und den er, solange er seine Stellung bekleidet, stets als sein höchstes Gesetz betrachtet hat.

    „— — Dann verstehe ich nicht, sagt er jetzt, „dass Sie einen so weitgehenden Vertrag mit Brackmann und Collins tätigen konnten.

    „Vertrag? Von einem Vertrag ist nie die Rede gewesen."

    „Wenn er auch nicht formuliert war, so hat ihn Herr Brackmann doch als solchen aufgefasst."

    „Das ist seine Sache."

    „Und hat danach gehandelt."

    „Das ist seine Torheit."

    „Das Material, dessen wir für unsere spanische Lieferung bedurften, überstieg das Gewohnte und ging gewiss über Philipp Brackmanns Kräfte."

    „So hätte er die Lieferung ablehnen müssen."

    „Der Auftrag war ihm zu verlockend. Er hat einen solchen seit langer Zeit nicht erhalten."

    „Man soll nicht Kaufmann werden, wenn man nicht das Zeug dazu hat."

    Die Tür öffnet sich ... behutsam und leise, als bewegte sie ein schlechtes Gewissen. Ein junger Mann mit einem für die frühe Jahreszeit stark gebräunten Gesicht tritt in das Zimmer, wirft einen etwas unsicheren Blick auf den Vater, geht auf ihn zu, streckt ihm die gleichfalls fast dunkel gebräunte Hand entgegen.

    „Es wurde gestern ein bisschen später. Zudem —"

    „Hattest du die fällige Autopanne."

    „Wie du immer alles weisst, bevor man es dir sagt. Auch in Kleinigkeiten. Es ist wirklich erstaunlich."

    Er hat den Prokuristen flüchtig begrüsst und sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Eilig gleiten seine wohlgepflegten Finger durch die Postsachen, die ihm der Vater zugeschoben hat. Aber er ist nicht bei der Sache. Immer wieder schielt sein Blick zu dem Vater hinüber, der einige Tabellen und Konnossemente einer genauen Musterung unterzieht. „Ob er nichts sagen wird? Ob er wartet, bis ich die Sache anschneide?"

    „Ich bringe dir dafür wichtige Nachrichten, rafft er sich schliesslich auf und macht dazu ein ernst besorgtes Gesicht, das ihm selber fremd vorgekommen wäre, wenn er es gesehen hätte. „Freilich, ob sie gerade angenehm sind — —?

    Er merkt, wie der Prokurist, der die erledigten Befrachtungs- und Stapeltabellen wieder an sich genommen und in seine grosse Mappe versenkt hat, ihm einen Wink gibt.

    „Auch das weiss der Vater schon? fragt er ein wenig enttäuscht und zugleich erleichtert. „Ja, was soll denn nun werden?

    Friedrich Vandekamp antwortet nicht. Der Prokurist sieht die Zeit gekommen, sich zu entfernen. Er weiss, dass die beiden Herren jetzt allein sein wollen.

    „Ich wünsche Fräulein Sentland", sagt Friedrich Vandekamp kurz. Dieser Auftrag berührt Theobald Kernreifs empfindlichste Stelle. Denn er hat es längst gemerkt, dass der Chef und auch der junge Herr, den er in die Obliegenheiten und Geheimnisse des Hauses Vandekamp & Co. seinerzeit mit Gewissenhaftigkeit und ernstem Eifer eingeführt, in wichtigen Angelegenheiten mit der kleinen Sentland, die auch noch als Lehrling unter ihm gearbeitet, lieber verhandeln als mit ihm, dem erprobten und verantwortlichen Vertreter des Hauses.

    „Ja, was soll nun werden?" wiederholt Timm seine Frage, als sie beide allein sind.

    Friedrich Vandekamp erledigt eine telephonische Anfrage, beugt sich über die Papiere, die ihm der Prokurist zur Unterfertigung dagelassen.

    „Mit Brackmann und Co. soll es mehr als wackelig stehen. Du gabst ihm die Lieferung ausgerechnet vor Toresschluss. Das wäre an sich ja nicht schlimm. Aber dass du ihm eine Vorausbezahlung bis zur Hälfte des Betrages zubilligtest — — —"

    Er erwartet eine Antwort, sei sie auch eine Zurechtweisung.

    Aber nichts von beiden. Dies verfluchte Schweigen! Diese Harthörigkeit, hinter die sich der Vater jedesmal wie hinter einen undurchbrechbaren Wall verschliesst! Wie oft haben sie ihn, den viel Lebhafteren und Impulsiveren, zur Verzweiflung gebracht!

    „Freilich, dass seine Mittel damals schon erschöpft waren, das konntest du nicht wissen."

    Friedrich Vandekamp legt den Riesenbleistift, mit dem er, wenn er disponiert (und er disponiert eigentlich immer) ein paar Aufzeichnungen zu machen pflegt, auf die Schreibtischplatte.

    „Wer sagt dir, dass ich es nicht wusste? Im übrigen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der Auftrag ist zurückgezogen. Brackmann wird meinen eingeschriebenen Brief heute morgen erhalten haben."

    „Aber die Anzahlung — —?"

    „Konnte ich im letzten Augenblick noch zurückrufen."

    „Ja .. aber warum sagtest du das nicht gleich?"

    „Weil du mich nicht zu Worte kommen liessest. Aber ich habe mich über die warme Anteilnahme gefreut, die du in diesem Falle meinen geschäftlichen Massnahmen entgegenbrachtest. Es war auch Zeit. In dir steckt ein besserer Kaufmann, als ich bis jetzt vermuten durfte."

    Timm lächelt sein halb überlegenes, halb geschmeicheltes Lächeln. Aber, was der Vater ihm da eben eröffnet, erscheint ihm nicht recht fassbar.

    „Und Brackmann — —?" fragt er schliesslich.

    „Wie er sich damit abfindet, ist seine Sache. Im Geschäftsleben ist sich jeder selbst der Nächste. Das geht nun einmal nicht anders. Auch du wirst es lernen."

    Ein junges Mädchen steht in dem Zimmer. Unmerkbar ist es eingetreten. Es weiss, dass es leise kommen und gehen muss, dass das geringste Geräusch den Chef bei der Arbeit stört. Es kennt jede seiner Gepflogenheiten, seine Neigungen und Abneigungen, erfühlt sie mit jener feinsicheren Einpassung des weiblichen Instinktes, dem Gefühl alles, Lernen und Erfahrung nur Zubehilfe sind.

    Kein Wunder! Ist es doch als fünfzehnjähriger Lehrling in das grosse Exporthaus eingetreten, vermöge seiner Begabung und Gewissenhaftigkeit bald höher gerückt, Friedrich Vandekamps persönliche, unentbehrliche Sekretärin geworden. Eine schmal, aber kraftvoll gebaute Erscheinung in schmuckem, blau und weiss kariertem Jumper mit freier Stirn unter dichten dunklen Haaren, Augen, deren überlegene Klugheit ihrer Jugend vorausgeeilt ist und denen ein leichter Hauch von mädchenhafter Schwärmerei etwas Eigenes und Anziehendes gibt, unter keck geschwungenen Lippen ein etwas hartgerundetes, energisches Kinn: Söna Sentland.

    „Ich möchte diktieren, sagt Friedrich Vandekamp. „Sie haben alles zur Hand?

    Söna Sentland setzt sich, nimmt Stenogrammheft und Stift, schreibt mit fliegender und sicherer Hand nach Friedrich Vandekamps Diktat.

    Da dringen von draussen her die Töne eines leidenschaftlich geführten Zwiegesprächs. Die eine Stimme begehrt Einlass zum Chef, die andere wehrt ab, nachdrücklich und energisch. Aber ohne Erfolg.

    Denn schon wird die streng bewahrte Tür mit einem harten Ruck aufgerissen. Ein Mann tritt in das Kontor, an dem alles heiss aufbegehrende Erregung ist: Philipp Brackmann.

    „Ich möchte doch sehen, wer mir hier den Eintritt wehren will, wo es für mich um Sein oder Nichtsein geht."

    „Wenn Sie sich in der meinem Personal zur Pflicht gemachten Form hätten anmelden lassen, erwidert Friedrich Vandekamp, indem er sich von seinem Stuhle erhebt, „wäre Ihnen dieser unliebsame Auftritt, den ich bedaure, erspart geblieben.

    Philipp Brackmann sieht die Hand nicht, die sich ihm entgegenstreckt, er nimmt auch den Stuhl nicht, den ihm Söna Sentland hinschiebt.

    „Ich bin gekommen, mir mein Recht zu holen."

    „Von einem Recht kann wohl kaum die Rede sein."

    „Nun, dann von einem schreienden Unrecht, das Sie mir angetan haben, Herr Vandekamp."

    „Ich bitte, setzen Sie sich. Im Stehen verhandele ich nicht gern."

    Philipp Brackmann lässt den schweren Körper in den Sessel gleiten.

    „Sie sandten mir heute diesen Brief."

    Er nimmt ein Schreiben aus der Brusttasche, dem man es ansieht, wie manches Mal wohl eine zornentbrannte Hand auf seine Seiten geschlagen, wie es zwischen zitternden Fingern gedrückt und zerknittert wurde.

    „Sie kündigen mir eine Lieferung, für die Sie mir eine sichere, wenn nicht gewisse Aussicht gemacht, kündigen Sie mir, nachdem ich alle Vorbereitungen für sie getroffen —"

    „Es hat mir sehr leid getan, Herr Brackmann, Ihnen eine so schwere Enttäuschung bereiten zu müssen. Sie können mir glauben, ich habe harte Stunden durchgemacht, bevor ich mich zu diesem Schritte entschloss. Aber er war eine Notwendigkeit, der ich mich nicht entziehen konnte, wenn ich mich nicht ruinieren wollte."

    Man hört es seinen Worten an, dass sie aus einem traurigen Herzen kommen.

    Aber dazu ist Philipp Brackmann nicht hergekommen, um sich von dem, das weiss er längst und fühlt es in diesem Augenblick aufs neue, weit überlegenen Vandekamp mit ein paar freundlichen Worten abspeisen zu lassen.

    „Ich kann mich mit dieser Erklärung, selbst mit Ihrem Bedauern, nicht abgefunden sehen. Entweder ziehen Sie Ihre Absage zurück und lassen mir die Lieferung —"

    „Ich sagte Ihnen, dass es unmöglich ist."

    „So beanspruche ich eine Entschädigung."

    „Eine Entschädigung? Wofür?"

    „Für die Arbeiten, die ich habe vornehmen lassen, für die grossen Kosten, die mir aus ihnen entstanden sind."

    „Ich wüsste nicht, welche Arbeiten und welche grossen Kosten das gewesen sein könnten."

    „Wenn ich eine so grosse Lieferung von Eichenrundhölzern und Kiefernschwellen übernehmen und zu einem festen Termin durchführen sollte, so musste ich sie entsprechend vorbereiten. Ich habe mir deshalb beim Grafen Patocki auf Brinczyn einen umfangreichen Waldbestand gesichert und eine Anzahlung auf ihn gemacht, habe vor allem ein lohnendes Angebot auf Lieferung von Exportschnitthölzern abschlagen müssen, weil man auf sofortige Entscheidung drang und ich es unmöglich mit Ihrem Auftrag in Einklang bringen konnte —"

    „Bevor Sie dieses Auftrages sicher waren? Bevor Sie einen Vertrag oder irgend etwas Festes in Händen hatten —?"

    „Ich meinte, wenn ein Vandekamp mir eine solche Lieferung in Aussicht stellte, dann wäre sie so gut wie getätigt."

    Ein so fester Glaube an Friedrich Vandekamp und seine unfehlbare Sicherheit spricht aus diesen Worten. Der aber hat kein Ohr für sie.

    „Es tut mir leid, Herr Brackmann, aber ich verstehe Sie nicht mehr, verstehe nicht, wie ein erfahrener. Kaufmann so wenig überlegt und unvorsichtig handeln konnte. Wie durften Sie so weittragende Verpflichtungen eingehen oder ein für Sie günstiges, sicheres Angebot ausschlagen, wo zwischen uns keinerlei Bindungen, überhaupt nichts Festes vereinbart war und es sich lediglich um eine Aussicht handelte, die ich Ihnen eröffnete?"

    Friedrich Vandekamp hat recht gesagt: Er ist an der Grenze seines Verstehens angelangt. Von Jugend an kaufmännisch geschult und eingestellt, nichts im Sinne habend und nichts erstrebend als sein Geschäft, dessen Nutzen und Aufblühen, kann er ein so unkaufmännisches Handeln nicht begreifen, ja, nicht einmal verzeihen.

    „Sie werden einsehen, Herr Brackmann, dass Sie nicht den geringsten Anspruch auf eine Entschädigung an mich stellen können."

    Ein jäher Wechsel vollzieht sich in Philipp Brackmanns Zügen: die Zuversicht, die sie bis dahin erfüllt, ist einer Bestürzung gewichen, die zu verbergen, ihm nicht mehr möglich ist. Er erkennt, dass der Mann, der ihm mit einem Male unberührt und jedem seiner Worte unzugänglich gegenübersitzt, mit seiner nachsichtslosen Klarheit, seiner verstandesnüchternen Schlussfolge im Recht ist, dass er sein Spiel verloren hat.

    Er ist Alt-Danziger Kaufmann, seine Vorfahren gehörten zu den Patriziern, genau so wie die Vandekamps. Er hat noch nie gebeten, in seinem ganzen Leben nicht. Aber jetzt ... in seiner bis zum äussersten gestiegenen Bedrängnis, in der Not, in die er sich und sein Geschäft durch eine, das kann er sich nicht länger verhehlen, übereilte Handlungsweise gestürzt hat.

    „Wenn Sie die Verpflichtung zu einer Entschädigung nicht anerkennen können, ringt es sich von der stockenden Zunge, „so gewähren Sie sie mir aus freien Stücken, und ich werde Ihnen dankbar sein.

    Sieht Friedrich Vandekamp die hilflose Verlegenheit nicht auf den fahlbleichen Zügen des bitter enttäuschten Mannes? Vernimmt er die mühsam erkämpfte Bitte nicht, die die stammelnden Lippen angsterfüllt ihm entgegentragen?

    Nichts von alledem. Philipp Brackmann ist als Kaufmann für ihn gerichtet. Damit ist die Angelegenheit für ihn erledigt.

    „Auch dazu kann ich mich nicht verstehen."

    Eine Pause. Nichts hört man als das dumpfe Anschlagen einer Schreibmaschine im Nebenraum, in dem Söna Sentland die Briefe fertigt, die ihr der Chef vorhin diktiert und die bis zur Mittagspost fertig sein müssen, ab und zu auch das Läuten eines Fernrufers oder einen eilenden Schritt über den Flurgang.

    Philipp Brackmann sitzt nicht mehr auf seinem Platze. Mit unsicherem Schritt tastet er durch das kleine Kontor, bleibt stehen, wischt mit einem grossen blauseidenen Tuch den Schweiss ab, der ihm in hellen Tropfen von der glühenden Stirn rinnt.

    „Also keine Hilfe mehr!"

    Unstet, ziellos irrt sein Blick durch den stillen Raum, bleibt auf Friedrich Vandekamps geschäftlich eingestellten Zügen haften, als hoffte er immer noch etwas von ihm. In dessen Gesicht zuckt es wohl auf, er fühlt sich auch nicht mehr so sicher und geborgen in seinem Rechte. Einmal ist es, als wolle er etwas sagen, vielleicht ein Zugeständnis machen, das, und sei es noch so gering, Rettung bringen könnte. — — — Dann aber erhebt sich eine Macht, tritt zwischen ihn und sein besseres Wollen, eine Macht, der Friedrich Vandekamp gedient hat sein Leben lang, der er verfallen ist mit Leib und Seele, die sein Gott geworden ist, ein strenger und unerbittlicher Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet ... nein, kein Gott, ein Dämon, der ihn am Gängelbande führt, dem er hörig geworden ist und untertan: das Geld.

    „Ich kann nichts für Sie tun, Herr Brackmann", sagt er nicht ohne eine gewisse Überwindung, aber kurz und unweigerlich, als könnte er gar nicht anders, als gäbe diese Macht das Wort ihm ein.

    Nicht von der Stelle rührt sich Philipp Brackmann. Und wiederum nimmt sein Auge die unstete Wanderung auf, irrlichtert hin und her ...

    Plötzlich findet es ein Ziel: die junge Männergestalt, die dem Chef gegenübersitzt, Friedrich Vandekamps Sohn Timm.

    Und nun richtet es sich mit einer Inbrunst auf ihn, klammert sich an seine Gestalt, sein Antlitz, als müsste von ihm die Hilfe kommen, die letzte, die der Vater ihm versagt. Die Jugend ist ja verständnisvoller, ist auch mitleidiger als das hart und unzugänglich gewordene Alter, hat ein weniger beschwertes Herz. Er hat es manches Mal erfahren, warum sollte es ihm hier versagt sein, wo er seiner am nötigsten bedarf, wo es der letzte Halt sein könnte, ihn aus der Tiefe seiner Not zu retten?

    Er hat sich

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