"Als stände Christus neben mir": Gottesdienste in der Literatur. Eine Anthologie
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Über dieses E-Book
Durch die Kirchenfenster blicken u. a. Friedrich Christian Delius, Annette v. Droste-Hülshoff, George Eliot, Theodor Fontane, die Gebrüder Grimm, Peter Handke, Jaroslav Hašek, Ricarda Huch, Kurt Ihlenfeld, Soren Kierkegaard, Michael Krüger, Kurt Marti, Karl Philipp Moritz, Friedrich Nietzsche, Hanns-Josef Ortheil, Leo Tolstoj, Philip Roth und Gabriele Wohmann.
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Buchvorschau
"Als stände Christus neben mir" - Evangelische Verlagsanstalt
»Als stände Christus neben mir«
Gottesdienste in der Literatur Eine Anthologie
Herausgegeben von Axel Dornemann
Axel Dornemann, Dr. phil., Jahrgang 1951. Er studierte Slawistik und Germanistik in Heidelberg und hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, u. a. die erste Bibliographie zu Flucht und Vertreibung in der Literatur, sowie literarische Anthologien, z. B. über erzählte Schulwege.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany · H 7788
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Coverbild: »Kirchgang«, handkolorierter Linolschnitt von Herbert Gurschner (1901–1975), Tirol 1938 © Kunsthandel Widder, Wien Titel: Das Titelzitat »Als stände Christus neben mir« wurde dem auf Seite 69 abgedruckten Prosagedicht »Christus« von Iwan S. Turgenjew entnommen.
Gesamtgestaltung: Thomas Puschmann · fruehbeetgrafik.de, Leipzig Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse GmbH, Leck
ISBN 978-3-374-03961-6
www.eva-leipzig.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Einläutende Worte
Friedrich Nietzsche
Der Gottesdienst der Griechen
Justin
Am Sonntage halten wir alle die Zusammenkunft*
Flamenca
So sind sie alle, die Liebenden*
Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen
Wenn die Kirchen reden könnten*
Abraham a Sancta Clara / Achim von Arnim
Des Antonius von Padua Fischpredigt
Johann Leonhard Rost
Der gesegnete Kirchgang des beständigen Christen
Brüder Grimm
Die himmlische Hochzeit
Annette von Droste-Hülshoff
Der Prediger
Karl Philipp Moritz
Der Sonntag kam heran. Man ging zur Kirche*
Johann Wolfgang von Goethe
Die wandelnde Glocke
Ulrich Bräker
Räisonierendes Baurengespräch über den üßerlichen Gottesdienst*
Iwan S. Turgenjew
Christus
Robert Prutz
Sonntagsfeier
Herman Melville
Die Kanzel leitet die Welt*
Gottfried Keller
Der Kirchenbesuch
Sören Kierkegaard
Die Hausgans
Karl Mayer
Das treue Geleit
Eduard Mörike
Pastoral-Erfahrung
Nikolaj W. Gogol
Betrachtungen über die Heilige Liturgie
Theodor Fontane
In der Kirche
Karl Gerok
Der Kirchgang
George Eliot
Kirchgang
Alphonse Daudet
Die drei stillen Messen
Leo N. Tolstoj
Gotteslästerliche Hexerei der Priester*
Detlev von Liliencron
Dorfkirche im Sommer
Heinrich von Maltzan
Wallfahrt nach Arafa
Oskar Panizza
Die Kirche von Zinsblech
Elisabeth Siewert
Kirchgang
Joachim Ringelnatz
Sonntags
Paul Zech
Kirchgang
Theodore Dreiser
»Seit wann hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«*
Boris L. Pasternak
Lara war nicht fromm*
Jaroslav Hašek
Schwejk zelebriert mit dem Feldkuraten die Feldmesse
Oskar Maria Graf
Die Christmette
Kurt Ihlenfeld
Letzte Tage in Schlesien*
Jenny Aloni
Die Synagoge und der Dom
Walter Kempowski
Ernst machen mit dem Christentum*
Kurt Marti
Keine Ostern wie immer
Michael Krüger
Brief
Hanns-Josef Ortheil
Die Zeremonie hatte einen verwandelt*
Philip Roth
Nemesis
Gabriele Wohmann
Herbei nun, ihr Gläubigen
Friedrich Christian Delius
Zwischen Vaterunser und Fritz Walter*
Peter Handke
Frieden holen im Singsangrussisch*
Ricarda Huch
»Siehe, es ist alles neu geworden«*
Autoren- und Quellenverzeichnis
* Überschriften wurden vom Herausgeber formuliert
Einläutende Worte
Seit Urzeiten kommen die Menschen zusammen, um den Göttern zu huldigen, und seit zweitausend Jahren, um christliche Gottesdienste zu feiern. Sehr schnell gesellte sich zum zentralen religiösen Anlass der Versammlung eine säkulare Komponente: Der Kirchgang wurde auch zu einem gesellschaftlichen, öffentlichen Ereignis ähnlich dem Besuch eines Theaters, eines Balles oder sogar einer Sportveranstaltung. Das Irdische hielt Einzug in die Kirche. Spätestens hiermit musste der Gottesdienst den Dichter auf den Plan rufen, gehören doch der persönliche religiöse Glaube des Menschen, der immer auch gleichzeitig in ein soziales Netz eingebunden ist, zu seinen künstlerischen Hauptinteressen. Schon früh machen sie sich dann in der Tat daran, das Geschehen in der Kirche literarisch zu bearbeiten, oder anders ausgedrückt: ihm einen Spiegel vorzuhalten. Wer sich mit ihm befasst, stellt schnell fest, dass Sebastian Brant, einer der größten Dichter seiner Zeit, keine Ausnahme bildet, wenn er bereits Ende des 15. Jahrhunderts in seinem Bestseller, der zeitlosen Fundamentalsatire über das Welttheater, dem Narrenschiff, den unseligen »Lärm in der Kirche« anprangert, den die eitlen, selbst dort vornehmlich Weltlichem verhafteten Gottesdienstbesucher veranstalten. Aber auch die Geistlichkeit kommt nicht ungeschoren davon: »Sollt’ er [Christus] offen Sünd’ austreiben, / Wer würde in der Kirch’ wol bleiben! / Er trieb’ wol oft den Pfarrer aus / Und ließ den Meßner nicht im Haus!« Wie ein roter Faden zieht sich durch die in diesem Buch präsentierten literarischen Gottesdienst-Beschreibungen der Interessenkonflikt zwischen dem lebendigen Leben und der nötigen Ehrlichkeit beim gemeinsamen Bekennen des religiösen Glaubens. Kurz: Es geht einerseits um die menschliche Unvollkommenheit beim Umgang mit dem geglaubten Unbegreiflichen, andererseits um das Bemühen, das Zusammenspiel von Ideal und Wirklichkeit als Selbstverständlichkeit, als Wahrheit zu begreifen und anzuerkennen. In dem einen Gottesdienst schweifen die Gedanken des Besuchers ab oder schläft er ein, im anderen geht die Predigt daneben oder gerät sie zu lang. Am Schluss gehen alle nach Hause und widmen sich, nur zu oft, wieder dem Tagesgeschäft. Definitorisch idealtypische, für alle Teilnehmer am Geschehen ausschließlich zweckgebundene und ungestörte Gottesdienste sind von der ›schönen‹ Literatur nicht zu erwarten, und der Leser wäre ihrer auch schnell überdrüssig. Die realen Pfarrer und Kirchgänger sehen sich zwar einander, doch nur der Schriftsteller kann in die Köpfe und Seelen seiner Helden blicken.
Jahrhunderte nach Brant zeigt sich noch immer das gleiche Bild. Anfang 1901 exkommuniziert die oberste zaristische Kirchenbehörde den weltweit verehrten Schriftsteller, radikalen Gläubigen und Kirchenkritiker Leo Tolstoj. Was war geschehen? In seinen 1899 erschienenen dritten Roman, Auferstehung, hatte er einen als Provokation und Blasphemie gedeuteten Gefängnisgottesdienst eingebaut, der beim Heiligen Synod das Fass zum Überlaufen brachte. – John Updike lässt 1986 in Das Gottesprogramm einen Theologieprofessor (!) auf die Ankündigung seiner Frau, sie gehe jetzt in die Kirche, antworten: »›Warum solltest du etwas derart Lächerliches tun?‹« – Drei Jahre später stellt der große kleine Owen Meany im gleichnamigen Roman John Irvings die herausfordernde These auf, das Problem an der Kirche sei der Gottesdienst. – Einer der bedeutendsten zeitgenössischen deutschsprachigen Pfarrerschriftsteller, der Schweizer Kurt Marti, konfrontiert uns in einer »frommen« Erzählung sogar mit einem so stark am Glauben zweifelnden Geistlichen, dass dieser sich außer Stande sieht, den anstehenden Ostergottesdienst zu feiern! Er sei zu der Überzeugung gelangt, dass Gott am Menschen endgültig gescheitert ist. Und wer wollte nicht die Gewissheit des Erzählers in Walter Kempowskis Roman »Uns geht’s ja noch gold« teilen, dass die guten Vorsätze der Besucher des ersten Gottesdienstes in Rostock nach der Katastrophe von 1945 nur leere Worte sind, wenn er ihnen in den Mund legt: »Nun wolle man noch näher zusammenrücken, Ernst machen mit dem Christentum, nicht falsch Zeugnis reden wider seinen Nächsten. Alle Streitigkeiten begraben, Konkurrenz und Neid«?
Selbstverständlich trifft der Leser auch auf zahlreiche ›positive‹ literarische Gottesdienste. Die Kirche kann Stätte tiefer Frömmigkeit, des Trostes, großer Menschlichkeit, des Gemeinschaftsgefühls, der Freude, der schönen Erinnerung sein, lang vermisste Heimatgefühle spenden oder geradezu Heroisches offenbaren. Der Schriftsteller ist nun aber in erster Linie ein Zweifler und zeigt seine Helden eher in problematischen Situationen denn in unbeschwerten Phasen. Ein ehrliches und realistisches Überblicksurteil zum Bild des Geistlichen in der Literatur kann nur so ausfallen, wie eine jüngste Untersuchung von Gerhard Isermann (2012) betitelt ist: Helden, Zweifler, Versager. Das Pfarrbild in der Literatur. Die Erweiterung der Aufmerksamkeit auf die traditionell wichtigste Tätigkeit des Pfarrers, die Verkündigung des Wortes Gottes von der Kanzel herab im Rahmen des Gottesdienstes, oder, anders ausgedrückt: das Inszenieren und Aufführen eines komplexen Gottesdienst-Stückes mit mehreren Akten, bestätigt das von Isermann (und anderen vor ihm) erzielte Sammelergebnis. Ein Grund mag darin liegen, dass literarische Figuren, die im Dienste einer Institution stehen und sie vertreten, bei den Schriftstellern a priori schlecht wegkommen: Lehrer, Verwaltungsbeamte, Juristen oder Politiker bewegen sich auf der Charakterskala zwischen Tyrann, Sonderling oder lächerlicher Figur, im positiven Fall noch von Bedenken geplagt. Den erzählten Seelsorgern (und natürlich auch dem einzelnen Gottesdienstbesucher, der als soziales Wesen von den anderen wahrgenommen werden will) geht es da nicht besser. Denn der Dichter ist Anwalt der Freiheit des Individuums und hegt Vorbehalte gegenüber jedem, der eine Rolle zu spielen hat. Und da ist es nicht verwunderlich, wenn er alles Rituelle, Institutionelle und Nach-Regeln-Ablaufende, das den Menschen seiner Selbstbestimmung beraubt, als unecht, unwahr offenlegt. Auch das so gefährliche Magische, das dem religiösen Kultus anhaftet, wird von den Literaten oft thematisiert. Der bereits erwähnte Owen Meany bringt es auf den Punkt: »Ein Gottesdienst wird für ein Massenpublikum abgehalten. Immer, wenn mir ein Lied zu gefallen beginnt, plumpsen alle auf die Knie zum Beten. Immer, wenn ich dem Gebet gerade folgen kann, springen alle hoch und fangen an zu singen. Und was hat die blöde Predigt mit Gott zu tun? Wer weiß, was Gott von den aktuellen Ereignissen hält? Wer schert sich darum?« Ob dies eine Anspielung auf Aldous Huxleys Schöne neue Welt von 1932 ist? Bekanntlich hat in dieser Antiutopie die Zeitrechnung nach Henry Ford die unsere, an der Geburt Christi orientierte abgelöst. Der Gottesdienst in jener Welt wird »Eintrachtsandacht« genannt. In ihm geht es einzig um die endgültige Ausrottung des Individuums: »Wenn unser Einzelsein wir lassen, / Ist es des Größern Seins Beginn«, heißt es in der Eintrachtshymne. Einerseits gilt es für den Schriftsteller, diese bedenkliche Entwicklung kritisch zu beobachten, andererseits aber auch, immer wieder das damalige wunderbare Geschehen im Heiligen Land ins Bewusstsein zu rücken und nicht im Weltentrubel in Vergessenheit geraten zu lassen. Pilatus habe bei der befohlenen Kreuzigung Jesu, so Reiner Kunze, den Irrtum begangen, nur an diesen Märtyrer zu denken und nicht an die Schreibenden, »die berichten würden / von jahrtausend zu jahrtausend«. Diese Anthologie erstattet erstmalig und hoffentlich abwechslungsreich und spannend Bericht darüber, wie die literarische Welt eine der grundlegenden Lebensformen und Glaubensbezeugungen der menschlichen Gemeinschaft, den Gottesdienst, sieht und gestaltet.
Zu den wesentlichen äußeren Phasen, Örtlichkeiten und Bestandteilen des erzählten Gesamtkunstwerkes ›Gottesdienst‹ gehören: das Fertigmachen zum Kirchgang, der (meist gemeinschaftliche) Gang zur Kirche, das vom Privathaus so vielfältig sich unterscheidende Kirchengebäude selbst, das Glocken- und später das Orgelspiel, das Einnehmen (eines in früheren Zeiten vorgegebenen) Platzes in der Kirchenbank, die Zeremonie beziehungsweise Liturgie, das Singen der Gemeinde, die mit Spannung erwartete Predigt, die Kollekte, das Nach-Hause-Gehen oder der anschließende Gasthaus-Besuch – und die Liebe. Denn das Kirchengebäude als sakraler Raum war über viele Jahrhunderte der einzig mögliche Treffpunkt für Verliebte in der Öffentlichkeit. Überhaupt wird der Leser mit allen nur erdenklichen Gemütswallungen konfrontiert, was den literarischen Gottesdienst zu einem faszinierenden Schauplatz sowohl gesellschaftlichen als auch individualistischen Denkens, Handelns und Empfindens macht.
Dies mag für den Erzähler umso reizvoller sein, als Literatur und Gottesdienst in einem symbiotischen Verhältnis miteinander leben. Ihre gemeinsame Grundlage bildet die Sprache: Die Verkündigung des Wortes Gottes und das Bemühen, es zu verstehen und über die Zeiten immer wieder neu zu interpretieren, stehen für den Mann auf der Kanzel – auf eine Frau bin ich nicht gestoßen! – und für seine Gemeinde im Mittelpunkt der Zeremonie. Die Bibel ist nicht zuletzt ein großes und eines der einflussreichsten Wortkunstwerke, symbolbeladen wie das literarische Kunstwerk. Und für den Schriftsteller ist die Sprache das Handwerkszeug schlechthin, die »härteste Währung« (Reiner Kunze) und ein »sicherer Fallschirm« (Horst Bienek). Nicht selten, man denke nur an die Epoche der Romantik, wurde das dichterische Wort als Gebet begriffen. Goethe sprach sogar vom »Gottesdienstlichen der Kunst«. Zudem folgt die Literatur, und das nicht nur im Schauspiel, wie der Gottesdienst einer festen Dramaturgie, ja, will oder soll der Gottesdienst auch ein kleines Kunstwerk sein mit der Predigt, die selbst künstlerische Ambitionen verfolgt, als Höhepunkt im dritten Akt. Das Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und Predigtgottesdienst ist eng. Seit Jahrhunderten nimmt der Pfarrer sprachliche und thematische Anleihen aus literarischen Werken, während andererseits nicht nur die Verfasser ausgesprochen christlicher Literatur unvermindert religiöse Motive, Themen oder Bilder aufgreifen und die Bibel als eine Sprachquelle bemühen. Literat und Seelsorger ringen ununterbrochen um die richtigen Worte.
Die Zeugnisse für und die Untersuchungen über diese gegenseitige Befruchtung füllen ganze Bibliotheken. Ich könnte mir denken, dass dieses Buch in der Bibliothek der Kirchenfrau oder des Kirchenmannes an der Nahtstelle zwischen den Regalen mit dem wissenschaftstheoretischen und historischen Schrifttum über den Gottesdienst und der belletristischen Abteilung seinen Platz findet. Wie in anderen Wissenschaften auch, so hat die Theologie schon längst den hohen Erkenntniswert der Literatur für ihr Fach bekannt. Der Literaturfreund wiederum weiß, wie aufregend es sein kann, eigene Alltagserfahrungen durch künstlerische Formung neu zu sehen. An ihm zieht eine lange Galerie charakterlich unterschiedlichster Pfarrerfiguren vorbei und wir erleben Generationen von Gottesdienstbesuchern mit ihren schönen Empfindungen, Glücksgefühlen, Hoffnungen, aber auch mit ihren wahren und scheinbaren Nöten oder nur Menschlichem, Allzumenschlichem. Die Dichter bringen es fertig, sowohl große historische und politische Ereignisse oder gesellschaftlich markante Zustände als auch bewegende Einzelschicksale wie durch ein Brennglas in die geschlossene Gesellschaft eines Gottesdienstes hinein zu projizieren. Noch beeindruckender aber ist vielleicht die künstlerische Phantasie, mit welcher die Literatur Gottesdienste veranstaltet, denn nur sie kennt seine unzähligen Facetten.
Es war weder der Anspruch dieser Textsammlung, alle historischen Gottesdienstarten zu sämtlichen denkbaren Anlässen zu berücksichtigen, noch ging es darum, die komplexe Geschichte des Gottesdienstes in ihren literarischen Niederschlägen zu dokumentieren. Auch wäre es nicht möglich gewesen, alle Weltreligionen, Sekten oder Freikirchen zu berücksichtigen. Im Zentrum steht der christliche Gottesdienst beider Konfessionen einschließlich der Orthodoxie des östlichen Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Drei Beispiele geben einen Eindruck davon, wie die Menschen in der islamischen und der jüdischen Glaubenswelt ihre Religion bekennen. Die Anordnung der Beiträge folgt grob den Geburtsjahren der Autorinnen und Autoren; nur der erste und der letzte Beitrag weichen von dieser Reihung ab.
Manche Texte wurden in der Schreibweise behutsam modernisiert, ohne ihnen die historische Prägung zu nehmen.
Für anregende Gespräche und wertvolle Literaturhinweise danke ich herzlich Kim Apel, Eckart Bräuer, Peter Cornehl, Hans-Jörg Eiding, Christoph Gellner, Reinhart Gronbach, Mark Kirchner und Hartmut Steinecke. Bezeichnenderweise sind die Mehrzahl dieser mir wertvollen Gesprächs- oder Korrespondenzpartner sowohl Literaturfreunde und -kenner als auch Seelsorger.
Der Herausgeber
Friedrich Nietzsche
Der Gottesdienst der Griechen
An der Universität Basel hielt der Philosoph in den Wintersemestern 1875 / 76 und 1877 / 78 die gleichlautende Vorlesung. Einleitend stellte er fest:
Es hat nie einen solchen Gottesdienst gegeben wie den griechischen: er ist durch Schönheit, Pracht, Mannichfaltigkeit, Zusammenhang einzig in der Welt und eins der höchsten Erzeugnisse ihres Geistes. Der »festfeiernde Grieche«, das Subjekt zu jenem Objekt, gehört dazu; man muss sich sehr bemühen, eine solche Erscheinung sich deutlich vor die Seele zu führen, man bekommt so erst einen Maßstab für das, was in religiösen Culten barbarisch ist. Überdies ist man es den Griechen schuldig, sie auch hierin nicht in Stich zu lassen und ihnen ihren einzigen Platz in der Weltgeschichte zu bewahren. Sie haben gerade auf die Entwicklung der gottesdienstlichen Gebräuche eine ungeheure Kraft verwendet, eingerechnet Zeit und Geld; wenn bei den Athenern der sechste Teil des Jahres aus Festtagen bestand, die Tarentiner sogar mehr Festtage hatten als Werkeltage, so ist dies nicht nur ein Zeichen von Üppigkeit und Faulenzerei, es war nicht hinausgeworfene Zeit. Das erfinderische Denken, Vereinigen, Ausdeuten, Umbilden auf diesem Gebiete ist die Grundlage ihrer πόλιζ (polis), ihrer Kunst, ihrer ganzen bezaubernden und weltbeherrschenden Macht gewesen. Nicht als Literatur haben die Griechen die Römer und den Orient sich unterwürfig gemacht, sondern als prachtvolle Erscheinung in Aufzügen, Tempeln, Cultusgerätschaften, überhaupt als festefeiernde Hellenen; ihre »klassische Literatur« mit Chorlied, Tragödie, Komödie ist ja auf dem Boden des Cultus oder als Anhang zu demselben zum guten Teil erwachsen. Es fragt sich, ob eine Zeit wie die unsere, die in Maschinenwesen und Ausbildung des Krieges ihre Stärke hat, ihre Kraft auf eine allgemein nützlichere Weise anlegt.
Es ist gar nicht auszurechnen, was man der eigentümlichen Neigung der Hellenen verdankt, an den gottesdienstlichen Gebräuchen alle ihre Kraft, ihren Ernst, ihre Erfindungsgabe auszulassen. Original zwar sind sie, im Sinne eines ganz autochthonen und unberührt gebliebenen Cultus, nicht; im Gegenteil, die Elemente ihres Cultus finden wir überall wieder, es ist gar nicht zu sagen, warum nicht die Phönizier oder die Phryger oder die Germanen oder die Römer es hätten ebenso weit bringen können; sie brachten es nicht so weit, weil sie auf dieselben Elemente nicht so viel Geist, so viel Mühe verwendeten. Man sage auch nicht: »Ja, man muss erst Geist haben, um Geist verwenden zu können«; – ich wüsste nicht, warum die Griechen als Ganzes mehr Geist haben sollten als z. B. die Germanen. Aber die anhaltende Energie des Nachdenkens, der gute Wille, sich mit nichts Mittelmässigem genügen zu lassen – das ist hier griechisch: also Charaktereigenschaften. »Wie kamen Sie nur zu Ihren Entdeckungen?« fragte man Newton. Er antwortete: »Dadurch, dass ich immer daran dachte.«
Justin
Am Sonntage halten wir alle die Zusammenkunft
Der um 165 in Rom gestorbene Märtyrer und Kirchenvater schildert in seiner ersten Apologie den Ablauf der frühchristlichen Gottesdienste.
An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in Städten oder auf dem Lande wohnen; dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel¹ oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht.² Hat der Vorleser aufgehört, so gibt der Vorsteher in einer Ansprache eine Ermahnung und Aufforderung zur Nachahmung all dieses Guten. Darauf erheben wir uns alle zusammen und senden Gebete empor. Und wie schon erwähnt wurde, wenn wir mit dem Gebete zu Ende sind, werden Brot, Wein und Wasser herbeigeholt, der Vorsteher spricht Gebete und Danksagungen mit aller Kraft, und das Volk stimmt ein, indem es das Amen sagt. Darauf findet die Ausspendung statt, jeder erhält seinen Teil von dem Konsekrierten; den Abwesenden aber wird er durch die Diakonen gebracht. Wer aber die Mittel und guten Willen hat, gibt nach seinem Ermessen, was er will,³ und das, was da zusammenkommt, wird bei dem Vorsteher hinterlegt; dieser kommt damit Waisen und Witwen zu Hilfe, solchen, die wegen Krankheit oder aus sonst einem Grunde bedürftig sind, den Gefangenen und den Fremdlingen, die in der Gemeinde anwesend sind, kurz, er ist allen, die in der Stadt sind, ein Fürsorger. Am Sonntage aber halten wir alle gemeinsam die Zusammenkunft, weil er der erste Tag ist, an welchem Gott durch Umwandlung der Finsternis und des Urstoffes die Welt schuf und weil Jesus Christus, unser Erlöser, an diesem Tage von den Toten auferstanden ist. Denn am Tage vor dem Saturnustage kreuzigte man ihn und am Tage nach dem Saturnustage, d. h. am Sonntage, erschien er seinen Aposteln und Jüngern und lehrte sie das, was wir zur Erwägung auch euch vorgelegt haben.
* * *
Flamenca
So sind sie alle, die Liebenden
Der nur fragmentarisch erhaltene altprovenzialische Minneroman aus dem 13. Jahrhundert, dessen Verfasser unbekannt ist, erzählt die Liebesgeschichte des edlen Ritters Guilhem de Nevers und der schönen Flamenca in Bourbon, deren krankhaft eifersüchtiger Ehemann sie gänzlich von der Öffentlichkeit abschirmt, selbst in der Kirche. Bleibt für Guilhem nur eine Annäherung ohne Worte.
Aber Flamenca litt große Pein durch ihren Ehemann. Bald seufzte sie, bald stöhnte sie, Ängste und Folterqualen waren ihr Los, viele Tränen mußte sie trinken. Sie war zugleich verzweifelt und empört. Immerhin erwies ihr Gott eine große Gunst: Sie liebte nicht und sie bekam kein Kind. Hätte sie nämlich geliebt und nichts gehabt, womit sie ihre Sehnsucht stillen konnte, ihre Lage wäre noch weit schlimmer gewesen, meine ich. Niemals hätte sie Liebe gekannt, hätte sie Frau Minne nicht zu ihrem Vergnügen diskret unterrichtet; freilich lehrte sie sie dieses Spiel erst dann, als sie Zeit und Ort für günstig befand. Lange Zeit hindurch aber klagte Flamenca und hielt sich für verloren. Nur an Feier- oder Sonntagen trat sie aus ihrer Tür, aber auch dann konnte weder Ritter noch Klerikus mit ihr sprechen. In der Kirche ließ er sie nämlich nur in einem besonders finsteren Winkel sitzen. An zwei Seiten ragte die Mauer empor; vorne aber hatte er eine hohe, massive Bretterwand errichten lassen, die ihr bis zum Kinn reichte, wenn sie saß, und sie einschloß. Da drinnen war Platz für sie und ihre Fräulein sowie für den Eifersüchtigen, wenn er bei ihnen sitzen wollte. Aber er setzte sich stets draußen hin, abseits, wie ein lauernder Bär oder Panther. Man sah ihm an, welch ein hinterhältiger Mensch er war.
Wenn das Evangelium verlesen wurde, hätte sie einer, der genau hinsah, bei schönem Wetter sehen können, sofern er nahe genug war. Aber bei der Opferfeier ging sie nie nach vorn, da Herr Archimbaut den Pfarrer lieber zu ihr kommen ließ. Glaubt nicht, daß sie dem Geistlichen die Hand küßte, wenn diese nicht wohl behandschuht war. Ihre Weihgabe überreichte sie nicht persönlich, sondern Herr Archimbaut tat es, indem er sie bewachte und ihr nicht erlaubte, ihr Antlitz zu zeigen oder ihre Handschuhe auszuziehen. Daher bekam sie der Pfarrer nie zu Gesicht, weder zu Ostern, noch zu Rogate. Ein Ministrant pflegte ihr den Psalter zum Friedenskuß zu reichen: dieser Junge hätte sie wohl sehen können, hätte er Witz und Verstand gehabt. Nach dem Ite missa est¹ ging Herr Archimbaut hinaus, ohne das Mittagsgebet und die Non abzuwarten. Sogleich rief er den Jungfern zu: »Kommt schon, so kommt schon! Ich will jetzt essen gehen, laßt mich nicht warten, wenn ich bitten darf!« Für ihr Gebet ließ er ihnen keine Zeit. So erging es ihnen gut zwei Jahre lang. Ihr Elend, ihr Kummer und Verdruß verschlimmerten sich Tag für Tag. Zugleich verging kein Morgen und kein Abend, an dem Herr Archimbaut nicht jammerte und sich nicht selbst verwünschte. […]
Während Guilhem seine Herrin erwartete, fühlte er starkes Herzklopfen. Fiel ein Schatten auf das Portal der Kirche, meinte er sogleich, es sei Herr Archimbaut, der da kam. Indessen begab sich jedermann an seinen Platz. Als alle in der Kirche waren und das dritte Geläut verstummte, da kam er hintendrein, der wilde Teufel, der sich gehabte, als könne ihm keiner an. Struppig war er, widerwärtig, nichts als ein Spieß fehlte ihm, um den Scheuchen zu gleichen, die der Bergbauer aufstellt, um die Wildsauen zu schrecken. Neben ihm die schöne Flamenca; so wie er war, mußte sie ihn begleiten. Sie hielt sich von ihrem Gemahl möglichst fern, da er ihr zuwider war. Im Torbogen hielt sie kurz an und neigte sich gar demütig: da sah sie Guilhem de Nivers zum ersten Mal, soweit dies möglich war. Unverwandt blickte er sie an und bewegte kein Lid, während ihn Wehmut und Kummer ergriffen, da er nur so wenig von ihr erblickte. »Das ist sie«, sagte Frau Minne zu ihm, »die zu befreien ich meine Erfindungsgabe einsetze, und auch du sollst erfinderisch ans Werk gehen. Aber spähe nicht so zu ihr hinüber, es soll ja niemand etwas merken. Ich will dich