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Aufrecht im Gegenwind: Kinder von 89ern erinnern sich
Aufrecht im Gegenwind: Kinder von 89ern erinnern sich
Aufrecht im Gegenwind: Kinder von 89ern erinnern sich
eBook455 Seiten5 Stunden

Aufrecht im Gegenwind: Kinder von 89ern erinnern sich

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Über dieses E-Book

Es gibt sehr unterschiedliche Darstellungen über die Ereignisse vom Herbst 1989. Einen von heutigen Interpretationen recht unabhängigen Zugang zu dieser turbulenten Zeit bietet die Befragung von Menschen, die damals Schulkinder oder Jugendliche waren. Für die 1989 politisch aktiven Eltern war schon der Druck der DDR-Obrigkeit auf die Kinder ein wesentliches Motiv, auf die Straße zu gehen. Gleichzeitig führten die Aktivitäten der Eltern zu einem beträchtlichen Risiko für ihre Kinder. Das vorliegende Buch eröffnet die Möglichkeit, den Kindern der 89er-Bewegung zuzuhören. Wie sind sie mit dem politischen Druck in der Schule umgegangen, haben sie verstanden, weshalb ihre Eltern sich dem politischen Anpassungsdruck entzogen und im Herbst 89 in die Öffentlichkeit gingen? Wie erlebten sie als Kinder den Umbruch, die Treffen der Bürgerrechtler in ihren Wohnungen, die Vorbereitungen von Demonstrationen? Was haben sie von den Aktivitäten der Stasi mitbekommen? Die 25 sehr individuellen Portraits eröffnen eine überraschend neue Perspektive auf die Wendezeit von 1989 und ihre Vorgeschichte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. März 2020
ISBN9783374065745
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    Buchvorschau

    Aufrecht im Gegenwind - Evangelische Verlagsanstalt

    Alexander

    Alexander Schulz, Jahrgang 1970

    Eltern: Hans-Ulrich Schulz, Pfarrer und Susanne Schulz, Sachbearbeiterin

    Geschwister: jüngerer Bruder Michael, Gymnasiallehrer für Biologie und Physik

    Aufgewachsen in der Prignitz und in Potsdam

    Heute Pressesprecher und Öffentlichkeitsbeauftragter des Evangelischen Diakonissenhauses Berlin Teltow-Lehnin

    Verheiratet mit Dr. Dorett Hoffmann, Ärztin

    Zwei Kinder, Aeneas (* 2007) und Selma (* 2009)

    Ich bin in einem Pfarrhaus groß geworden. Es befindet sich in Premslin in der Prignitz auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg. Meine Eltern haben mir nie das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein. Trotzdem wusste ich schon als kleines Kind, dass ich in einer anderen Welt lebte als meine Freunde. Das Pfarrhaus war in besonderer Weise ein offenes Haus. Vieles, was heute selbstverständlich ist, war in den 70er-Jahren in der DDR exotisch – zum Beispiel die Begegnung mit Menschen anderer Hautfarbe und Kultur –; im Premsliner Pfarrhaus war es möglich. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Inder, der für ein paar Tage Gast war, auch ein Schwarzafrikaner war einmal zu Besuch. Und auch »Westbesuch« sagte sich gelegentlich an, obwohl unsere Familie keine Verwandten in der Bundesrepublik hatte.

    Etwas Besonderes wollte ich aber nicht sein, eine besondere Rolle nicht spielen – im Gegenteil: Ich wollte normal sein, so wie alle. Einige Wochen nach der Einschulung wurden alle Kinder meiner Klasse Junge Pioniere. Meine Eltern sagten, ich müsse da nicht mitmachen. Ich wollte aber! Und ich habe meinen Kopf durchgesetzt und bin Pionier geworden. Diese Entscheidung habe ich bald bereut. Jeden Mittwoch musste ich jetzt zum Pioniernachmittag. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was wir gemacht haben. Aber ich erinnere mich sehr genau an unendlich viel vergeudete Zeit meiner Kindheit. Die Schule war im Nachbarort, etwa drei Kilometer und eine kurze Busfahrt entfernt. Nur am Mittwoch nach den Pioniernachmittagen fuhr der Bus nicht direkt zurück, sondern ging auf große Prignitzrundfahrt, um erst alle anderen Kinder in ihren Dörfern abzuliefern. Am liebsten wäre ich wieder ausgetreten, das hätte aber sicher mehr Schwierigkeiten bedeutet, als gar nicht erst einzutreten und so blieb ich dabei. Die Möglichkeit, dies zu korrigieren, ergab sich erst zu Beginn der achten Klasse, als der Wechsel von den Pionieren zur Freien Deutschen Jugend anstand. Die FDJ musste ohne mich auskommen. Und ich bin gut ohne die FDJ ausgekommen.

    Alexander Schulz 1989

    Alexander Schulz und Familie 2010

    Inzwischen wohnten wir in Potsdam. Was merkwürdig war: Meine Entscheidung, der FDJ nicht beizutreten, musste ich in der Schule gar nicht begründen. Ich hatte den Eindruck, dass von mir ohnehin nichts anderes erwartet worden war. Vielen, die ich kannte, ging es in ähnlicher Situation ganz anders. Sie wurden unter Druck gesetzt; Abitur und Studium wären unter diesen Voraussetzungen nicht möglich, wurde ihnen erklärt, schließlich fehle ihnen die richtige Einstellung zum sozialistischen Staat. Auf viele Pfarrerskinder wurde nicht im gleichen Maße Druck ausgeübt – wahrscheinlich galten sie bereits als unwiederbringlich verloren, die Konsequenzen waren letztlich dieselben.

    Auch meinen Verzicht auf die Jugendweihe musste ich nicht begründen. Von den Lehrern wurde die Entscheidung einfach hingenommen, bei manchem Mitschüler löste sie Unverständnis aus – war doch die Jugendweihe für die allermeisten kein Bekenntnis zum sozialistischen Staat, sondern lediglich ein Anlass, reichlich Geschenke entgegenzunehmen. Andererseits habe ich auch Respekt für meine Entscheidung gegen die Jugendweihe und für die Konfirmation verspürt.

    Wir waren 14 und 15 und dachten natürlich schon an die Zeit nach der Schule, und alle ahnten, dass ich mir den Weg in Richtung Abitur und Studium freiwillig erschwert hatte.

    Meine Eltern sagten deshalb zu mir und meinem Bruder immer wieder: »Ihr müsst die Besten sein – an dieser Stelle dürfen sie euch nicht kriegen. Die Besten nicht zu Abitur und Studium zuzulassen, ist nicht so einfach!«

    Die Themen, die mich in dieser Zeit beschäftigten, kamen in der Schule nicht vor. Umweltverschmutzung und Umweltschutz, Friedens- und Abrüstungsfragen habe ich in der Jungen Gemeinde meiner Kirchengemeinde diskutiert – nicht im Staatsbürgerkundeunterricht in der Schule. Die Gesetze der zweigeteilten Welt, in der ich lebte, hatte ich selbstverständlich verinnerlicht. Die Welt der Schule war – jedenfalls wenn es um Meinung, Haltung und Gewissen ging – eine Scheinwelt. Jeder wusste das – und doch taten Lehrer und Schüler alles, um den Schein nicht zu zerstören.

    Manchmal habe ich mich gefragt, warum wir nicht in den Westen ausreisen. Irgendwie schien mir das die selbstverständliche Lösung der merkwürdigen Situation zu sein. Meine Eltern sahen das anders. Ganz protestantisch pflichtbewusst wollten sie dort leben, arbeiten und wirken, »wo ihr Gott sie hingestellt hatte«.

    In unserer Schule in Potsdam gab es ziemlich viele »Ausreiser«. Wir anderen wussten das irgendwie, denn offen gesprochen wurde darüber nicht, eher auf dem Schulhof getuschelt. Ich erinnere mich, dass wir diese Mitschüler besonders behandelten – mit Respekt, etwas Bewunderung und Distanz. Bis sie von einem Tag auf den anderen und ohne Vorankündigung aus der Schule verschwanden. Immer dann wurde das Thema Ausreise auch zu Hause aktuell und besprochen. Ansonsten spielte es aber – zumindest in Gegenwart von uns Kindern – keine große Rolle.

    Die Kirche in der DDR war mit der Kirche in der Bundesrepublik eng verbunden und wurde zum Teil kräftig unterstützt. Dazu zählte auch eine bescheidene finanzielle Unterstützung der Pfarrer zur Aufbesserung des schlechten Gehalts. Das reichte hier mal für ein Pfund Kaffee, da mal für eine Tafel Schokolade oder ein paar Kaugummis. Wie viel Geld da war, war gar nicht wichtig. Wichtig war, dass das Westgeld (nur so hieß die D-Mark in meiner Erinnerung) Einkäufe im Intershop ermöglichte. Diese Einkäufe waren immer kleine Fluchten aus dem Alltag. Später empfand ich die Intershops als verlogen und falsch. Die D-Mark war de facto anerkannte Zweitwährung in der DDR, die Intershops gut riechende Schaufenster des Westens, der dort als sehr erstrebenswert präsentiert wurde. Andererseits lernten wir in der Schule vom »faulenden Kapitalismus« und von der Überlegenheit des Sozialismus – ein weiterer Aspekt der zweigeteilten DDRWirklichkeit. Heute verstehe ich nicht mehr, wie es möglich war, diese Widersprüche auszuhalten und zum Teil gar nicht zu erkennen.

    Das Abitur durfte ich auf direktem Wege auf der Erweiterten Oberschule (EOS) »Hermann von Helmholtz« in Potsdam erwerben, obwohl ich nicht in der FDJ und ohne Jugendweihe war und mich auch nicht freiwillig für den dreijährigen verlängerten Wehrdienst gemeldet hatte. Im Gegenteil: Ich habe den Wehrdienst mit der Waffe verweigert und hätte – wären nicht ›Wende‹ und Mauerfall dazwischengekommen – als Bausoldat meine Wehrpflicht absolviert.

    Im Abstand von jeweils mehreren Wochen mussten wir Schüler unsere Studienwünsche in eine Liste eintragen. Das tatsächliche Ziel dieser Maßnahme kann ich nur erahnen. Ich vermute, dass Schüler über die Zeit so beeinflusst werden sollten, bis ihre Wünsche mit den zentralen Planungen übereinstimmten. Da ich keine Idee hatte, welches Studium für mich in Frage kommen könnte und die Liste leer ließ, rief mich der stellvertretende Direktor, der für Studienangelegenheiten zuständig war, zu sich. Er brauchte eine vollständig ausgefüllte Liste und schlug mir vor, Verfahrenstechnik zu studieren. Wahrscheinlich wurden Verfahrenstechniker gerade gebraucht. Meinen skeptischen Blick beantwortete er mit dem Satz: »Ach mehr so mit Menschen, oder wie? Dann Medizin!« In den nächsten Wochen trug ich also Medizin brav als Studienwunsch ein – solange bis mir sehr deutlich gesagt wurde, dass für mich nur Theologie als Studienfach in Frage käme. Es war also doch noch jemandem aufgefallen, dass mir ohne FDJ, Jugendweihe und dreijährigen Wehrdienst wesentliche Voraussetzungen für ein Studium fehlten. Der Gedanke an Theologie lag mir wegen meiner Herkunft aus einem Pfarrhaus nicht fern. Dies aber nicht selbst entschieden zu haben, passte mir nicht.

    Ende September 1988 wurden drei Schüler der »Carl-von-Ossietzky-Schule« in Berlin-Pankow von ihrer Schule relegiert. Das heißt, sie mussten die Schule verlassen und durften kein Abitur machen, weil sie sich auf einer Wandzeitung gegen Militärparaden ausgesprochen hatten. Wir diskutierten die Vorgänge in unserer Klasse, soweit das möglich war. Offizielle Informationen gab es nicht, RIAS und ARD berichteten aber über die Geschichte. Wir suchten nach einer Möglichkeit, uns mit den betroffenen Schülern solidarisch zeigen zu können und waren uns einig, dass wir mehr und direkte Informationen bräuchten. Ich sagte, ich würde einfach mal direkt in der »Carl-von-Ossietzky-Schule« anrufen, um zu erfragen, was da los sei. Am nächsten Tag kam meine Klassenlehrerin Heidi Wilhelm aufgeregt zu mir: »Hast du da schon angerufen? Bitte mach das nicht – wahrscheinlich fliegst du sonst auch von der Schule!«

    Das Frühjahr 1989 war politisch aufregend. Wir bereiteten uns auf die Prüfungen vor. Am 7. Mai wurden die Kommunalparlamente neu gewählt. Ein halbes Jahr vorher war ich 18 Jahre alt geworden, die Kommunalwahlen sollten also meine ersten Wahlen sein. Das Thema Wahlfälschung war schon vor dem 7. Mai ein großes Thema, auch in unserer Klasse. Wir diskutierten die unglaubwürdigen 99,8 %-Ergebnisse vorangegangener Wahlen und die Repressionen, denen Nichtwähler ausgesetzt waren. Rückblickend frage ich mich manchmal, woher wir den Mut für so viel Offenheit hatten. Offenbar gab es innerhalb der Klasse und auch gegenüber der Klassenlehrerin ein großes Vertrauensverhältnis. Vielleicht hatten wir auch ein unbekümmert-jugendliches Radar, mit dem wir spürten, dass Veränderungen einfach kommen mussten und es nicht ewig so weitergehen konnte. Es wurde zum Beispiel im Jahr 1989 viel über eine »biologische Lösung« gesprochen, immerhin bestand die erste Führungsriege in Partei und Staat aus Greisen.

    Nach den Diskussionen in der Klasse und mit Freunden stand für mich fest, dass ich nicht wählen würde – eine Entscheidung, die ich nicht für mich behielt. Wenige Tage vor der Wahl kam Heidi Wilhelm auf mich zu, mit der Bitte, doch wählen zu gehen: »Du wirst wahrscheinlich keinen Ärger bekommen, aber ich dafür umso mehr.« Diesen Ärger habe ich ihr erspart.

    Nicht mehr so mutig waren wir vier Wochen später. In China wurde der Ruf der Studenten nach Demokratie brutal, blutig und mit zahlreichen Todesopfern niedergeschlagen. Das Vorgehen der chinesischen Genossen wurde von der DDRFührung nicht nur nicht verurteilt, sondern im Gegenteil mehr oder weniger deutlich ausgesprochen sogar begrüßt.

    Damit stand eine neue Idee im Raum, wie man mit der Unruhe und Unzufriedenheit im eigenen Land im schlimmsten Fall umgehen würde. Viele, auch ich, fürchteten jetzt eine »chinesische Lösung« der Probleme in der DDR. Spätestens jetzt fing ich an darüber nachzudenken, die DDR zu verlassen. Sehr konkret waren diese Überlegungen nicht. Nur so viel stand fest – über die Mauer wollte ich nicht springen.

    An unserer Schule gab es die Tradition eines Theaterwettbewerbs. Wir entschieden uns für ein Stück eines sowjetischen Autors, das in der DDR zunächst nicht gespielt werden durfte. Soviel ich weiß, gab es kein Theater im Land, das »Diktatur des Gewissens« von Michail Schatrow vor uns gespielt hätte. DDR-Erstaufführung eines eben noch verbotenen Stückes durch eine Schulklasse – das hatte was. Im Mittelpunkt von »Diktatur des Gewissens« steht ein Prozess. Angeklagt ist die Sache des Sozialismus, Zeugen berichten von Massakern im Spanienkrieg und einer Kultur des Mitläufertums, die jeden Individualismus kriminalisiert, in der Sowjetunion. Unser Bühnenbild zierte ein großes rotes Transparent mit dem Spruch: »Sage nichts, woran du nicht glaubst, sage nichts, was du nicht denkst!« Mit jugendlicher Unbekümmertheit machten wir uns an die Proben und organisierten Aufführungen in der Schule, im Potsdamer Pionierhaus und auf der Probebühne des Potsdamer Theaters. Unser Direktor versuchte, den Auftritt in der Schule mit dem Hinweis auf Bauarbeiten in der Aula zu verhindern. Woher wir den Mut nahmen, weiß ich nicht mehr – wir nahmen sein Verbot nicht hin, sondern erklärten ihm, dass wir spielen und zur Not auch die Türen zur Aula aufbrechen würden. Die Aufführungen fanden statt. Ein Urteil über den Sozialismus wird in »Diktatur des Gewissens« nicht gesprochen. Allein die Tatsache, dass der Sozialismus auf der Anklagebank saß, hätte für einen Skandal reichen müssen. Die Abiturprüfungen selbst waren – jedenfalls in meiner Erinnerung – nicht besonders aufregend. Spannender war die Zeit danach – die letzten großen Ferien. Die Sommermonate 1989 waren einerseits unbeschwert. Die Schule war vorbei, das Wetter großartig und wir hatten viel Zeit.

    Eine Anekdote, die für mich symptomatisch für die späte DDR ist: Zu Beginn der Ferien jobbte ich für ein paar Tage in einer GPG, einer Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft. Meine Aufgabe war es, Weiß- und Rotkohlköpfe in einer großen Lagerhalle in Kisten zu je 20 kg zu verpacken. Ich stapelte fleißig Kisten, der Berg aus Kohlköpfen wurde kleiner. Als alle verpackt waren, nahm ich mir jede einzelne Kiste wieder vor, nahm jeden Kohl zur Hand und prüfte, ob er schon angefault war. Ich begann einen neuen Berg aus angefaulten Kohlköpfen anzuhäufen. Was noch genießbar war, wurde wieder 20 kg-weise verpackt. So ging es, bis alle Kohlköpfe verfault auf einem großen Haufen lagen und alle Kisten wieder leer waren.

    Das ganze System funktionierte nicht mehr. Auf der einen Seite vergammelte Obst und Gemüse. Auf der anderen Seite gab es Versorgungsengpässe. Jede Verkaufsstelle war verpflichtet, im privaten Garten gezogene Äpfel, Tomaten oder Gurken aufzukaufen. Die landeten im besten Fall im Verkauf – und kosteten dort weniger, als der private Verkäufer dafür bekommen hatte. Im schlimmsten Fall, wie bei einer zentralen Gurken-Annahmestelle beobachtet, landeten die Sachen einfach auf dem Müll, weil es keine Möglichkeit für Transport und Weiterverarbeitung gab. Diesen ökonomischen und organisatorischen Wahnsinn hätte jeder erkennen können, auch ohne wirtschaftlichen Sachverstand und ganz unabhängig von bevorzugter Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. In der DDR hielten es aber alle irgendwie für normal.

    Mehrmals in diesem Sommer bin ich mit Freunden spontan an die Ostsee gefahren – ohne Plan, einfach so los. Andererseits begann in diesem Sommer die Massenflucht aus der DDR. Im Café Heider, wo ich mich häufig aufhielt, riefen fast täglich näher oder entfernter Bekannte an, die es über Ungarn oder auf anderen Wegen nach Westberlin geschafft hatten. Die Kellner hatten die Aufgabe, die Grüße an die Gäste des Cafés weiterzugeben. Je mehr Zeit verging, desto näher rückte die bevorstehende Einberufung zur Armee, desto mehr Bekannte hatten sich aus dem Westen gemeldet, desto größer wurde die Resignation und desto klarer wurde mein Entschluss, auch zu gehen.

    Andererseits wurde es jetzt richtig spannend in der DDR. Dass sich etwas verändern würde, war deutlich zu spüren. Honecker war für Wochen aus der Öffentlichkeit verschwunden, gerade als die Fluchtwelle über Ungarn sich ihrem Höhepunkt näherte. Ärzte und Krankenschwestern verließen so zahlreich die DDR, dass die Versorgung in den Krankenhäusern gefährdet war. Alles wartete auf irgendwie geartete offizielle Reaktionen.

    Neben Hoffnungen gab es die Angst vor einer gewaltsamen Lösung der immer deutlicheren Konflikte. Die Älteren erinnerten sich an den 17. Juni 1953 und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Das Massaker in China lag erst ein paar Wochen zurück. Gorbatschow immerhin war ein Hoffnungsträger. Ein gewaltsames Eingreifen der Sowjetunion wurde jedenfalls in meiner Erinnerung nicht konkret befürchtet, aber auch nicht ausgeschlossen.

    Die Chronologie der Ereignisse gerät in meiner Erinnerung durcheinander. Der Wunsch zu bleiben und der Drang zu gehen, bevor es unangenehm und gefährlich wird, wechselten sich ab.

    Ich kannte einige Leute aus der Potsdamer Antifa. Gelegentlich ging ich auch zu den Treffen der Gruppe, wo darüber gesprochen wurde, was man gegen die neuen Nazis, die es zunehmend auch in der DDR gab, unternehmen könne. Vor allem erschreckte uns, dass dieses Problem offiziell einfach ignoriert wurde. Im antifaschistischen Staat DDR konnte es keine Nazis geben; wer etwas anderes behauptete, machte Propaganda gegen die DDR – das war die offizielle Haltung zum Thema.

    Am 10. September 1989 fanden – wie in jedem Jahr am zweiten Sonntag im September – in vielen Städten Kundgebungen anlässlich des »Tages der Opfer des Faschismus« statt. Die Potsdamer Antifa wollte diese Kundgebung nutzen, um auf das Problem der Neonazis in der DDR öffentlich aufmerksam zu machen.

    Auf dem Potsdamer Platz der Einheit hatten sich einige Tausend Menschen zur Kundgebung versammelt. Die Antifa-Gruppe bestand aus etwa 20 Leuten. Wir versuchten, möglichst dicht an die Rednertribüne zu gelangen. Unsere Transparente hatten Aufschriften wie »Warnung! Neonazis auch in der DDR« oder zeigten das zerschlagene Hakenkreuz. Wir waren so naiv zu glauben, dass man uns gewähren lassen würde, hätte man unser Anliegen erst einmal erkannt.

    So weit kam es aber nicht. Der Versuch, die Transparente zu entrollen, wurde gewaltsam beendet. Stasimänner hatten uns umzingelt und gingen brutal gegen uns vor. Im Handgemenge versuchte ich, einen Freund aus der Gewalt von zwei Männern zu befreien. Erfolglos. Wegen dieser Sache war ich einer der ersten Festgenommenen aus der Gruppe. Man »führte mich zu«, das heißt, man brachte mich zur Polizei. Die anderen folgten nicht viel später. Sie kamen allerdings unter anderen Voraussetzungen: Sie hatten sich bei der Polizei über den brutalen Stasieinsatz beschwert, ihnen wurde »angeboten«, eine Anzeige zu machen. Bei der Polizei fanden sie sich dann auch als Gefangene wieder. Es folgten Einschüchterungen und Verhöre. Mir wurde zunächst »Rädelsführerschaft bei einer Zusammenrottung« vorgeworfen, auf fünf Jahre im Gefängnis müsse ich mich einstellen. Nach zwölf Stunden wurde ich entlassen, Haft stand nicht mehr im Raum, aber eine erhebliche Geldstrafe. Angeschrien habe ich einen der Polizisten, als er mir sagte, dass mein Vater da sei, um mich abzuholen. Ich wollte die Sache allein bestehen und brüllte, was ihm einfiele, meine Eltern zu informieren – schließlich sei ich volljährig. Später habe ich erfahren, dass meine Freundin meine Eltern angerufen hatte, nicht die Polizei. Ob mir die Anwesenheit meines Vaters geholfen hat oder nicht, kann ich nicht einschätzen.

    Jedenfalls kamen nicht alle aus unserer Gruppe so glimpflich davon wie ich. Einzelne saßen bis Ende Oktober oder Anfang November 1989 in Untersuchungshaft.

    Ich selbst wurde noch einmal zu einem Verhör geholt. Wir fühlten uns verfolgt und fanden zahlreiche Hinweise darauf, dass dies nicht nur ein Gefühl war. Ich hatte jetzt konkrete Angst, die Gefängnisdrohung hatte mich getroffen. Auf der anderen Seite gab es aber auch ein großes Trotzgefühl. Eigentlich hätten die Vorfälle der letzte Anlass sein können, die DDR zu verlassen. Aber ich wollte auch sehen, wie es weitergeht.

    Die Antifa-Demo war in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben. Um die Diskussionen zu lenken, wurden die Ereignisse in den Potsdamer Schulen propagandistisch aufgearbeitet. Eine ehemalige Lehrerin erzählte mir später, sie sei aufgefordert worden zu behaupten, wir seien vom Westen bezahlte Provokateure. Hinter uns würden die gleichen Kräfte stehen, die auch die Skinheads in der DDR finanzieren würden – mit dem Ziel, das Land zu destabilisieren. Außerdem hätte jeder von uns einen Ausreiseantrag gestellt. Mit der »Störung« der Kundgebung zum Tag der Opfer des Faschismus hätten wir unsere Ausreise beschleunigen wollen. Meine Lehrerin wusste, dass ich auf dem Platz der Einheit dabei gewesen war und war mutig genug, die Behauptungen zurückzuweisen.

    Einige meiner Mitschüler, mit denen ich erst ein paar Wochen vorher das Abitur gemacht hatte, waren inzwischen Soldaten. Sie waren im Herbst 1989 in erhöhter Alarmbereitschaft, mussten etwa in ihrer Uniform schlafen. Eine Strategie der DDR-Armeeführung war es, Wehrpflichtige möglichst weit weg vom Wohnort zu stationieren. So sollte vermieden werden, dass sich im Konfliktfall Bekannte gegenübergestanden hätten. Von einem meiner ehemaligen Mitschüler weiß ich aber, dass er doch entgegen der üblichen Gepflogenheiten in Potsdam stationiert war – und dass er viel darüber nachdachte, wie er sich verhalten sollte, wenn er im Einsatz mir gegenüberstehen würde. Die aktuelle Lage wurde auch unter den Soldaten diskutiert. Und ich möchte auch zwanzig Jahre später glauben, dass es unter ihnen Mutige gegeben hätte, die sich geweigert hätten, gegen die Menschen auf der Straße vorzugehen.

    Dass es sehr konkrete und brutale Pläne für den Umgang mit Oppositionellen gab, zeigte sich nach der Herbstrevolution. Dass die politischen Führer, die während der Nazizeit zum Teil selbst in Lagern und Gefängnissen gesessen hatten und daraus einen großen Teil ihrer moralischen Legitimation bezogen, selbst wieder Lager für Andersdenkende, Individualisten und sogenannte Asoziale geplant hatten, gehört für mich zu den schockierendsten Enthüllungen der Nachwendezeit.

    Am 14. November 1989 sollte ich meinen Wehrdienst als Bausoldat antreten. Mein Einberufungsbefehl hatte mich nach Prora auf der Insel Rügen bestellt. Die Ereignisse im Herbst 1989 – die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die Gründung des Neuen Forums, viele Diskussionen und die euphorische Aufbruchstimmung, die die vorhandene Angst überwog, ermutigten mich, im Oktober schriftlich nach einer Alternative zu fragen. Ich wandte mich an das zuständige Wehrkreiskommando mit dem Vorschlag, statt in die Kaserne einzurücken, in einem Krankenhaus oder einer Behinderteneinrichtung zu arbeiten. Als Reaktion erhielt ich eine Einladung zu einem klärenden Gespräch am 10. November. Über Nacht hatte sich die Welt geändert, die Mauer war gefallen. Niemand konnte mich mehr zwingen, Soldat zu werden. Der Offizier, der mir am nächsten Morgen gegenübersaß, hatte all seine Macht verloren und nichts mehr, womit er drohen konnte. »Rechnen Sie nicht mit meinem Erscheinen«, erklärte ich und gab meinen Einberufungsbefehl zurück. Ich hatte mir bereits eine Stelle in einer Wohneinrichtung für Behinderte gesucht. Dort würde ich anfangen zu arbeiten und dies zu meinem Zivildienst erklären, auch wenn es entsprechende gesetzliche Regelungen nicht gab, teilte ich meinem Gegenüber mit. »Dann machen Sie mal«, mehr hatte der NVA-Mann mir gegenüber nicht mehr zu sagen.

    Was folgte, war anders als gedacht und erhofft. So großartig das Erlebnis des Mauerfalls war, so wenig wollte ich einfach vom Westen übernommen werden. Der Tonartwechsel des Rufes auf der Straße von »Wir sind das Volk!« zu »Wir sind ein Volk!« machte mir damals Angst. Die Hoffnung auf etwas ganz Neues, das die Stimmung, die Erfahrungen und das Selbstbewusstsein des Herbstes 1989 mitnimmt, hatte sich nicht erfüllt und war rückblickend vielleicht auch etwas naiv.

    Zwar war ich schnell dabei, allen, die für D-Mark, Marlboro und Mallorca ihr Engagement aufgaben, Vorwürfe zu machen. Rückblickend war die Revolution aber auch für mich mit dem Mauerfall vorbei. So engagiert wie vor dem 9. November 1989 jedenfalls war ich nie wieder.

    Zu reisen war immer ein Traum von mir, schon als Kind liebte ich Landkarten und stellte mir vor, wie es woanders aussehen würde, wie es wäre, dort zu leben. Die erkämpfte Reisefreiheit war und ist das, was mein Leben ganz unmittelbar verändert hat. New York – die Stadt ganz oben auf der Liste meiner Wunschziele – lag jetzt in erreichbarer Nähe. Nach Besuchen in Westberlin, im Westen Deutschlands und einem Kurztrip nach Italien führte mich meine erste große Reise im Sommer 1990 in die USA. Das war noch vor der Vereinigung am 3. Oktober 1990, ich war also noch Bürger der DDR und mein blauer Ost-Reisepass sorgte in Amerika für einiges Aufsehen und ein herzliches Willkommen. Der Mauerfall hatte auch die Menschen dort sehr bewegt.

    Trotz aller enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen bin ich nicht politikverdrossen. Im Gegenteil: Jeder Wahltag ist für mich ein Feiertag, auch wenn meistens die Partei gewinnt, die ich nicht gewählt habe.

    Theologie habe ich nicht studiert, auch bei der Berufswahl habe ich die neuen Freiheiten genutzt. Dazu gehörte es auch, Umwege zu gehen. Auch viele Freunde meines Alters sind nicht auf direktem Weg dort angekommen, wo sie heute stehen. Dies ist weniger banal als es klingt, waren doch unsere Schritte bis zur Rente vor der Revolution in der DDR sehr genau geplant.

    Die neuen Möglichkeiten haben auch verunsichert, die Neuorientierung fiel manchem schwer.

    Ich selbst habe Germanistik und Geschichte studiert, eher aus Verlegenheit als mit einem konkreten Berufsziel. Schließlich bin ich Journalist geworden, ein Beruf, den ich für einen der schönsten und wichtigsten in einer freien Gesellschaft halte. Diesen Beruf hätte ich in der DDR mit Sicherheit nicht ausgeübt.

    Anke

    Anke Lieske, geb. Ermisch, geboren 1968

    Eltern: Christine (Betriebskrankenschwester, nach 89 Sozialdezernentin) und Hans-Martin Ermisch

    (Dipl. Ing., nach 89 Wirtschaftsdezernent)

    Ein Bruder

    Aufgewachsen in Rathenow

    Heute Krankenschwester in Arnstadt, verheiratet, zwei Kinder

    Grundsätzlich hatten wir ein sehr offenes Zuhause. Bei uns wurden alle Probleme offen besprochen. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass unsere Eltern bestimmte Gespräche über Partei und Staat auch unter sich führten oder diese Themen mit gleichgesinnten Freunden besprachen. Mit uns wurde darüber altersentsprechend oder aus einer bestimmten Situation heraus diskutiert.

    Ich wusste genau, was ich in der Schule erzählen konnte und worüber man besser schwieg. Zu Hause fiel auch mal der Satz: »Worüber wir geredet haben, bleibt in unseren 4 Wänden.« Ich denke, dass wir das schon einschätzen konnten, was das bedeutete.

    Wir waren bei den Pionieren, in der FDJ und haben auch an der Jugendweihe teilgenommen. Ich denke, dass unsere Eltern der Meinung waren, dass man nicht unnötig auffallen sollte. Sie wollten uns die Zukunft nicht verbauen. Es war für uns normal, zu den Pionieren zu gehören. Ich hätte es mit 6 Jahren auch nicht verstanden, warum ich nicht dazu gehöre. Man hätte auch den Lehrern keine Antwort geben können auf die Frage: »Warum bist du nicht dabei?« Unsere Eltern wollten uns davor schützen. Vor dem Eintritt in die FDJ gab es bei uns zu Hause schon Diskussionen, ob ich eintrete oder nicht. Wenn meine Eltern gesagt hätten, ich soll nicht eintreten, dann hätte ich es auch nicht gemacht. Sie machten mir aber klar, dass ich dadurch mit Nachteilen bei der Berufswahl rechnen müsste. Ich wollte Krankenschwester werden und hatte eigentlich vor, eine kirchliche Ausbildung in Potsdam im Oberlinhaus zu beginnen. Nun wussten wir aber noch nicht, ob ich den Ausbildungsplatz bekomme, also ging ich auf Nummer sicher und machte mit. Meine Eltern wollten nicht, dass wir irgendwelchen Repressalien durch Lehrer ausgesetzt werden. Die FDJ-Stunden waren eine lästige Pflicht, wo man schon mal versucht hat, sich zu drücken. Ich hatte Freundinnen in der Jungen Gemeinde oder im Konfirmandenunterricht, die nicht in der FDJ waren. Sie sprachen des Öfteren von Auseinandersetzungen mit Lehrern. Bei der Jugendweihe habe ich nur an der Festveranstaltung aus oben genannten Gründen teilgenommen. Anschließend sind wir nach Kleinmachnow gefahren, wo ein Freund meiner Eltern ein Orgelkonzert gab. Ein paar Wochen danach wurde von Klassenkameraden und Lehrern bemerkt, dass ich auf keinem Foto zu sehen war. Mich störte dies nur wenig. Ein Jahr später wurde meine Konfirmation mit einem großen Familientreffen gefeiert.

    Erinnerung: Wir hatten in der 9. Klasse Zivilverteidigung. In einer Stunde hat uns ein Lehrer in Armeeuniform auf dem Plattenspieler »Uns hilft kein Gott, uns’re Welt zu erhalten« vorgespielt – nur diese Zeile und das mehrmals. Ich kannte dieses Lied von der Gruppe »Karat« damals gar nicht. Meine Eltern hörten keine moderne Musik und ich hörte eigentlich nur RIAS Berlin oder SFB im Radio. In den westlichen Charts kannte ich mich besser aus. Danach machte der Lehrer uns klar, welche wichtigen Aufgaben unsere NVA hatte, nämlich unsere Welt zu retten bzw. unsere DDR vor dem feindlichen Aggressor zu schützen. Das könne kein Gott.

    Anke Lieske 1989

    Viel später hörte ich das Lied im Radio vollständig und stellte fest, dass es einen völlig anderen Inhalt hatte.

    Die Lehrer haben uns genauso behandelt wie die anderen auch. Ich hatte nie das Gefühl, eine Außenseiterrolle zu spielen. Manche Lehrer haben wir auch nach der Wende im Gottesdienst oder bei Kirchenkonzerten getroffen. Es gab nur wenige Ereignisse, wo man das Gefühl hatte, »Außenseiter« zu sein. Ich wusste immer, dass unsere Eltern hinter uns standen.

    Erinnerung: 1983 war ein großes Pfingsttreffen der FDJ in Berlin. Unser Mathelehrer fragte in der Klasse, wer mitfahren wollte. Es stand aber von vornherein fest, dass nur eine begrenzte Anzahl von Schülern mitfahren konnte. Es meldeten sich alle aus der Klasse, nur ich nicht. Natürlich wollte der Lehrer wissen, warum ich nicht mitfahren wollte. Ich erklärte ihm, dass ich Konfirmation hätte. Daraufhin musste ich mir anhören, dass das Pfingsttreffen ein viel größeres und wichtigeres Ereignis sei als nur meine Konfirmation. Letztendlich durfte von 28 Schülern meiner Klasse nur eine Schülerin fahren – und die war FDJ-Sekretärin.

    Anke Lieske und Familie 2009

    In den FDJ-Stunden hat man schon versucht, uns zu »klassenbewussten sozialistischen Staatsbürgern« zu erziehen.

    Erinnerung: Es muss in der 9. oder 10. Klasse gewesen sein. Ich hatte zur Konfirmation eine Kreuzkette bekommen, die ich auch täglich trug. Mit zunehmendem Alter wurde man ja auch mutiger oder wollte vielleicht auch ein klein wenig provozieren. Ich trug also diese Kette über meinem Pullover, sodass es jeder sah. Im Unterricht sprach mich dann der Direktor auf die Kette an. Ich sollte sie abmachen. Dem habe ich mich verweigert, bis er mich mehrmals vor der Klasse anschrie. Er meinte, er würde auch nicht mit dem SEDAbzeichen in die Kirche gehen und ich hätte kein Recht, ein Kreuz in seiner Schule zu tragen. Ich habe ihm daraufhin erklärt, dass kein Mensch etwas dagegen haben würde, wenn er mit dem Parteiabzeichen in die Kirche käme. Ich glaube, in dieser Situation bin ich über mich hinausgewachsen. Es endete damit, dass er mich anbrüllte und mir ein Gespräch unter vier Augen androhte. Meine Eltern rieten mir, mich auf kein weiteres Gespräch einzulassen. Ich sollte dem Direktor sagen, dass er sich an meinen Vater wenden möge. Mein Vater hat sich daraufhin intensiv auf ein Gespräch vorbereitet. Zu dieser Zeit trafen sich gerade Erich Honecker und Olof Palme im Stralsunder Dom. Zu einem Gespräch kam es aber nicht mehr.

    Etwas später wurde ich noch einmal von einem Lehrer angesprochen, weil ich einen Anstecker (Kreuz auf der Kugel) an meiner Jacke hatte. Er wollte wissen, was dieser Anstecker bedeutete. Ich erklärte ihm meine Ansicht und er gab sich damit zufrieden. Als die Aufnäher und Sticker von »Schwerter zu Pflugscharen« aufkamen, rieten meine Eltern uns davon ab, sie öffentlich zu tragen. Ich hatte solch einen Aufkleber auf meinem Konfirmandenhefter. Eine Freundin aus der Jungen Gemeinde hatte einen Aufnäher von »Schwerter zu Pflugscharen« auf ihren Parka genäht. Ihr wurde das Zeichen aus der Jacke geschnitten. Ihre Eltern hatten einen Ausreiseantrag gestellt, saßen im

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