Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Lost Place - Jellas Geheimnis
Lost Place - Jellas Geheimnis
Lost Place - Jellas Geheimnis
eBook243 Seiten2 Stunden

Lost Place - Jellas Geheimnis

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Hals über Kopf muss Jella ihr altes Leben zurücklassen und in das Heimatdorf ihrer Mutter ziehen, zu lauter Fremden, die ihre Eltern nie auch nur mit einem Wort erwähnt haben. Bald entdeckt Jella, dass nicht alles so ist, wie es scheint, und Geheimnisse an die Oberfläche kommen, wenn man beginnt, nach ihnen zu suchen ... Was hat der geheimnisvolle Außenseiter Josh, der sich in verlassenen Kasernen herumtreibt und Jella manchmal ganz nah kommt, dann aber wieder kühl und distanziert ist, mit alledem zu tun? Warum will Jellas Vater nicht, dass sie etwas über die Vergangenheit erfährt? Und welche Rolle spielt der mysteriöse Beobachter, der immer wieder in Jellas Nähe auftaucht? Ist er der Schlüssel zu allem? In Jella kommt ein schrecklicher Verdacht auf ... Gemeinsam mit Josh macht Jella sich auf die Suche nach etwas, das nicht nur in der Vergangenheit liegt, sondern auch ihre Zukunft bestimmen könnte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Sept. 2020
ISBN9783960742982
Lost Place - Jellas Geheimnis

Ähnlich wie Lost Place - Jellas Geheimnis

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Lost Place - Jellas Geheimnis

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Lost Place - Jellas Geheimnis - Simone Holthaus

    o

    Impressum:

    Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet: papierfresserchen.de

    © 2020 Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

    Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

    Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2020.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

    Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

    Cover gestaltet von © Les

    Hinweis: S. 94 f. Nacherzählung aus dem Buch „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte", Jorge Bucay, Fischer Taschenbuch 2017

    ISBN: 978-3-96074-297-5 - Taschenbuch

    ISBN: 978-3-96074-298-2 - E-Book

    *

    Inhalt

    Davor

    Jella

    Anni

    Maya

    Lost Places

    Isa

    Neue Schule

    Traum

    Party

    Josh

    Ausflug

    Wald

    Beobachter

    Lost Place

    Beobachter

    Rätsel

    Liebe

    Verlust

    Misslungener Geburtstag

    Entdeckung

    Beobachter

    Gefahr

    Beobachter

    Verstehen

    Hinweise

    Suche

    Erinnerung

    Rettung

    Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

    Danach

    *

    Davor

    Die Wolken jagten am Mond vorbei und verdunkelten den Himmel. Die Landschaft, in ein nächtliches Dämmerlicht getaucht, wurde immer wieder stockfinster. Äste und Zweige raschelten im Wind. Irgendwo tief im Wald schrie ein Vogel, vielleicht ein Uhu auf Beutezug.

    Vier Menschen waren auf der mondbeschienen Ebene zu sehen. Ihre schwarzen Umrisse zeichneten sich scharf vor dem Hintergrund der hohen Tannen ab, die sich ein wenig im Wind bogen. Selbst im dämmerigen Licht konnte man die Heidepflanzen, die über die ganze Lichtung verteilt waren, leuchten sehen. Es war Oktober, sie würden noch ein wenig blühen und dann braun werden, den Winter unter einer dünnen Schneedecke überstehen und im nächsten Spätsommer erneut anfangen, ihre leuchtenden Farben zu zeigen.

    Die Person, die sich in den Büschen am Rande der Lichtung verbarg und die Szene beobachtete, atmete schwer, sie war gerannt. Aber es bestand keine Gefahr, dass sie entdeckt werden würde. Die anderen waren zu weit weg, und die Dunkelheit des dichten Waldes verschluckte alles.

    Die vier Umrisse standen wie in einer gestellten Szene genau in einem exakten Rechteck zueinander. Ihre Gesichter waren auf die Entfernung nicht zu erkennen, der Beobachter im Gebüsch verfluchte sich dafür, in der Eile des Aufbruches nicht an sein Fernglas gedacht zu haben, das er während seiner Streifzüge durch den Wald immer in seinem Rucksack bereithielt. Aber der Rucksack lag in der Ecke im Schuppen, dort, wo er ihn immer lagerte, und wartete auf den nächsten Einsatz. Der Beobachter kniff vor Anstrengung, etwas Genaueres zu erkennen, die Augen zusammen und starrte reglos auf die Szene.

    Nach einigen Minuten gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel und die Umrisse wurden schärfer. Die Person, die ihm zugewandt am anderen Ende der Lichtung stand, war eine Frau mit langen Haaren. Sie trug ein für diese Jahreszeit viel zu dünnes Kleid. Ihre Figur war zart, aus der Entfernung hätte man sie auch für ein Kind halten können. Aber der Beobachter wusste, sie war kein Kind mehr. Er hatte sie gesehen, schon oft hatte er sie beobachtet, und sie war an ihm vorbeigelaufen und hatte ihn nicht bemerkt. Wie sie ihn auch jetzt nicht bemerkten, keiner von ihnen. Die Frau hatte die Hände erhoben, als wolle sie sich größer machen. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht von ihm gesehen werden wollte, ihn rief, aber er verwarf den Gedanken. Für die anderen war er unsichtbar, nicht beachtenswert, uninteressant, immer schon. Niemand hatte ihn je beachtet, nicht einmal seine eigene Mutter, die schon gar nicht.

    Sein Vater gab ihm dagegen reichlich Aufmerksamkeit, in Form von Prügeln und Strafen, bis er am Boden lag und heulte und bettelte, dass der Vater aufhören solle. Es war besser, unsichtbar zu sein. Nicht daran denken, nur an jetzt und hier, an die vier auf der Lichtung, die er kannte, schon lange kannte, aber sie ihn nicht.

    Einmal war das Mädchen, denn das war sie fast noch, an ihm vorbeigegangen, ganz dicht, so dicht. Sie hatte nach Rosen und frischem Gras und etwas leicht Herbem, das er nicht kannte, gerochen und hatte gelächelt. Der Junge, denn auch er war noch kein ganzer Mann, auch wenn er sich sicher so fühlte und schon fast so aussah, hatte ihn kaum beachtet und sie mit sich fortgezogen. Der Beobachter hatte ihr nachgestarrt und alles in sich aufgenommen. Wie die Sonne ihr kupferfarbenes Haar zum Leuchten brachte, wie ihr Kleid sich im Wind aufbauschte und wie ihre Tasche lässig über die Schulter baumelte. Im Weitergehen hatte sie sich noch einmal umgedreht und gelächelt. Sie war wie eine Elfe oder eine Göttin, ein Wesen vom anderen Stern, unerreichbar für ihn.

    Von da an war er ständig bei ihr gewesen, in Gedanken, nachts vor ihrem Haus, wenn er zu ihrem Zimmer starrte, tagsüber im Verborgenen und sie beobachtend, wann immer es ging. Er war ihr Beschützer und ihr Schatten. Und sie wusste es nicht einmal. Seit er die Jungen kannte, war er ihr noch näher gekommen. Deswegen war er jetzt in dieser bewölkten Nacht hier in diesem Wald, wie immer am Rande des Geschehens, aber bei ihr. Die andere, mit den dunklen, lockigen Haaren, die immer lachte und aussah wie exotische Tänzerin, war diesmal nicht dabei.

    Plötzlich kam Bewegung in die Szene. Die Männer, der eine groß und schmal, der andere eher kräftig und klein, gingen aufeinander zu. Das Mädchen bewegte sich ebenfalls, sie wirkte aufgeregt und zog den großen Jungen am Arm. Fetzen von aufgebrachten Stimmen wurden vom Wind über die Ebene geweht. Eine kräftige Stimme schrie etwas, das Mädchen schien zu weinen. Zwei der Umrisse verschmolzen nun, schienen miteinander zu ringen, bewegten sich hin und her. Der Dritte stand ein wenig abseits und bewegte sich leicht hin und her, als sei er unschlüssig, ob er in die Szene eingreifen sollte oder nicht.

    Der Beobachter atmete aufgeregt, unsicher, was zu tun war. Er musste das Mädchen beschützen, aber wie? Er wusste nicht, was er tun sollte. Sein Puls raste.

    Plötzlich zerfetzte ein lauter, peitschender Knall die Stille des Waldes. Gleichzeitig sackte eine der Figuren aus dem Knäuel zusammen und ging zu Boden, und eine Stimme, unmenschlich, wie nicht von dieser Welt, schrie schrill und markerschütternd, schrie und schrie und schrie, als solle der Schrei nie wieder aufhören.

    Der Beobachter sprang auf, vergaß alle Vorsicht und rannte, rannte um sein Leben.

    *

    Jella

    Ich kann mich noch genau an die Zeit erinnern, diese Wochen, kurz bevor sich alles veränderte. Es war nicht mehr lange bis zu meinem 16. Geburtstag, den ich regelrecht herbeigesehnt hatte. Endlich 16 sein, das stellte ich mir einfach großartig vor. Das Beste daran wäre, nicht mehr 15 zu sein. Mit 15 wurde man von allen noch wie ein Kind behandelt, obwohl man sich selber gar nicht mehr so fühlte. Die Zehntklässler, zu denen ich gehörte, waren auf meiner Schule das beste Beispiel dafür. Von den Oberstufenschülern wurde man komplett ignoriert, was mir eigentlich entgegenkam, denn Aufmerksamkeit zu erregen, dazu noch unerwünschte, war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. Trotzdem konnte ich manchmal nicht verhindern, dass ich sie heimlich beobachtete, wenn sie in den Pausen zusammenstanden und lässig und unerreichbar auf mich wirkten.

    Zu einer dieser Gruppen gehörte Ben, den ich schon lange heimlich gut fand. Er war 17 und kein Angeber-Typ wie manche seiner Freunde. Einmal konnte ich ihn dabei beobachtet, wie er einem Jungen aus der 7., der auf dem Schulhof von drei anderen in eine Ecke gedrängt wurde, geholfen hat. Das war typisch für ihn, deswegen mochte ich ihn auch so gerne. Deswegen ... und weil er mit seinen wuscheligen blonden Haaren und den blauen Augen auch ziemlich gut aussah. Er kümmerte sich immer um alles. Im letzten Jahr hatte er einen Artikel über Flüchtlinge geschrieben, die an unsere Schule gingen, und sogar irgendeinen Nachwuchsjournalistenpreis dafür bekommen. Trotzdem war er nicht eingebildet, sondern richtig nett und meistens gut drauf. Leider bemerkten das außer mir noch viele andere. Ben war stets von einer Gruppe von Freunden, Mädchen, die kichernd um seine Aufmerksamkeit buhlten, und einigen Mitläufern, die sich im Glanz der angesagten Clique sonnen wollten, umringt.

    Zu ihnen gehörte auch Svea, die Tochter des größten Autohändlers im Ort. Sie war groß, hatte lange, in Wellen herabfallende schwarze Haare, die ihr fast bis auf die Hüften fielen, und ärgerlicherweise auch noch Grübchen in den Wangen beim Lächeln. Alle Jungs fanden sie toll, aber sie stand auf Ben. Das wusste jeder. Auch sie war schon 17 und hatte vorzeitig den Führerschein gemacht. Eigentlich durfte sie nur in Begleitung Erwachsener Auto fahren, aber ihr Vater erlaubte ihr, auf dem riesigen Gelände hinter seiner Firma mit ihrem Auto allein oder mit Freunden herumzufahren. Zu diesen Freunden gehörte auch Ben. Alle redeten darüber, wann die beiden zusammenkommen würden. Die meisten tippten auf die große Party, die Sveas Vater traditionell am 30. April zum Maitanz bei uns im Ort schmiss. Sein Autohaus sponsorte die Getränke und Sveas Bruder, der schon 22 war und studierte, spielte den DJ.

    Manchmal stellte ich mir vor, dass ich auch auf dieser Party sein würde. Ben würde erkennen, dass Svea nur eine hübsche Hülle war. Er würde mich zum ersten Mal bemerken. Und wir würden zusammen tanzen … So etwas hatte ich mir schon viele Male ausgemalt. Natürlich würde mich ein Junge wie Ben in der Wirklichkeit niemals bemerken.

    Ich war unauffällig. Das hatte ich jahrelang trainiert. Im Unauffälligsein war ich besonders gut. Schon immer war ich schüchtern gewesen. Es war mir ein Graus, im Mittelpunkt zu stehen. Immer war ich ein bisschen ungelenk gewesen und nicht so wie die anderen hübschen Mädchen mit ihren langen Haaren. Meine waren wellig, in einer undefinierbaren Mischung aus dunkelblond und braun, leider auch ziemlich fein und fielen nie glatt und hübsch über die Schultern. Stattdessen lagen sie meistens so, wie es ihnen passte. Mittlerweile trug ich sie halblang, was den Vorteil hatte, dass sie mir wie ein Vorhang ins Gesicht fielen und ich mich hinter ihnen unsichtbar machen konnte.

    Das machte meinen Dad, wenn er denn mal zu Hause war, immer wahnsinnig. Er blickte manchmal von seinem Laptop auf, an dem noch schnell die neusten Geschäftsberichte und die aktuellen Zahlen verglichen werden mussten, und sah mich an, als hätte er mich nie vorher bemerkt. Ohnehin schien er immer erstaunt, bei seinen seltenen Aufenthalten zu Hause auf mich zu treffen. Oft hatte ich das Gefühl, er vergaß zwischendurch auf seinen Geschäftsreisen und Meetings immer wieder, dass er ein Kind hatte – mich.

    Was er dann sah, schien ihm oft zu missfallen. Er fragte mich, warum ich meine Haare nicht ordentlich trug, und verstand nicht, weshalb ich wieder nicht zum Training in den elitären Hockey-Klub, den er für mich ausgesucht hatte, gegangen war. Dabei wusste jeder, der mich kannte, dass ich ein hoffnungsloser Fall beim Sport war. Ich kriegte einfach die erforderliche Koordination der Bewegungen, gepaart mit Schnelligkeit und Mut beim Spiel, nicht hin.

    Einmal hatte ich bei einem Spiel, zu dem mich mein Vater voller Begeisterung geschleppt hatte, gesehen, wie Emily, einem Mädchen aus der Parallelklasse, von einem Mädchen der gegnerischen Mannschaft so unglücklich mit deren Schläger im Gesicht getroffen wurde, dass ihr ein Schneidezahn ausgeschlagen wurde. Alles war voller Blut. Und mir wurde schlecht. Mein Vater bemerkte das gar nicht, sondern lobte Emily anerkennend dafür, dass sie noch ohne Zahn und mit blutverschmiertem Gesicht weiterspielen wollte. Bis ich ihm auf seine teuren, handgenähten Lederschuhe kotzte. Er sprach den ganzen Nachhauseweg kein Wort mit mir. Für mich war klar, dass mir bei meinem Glück nicht nur ein, sondern vermutlich alle Zähne ausgeschlagen werden würden, und so weigerte ich mich von da an, auch nur ein Spiel anzuschauen.

    Nach zahllosen gescheiterten Versuchen, mich zu einem Tennis-, Volleyball-, Ballett- und Reiterass zu formen, und den entsprechenden niederschmetternden Rückmeldungen der Trainerinnen, die allesamt meinten, dass mir sowohl das Talent als auch jeglicher Ehrgeiz fehlten und ich zudem keinerlei Kontakt zu den anderen Sportlerinnen aufnehmen würde, ließ Dad mich schließlich in Ruhe. Danach behandelte er mich mit dieser gewissen Mischung aus mildem Erstaunen, Desinteresse und immer auch latent vorhandener Enttäuschung, bei der ich mich sofort unbehaglich fühlte.

    Wenn ich wusste, dass mein Dad zu Hause war, ging ich ihm aus dem Weg. Was leicht war, da er sowieso die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer verbrachte. Gemeinsame Abendessen oder Ausflüge am Wochenende, wie wir sie gelegentlich gemacht hatten, als ich noch klein war, gab es schon lange nicht mehr.

    Als kleines Kind hatte ich es geliebt, wenn meine Eltern am Wochenende mit mir an die Ostsee gefahren waren, die nur etwa zwei Stunden Fahrtzeit entfernt war. Im Auto durfte ich Hörspiele hören und Reiswaffeln essen und am Strand buddelte ich und hüpfte bei warmem Wetter in die Wellen, obwohl ich noch nicht richtig schwimmen konnte. Ich liebte das Wasser einfach schon immer. Mein Dad lachte und feuerte mich an, meine Mutter stand mit halb skeptischem, halb belustigtem Blick an der Wasserkante und hielt ein Handtuch für mich bereit. Wenn ich dann eingekuschelt in meinem blauen Bademantel mit den weißen Punkten zwischen ihnen im Strandkorb saß, diskutierten sie scherzhaft darüber, von wem ich diesen Spaß am Wasser und die Abenteuerlust im Meer geerbt hätte. Immer gewann mein Vater die Diskussion, der behauptete, er sei als Kind genauso gewesen, nur habe er sich schon mit fünf Jahren das Schwimmen selbst beigebracht, bis ich schrie: „Ich hab alles nur von mir selbst geerbt, und wenn ich groß bin, segele ich mit Pippi Langstrumpf nach Taka-Tuka-Land!"

    Pippi war meine Heldin. Meine Mutter hatte mir alle Geschichten immer und immer wieder vorlesen müssen. Gerade weil ich eher der schüchternen, braven Annika glich, liebte ich die wilde, freche, mutige Pippi umso mehr.

    Mit meiner Mutter war es anders als mit meinem Dad. Schon als kleines Kind hatte ich gelernt, viel Rücksicht auf sie zu nehmen. An manchen Tagen kümmerte sie sich hingebungsvoll um mich. Dann machten wir alles, was ich wollte. Wir backten Kuchen nach verrückten Rezepten, die ich mir selber ausdachte, und verwandelten die Küche in ein Schlachtfeld. Wir lachten und lachten, bis uns die Luft wegblieb. Oder wir verkleideten uns mit Mamas alten Hippieklamotten, die ganz hinten im Kleiderschrank hingen, und gingen so spazieren. Wenn uns dabei jemand begegnete und schief ansah, streckte ich ihm die Zunge heraus, und Mama lachte.

    An solchen Tagen durfte ich so lange aufbleiben, wie ich wollte und abends vor dem Fernseher Eis essen, bis mir der Bauch wehtat. Ich liebte diese Tage. Sie kamen über mich wie ein unerwarteter Regenbogen nach einem langen Regen. Am nächsten Morgen wachte ich meistens hin- und hergerissen zwischen freudiger Erwartung, was ich mit meiner wunderbaren Mama heute wieder erleben durfte, und unruhiger Aufmerksamkeit, welche von den beiden Mamas, die ich kannte, mir heute begegnen würde.

    Denn auf die Sonnentage folgten die Regentage. Düstere, schwere Tage. Meine Mutter war wie ausgewechselt und schien mich kaum wahrzunehmen. Oft stand sie an solchen Tagen gar nicht erst aus dem Bett auf. Die dunklen Samtvorhänge, die schon meine Urgroßmutter vor ihren Fenstern hängen und die sie an meine Mutter vererbt hatte, wie auch das große alte Haus, in dem wir lebten, blieben zugezogen und ließen alles im Dämmerlicht. Mama schlief dann

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1