Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wölfe: Die Reporterin in Engelburg
Wölfe: Die Reporterin in Engelburg
Wölfe: Die Reporterin in Engelburg
eBook288 Seiten3 Stunden

Wölfe: Die Reporterin in Engelburg

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Das Leben der Basler Reporterin Selma gerät bei einer Fotoreportage in Engelberg gehörig aus den Fugen. Dabei wollte sie doch nur den Auftrag ihres Chefs erfüllen und tolle Fotos von einer Gruppe Freeridern machen. Bald schon verstrickt sie sich in mehrere Geschichten, muss aus einer Gletscherspalte gerettet werden und schaut in den Lauf eines Gewehrs. Während ein Stalker gesucht wird, schafft sie das Unglaubliche: Sie kommt wilden Wölfen ungewöhnlich nahe. Nebst der Dramatik kommen auch Gefühle nicht zu kurz: Selma Legrand-Hedlund erfährt, dass sie noch eine Halbschwester oder einen Halbruder hat, und sie hegt Gefühle für mehr als nur einen Mann. Autor Philipp Probst knüpft mit dem zweiten Buch seiner Romanserie an den im Frühjahr erfolgreich lancierten "Alpsegen" an. Das turbulente Leben von Selma geht weiter, und sie sorgt für Spannung und Leidenschaft.
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum7. Sept. 2020
ISBN9783858302779
Wölfe: Die Reporterin in Engelburg

Mehr von Philipp Probst lesen

Ähnlich wie Wölfe

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Wölfe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wölfe - Philipp Probst

    allein.

    1

    Leas Coiffeursalon war voll mit elegant gekleideten Leuten. Die meisten Damen trugen Röcke oder stilvolle Hosenkleider, die Herren schwarze oder graue Anzüge. Nur einer fiel ein bisschen aus dem Rahmen: Jonas Haberer. Auch er trug zwar einen dunklen Anzug, dazu aber rote Cowboyboots und einen schwarzen Westernhut, verziert mit einem roten Seidenband. Er betrachtete ein Bild nach dem anderen. Lange und sehr genau. Wenn er sich bewegte, dann nur langsam und leise. Jonas Haberer trat nicht mit den Absätzen aufs Parkett und erzeugte für einmal kein lautes Klack–klack–klack, sondern er ging auf Zehenspitzen.

    Lea, Elin und Marcel servierten Sekt, vegetarische Häppchen und gegrilltes Gemüse. Die Gäste standen in Grüppchen, diskutierten über die Bilder, nippten an ihren Gläsern und versuchten, die kleinen Sandwiches und Blätterteigtörtchen möglichst anständig und ohne zu kleckern in ihre Münder zu schieben.

    Charlotte trug ein enges, kurzes, schwarzes Etuikleid, kniehohe Stiefel mit hohen Absätzen und sass auf einem Frisierstuhl. Sie beobachtete die Szenerie mit einem Lächeln.

    Und dann war es so weit: Selma betrat den zur Galerie umfunktionierten Coiffeursalon. Charlotte stand auf, fasste ein Sektglas und schlug mit einem Löffel sachte dagegen. Laut sagte sie: «Eh, voilà, hier ist die Künstlerin. Meine Tochter Selma Legrand-Hedlund!»

    Die Gäste drehten sich zu Selma um und applaudierten. Selma winkte kurz, fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare, lächelte, trat von einem Bein aufs andere und spielte an ihren Silberringen herum.

    «Messieurs dames», sagte Charlotte. «Oder wie wir Schweden sagen: Hei!» Die Leute lachten kurz. «Es ist mir eine Ehre, Sie zu dieser Vernissage begrüssen zu dürfen. Es ist die allererste Vernissage dieser wundervollen Künstlerin. Und ich sage Ihnen, es war ein langer Weg bis zu dieser Ausstellung. Kunst soll und darf sich nicht verstecken, aber bringen Sie dies einer wahren Künstlerin bei!» Ein kurzes Raunen ging durch die Reihen. «Es brauchte nicht nur die liebevollen Worte von Selmas Schwester Elin, nicht nur viele Diskussionen und noch mehr Frisuren ihrer Freundin Lea und nicht nur die psychologische Beratung ihres Freundes Marcel. Nein, es brauchte ein – wie soll ich sagen – deutliches Wort ihres journalistischen Ziehvaters, der …»

    «Es brauchte einen Tritt in den Arsch!», warf Jonas Haberer in breitestem Berner Dialekt ein. Die Leute lachten.

    «Oder so», meinte Charlotte und lächelte angestrengt. «Und schliesslich brauchte es noch die Tatkraft ihrer Mama, die Sache zu organisieren und die Künstlerin vor ein fait accompli, vor vollendete Tatsachen, zu stellen.»

    Die Leute lachten erneut und klatschten.

    «Meine Damen und Herren», fuhr Charlotte fort. «Ich habe mich entschieden, nur einen kleinen Teil von Selma Legrand-Hedlunds Schaffen auszustellen. Es handelt sich um Bilder, die Selma während weniger Wochen im vergangenen Sommer gemalt hat. Die Künstlerin ist dabei zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Ihre früheren Bilder zeigten realistisch dargestellte Landschaften, später kamen abstrakte Landschaften hinzu, gefolgt von einer sehr düsteren, schwarzen Phase. Doch die Farben kehrten zurück. Der Grund dafür war ein prägendes Ereignis auf einer Alp im märchenhaften Saanenland. Und hier sehen Sie das Resultat: mystische, fantasievolle Bilder, die eine ungeheure Lebenskraft ausdrücken.»

    Charlotte legte eine kurze Pause ein und trank einen Schluck Wasser aus einem Glas, das ihr Lea reichte. «Die Werke zeugen von einem grossen handwerklichen Können und einem noch grösseren Talent. Aber lassen wir das hochgestochene Geschwätz: Überzeugen Sie sich selbst. Vielen Dank.»

    Nach einem weiteren Applaus rief Selma: «Danke, Mama! Ihr wisst ja, einer Kunsthistorikerin, die einen grossen Teil ihres Lebens in verstaubten Archiven verbracht hat, darf man nicht alles glauben.» Sie blickte in die Runde, lächelte und sagte: «Danke, dass Ihr alle gekommen seid. Ich freue mich sehr über diese Vernissage!»

    Die meisten Leute kannte sie. Es waren Freunde und Bekannte, viele Frauen ihrer Fasnachtsclique waren da, auch einige Journalisten und Fotografen, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatte.

    Selma bewegte sich in ihrem kurzen, blauen Designerkleid und den hohen schwarzen Pumps elegant und sicher. Dass sie genau dieses Kleid und diese Schuhe an ihrer Vernissage tragen würde, wie es ihre Mutter gesagt hatte, als sie Selma die edlen Stücke schenkte, war also wahr geworden. Und ja, es stimmte: Sie hatte sich lange gegen diese Ausstellung gesträubt und deshalb den «Tritt» ihres ehemaligen Chefs und jetzigen Auftraggebers für ihre Reportagen gebraucht. Selma ging zu ihm: «Danke, Jonas, du elender Kotzbrocken!»

    «Ach, Selmeli», meinte Jonas Haberer. «Ich weiss doch, was für dich gut ist.» Er deutete auf seinen Hut. «Hast du schon bemerkt, dass ich einen roten Seidenbändel an meinem Hut trage? Extra für meinen Besuch bei dir im Haus ‹Zem Syydebändel›.»

    «Du bist süss», sagte Selma entzückt.

    «Oh», machte Haberer, «du bringst mich in Verlegenheit, Selmeli.»

    «Nenn mich nicht Selmeli, Habilein!»

    Die beiden lachten. Dann wurde Selma von einem ihr unbekannten Mann, der etwa gleich alt war, angestupst und gefragt, ob er ihr einige Fragen stellen und ein Foto machen dürfe. Er stellte sich als Kulturjournalist vor und sagte, er würde sehr gerne einen kurzen Bericht über sie schreiben. Selma wollte gerade verneinen, als Marcel angerauscht kam.

    «Wunderbar», mischte sich Marcel ein. «Das machen wir sehr gerne!»

    «Sind Sie Frau Legrand-Hedlunds Kunstagent?»

    «Nein, nein, ich bin bloss ihr bester Freund. Und wie Sie schon in der Ansprache von Selmas Mutter erfahren haben: Die Künstlerin ziert sich ein bisschen.»

    Selma gab Marcel einen Stoss in die Rippen.

    «Machen wir doch zuerst das Foto», schlug Marcel vor.

    Der Journalist dirigierte Selma vor das grösste Alpgemälde und bat um ein Lächeln.

    Doch Selma lächelte nicht.

    «Bitte, Selma», forderte Marcel sie auf.

    «Nein, ich will nicht lächeln, das weisst du.»

    Marcel wandte sich dem Journalisten zu und flüsterte ihm ins Ohr: «Sie bekommt so ein kleines Grübchen in der rechten Wange, wenn sie lächelt. Alle finden das süss. Nur sie nicht.»

    Der Journalist drückte einige Male auf den Auslöser. Selma blickte steif in die Kamera.

    «Meine Güte, Selma!», schimpfte Marcel. «Du bist selbst Fotografin. Also solltest du wissen, worauf es bei einem guten Bild ankommt!»

    «Ist ja gut», murrte Selma, fuhr mit ihren Händen durch ihre langen Haare, schüttelte sie und rief dann genervt nach Lea. Diese eilte mit einem Kamm herbei und frisierte Selma.

    «Du schaffst das, Selma», sprach ihr Lea Mut zu.

    «Ja, du schaffst das, Liebste», wiederholte Marcel.

    «Ihr seid doof», kommentierte Selma und warf sich nun gekonnt in Pose. Süsses Lächeln inklusive Grübchen, verführerischer Blick, ein Auge durch eine Haarsträhne verdeckt.

    «Danke», sagte der Journalist und bat Selma, nun einige Fragen zu beantworten. Selma merkte schnell, dass der Typ nicht bloss ein Lokaljournalist war, der von seiner Chefin oder seinem Chef zu einer langweiligen Vernissage verknurrt worden war. Der Mann schien etwas von Kunst zu verstehen. Zumindest machte er diesen Eindruck, in dem er Selmas Bilder mit anderen Künstlern verglich und fragte, ob sie sich von diesen Malern habe beeinflussen lassen.

    «Nein. Ich habe schon immer gemalt, habe meinen eigenen Stil verfolgt. Dann studierte ich Fotografie, was mich ebenfalls geprägt hat.»

    «Aber sie wuchsen in einem künstlerischen Umfeld auf?»

    «Wie meinen Sie das?»

    «Ihre Mutter ist eine bekannte Kunsthistorikerin.»

    «Sie kennen meine Mama?»

    «Flüchtig. Ich arbeitete während des Studiums im Kunstmuseum.»

    «Aha», machte Selma, schaute um sich und suchte ihre Mutter. Diese schien aber in ein Gespräch vertieft zu sein. «Meine Mutter versteht tatsächlich etwas von Kunst. Was man von mir nicht unbedingt behaupten kann.»

    «Sie sind schliesslich keine Kunstkritikerin, Sie sind eine wundervolle Künstlerin.»

    Selma fühlte sich geschmeichelt, zweifelte aber daran, dass das Kompliment echt war. «Na ja … ich male einfach. Und wie Sie gehört haben, wollte meine Mutter unbedingt diese Ausstellung.»

    «Zum Glück. Ich nehme an, das künstlerische Talent haben Sie von Ihrer Mutter. Malt sie auch?»

    Selma spürte einen dumpfen Schlag in der Magengegend, ihr wurde schwindelig. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und konnte sich nur mit Mühe auf ihren hohen Absätzen halten.

    «Frau Legrand-Hedlund, alles in Ordnung?»

    «Ja … ich brauche … einen Schluck Wasser …»

    Der Journalist ging schnell zu Lea und bat um ein Glas Wasser. Als er zurückkam, war Selma verschwunden.

    Kurz darauf wollten sich die ersten Gäste bei der Künstlerin verabschieden. Lea, Marcel und Elin begannen, Selma zu suchen. Aber Selma war weg.

    2

    Sie war weder draussen vor dem Haus «Zem Syydebändel» noch im kleinen Park beim Totentanz auf der anderen Strassenseite. Sie war auch nicht in ihrer Wohnung im dritten Stock, nicht in ihrem Atelier und auch nicht auf der kleinen Dachterrasse.

    «Lasst mich kurz allein», bat Elin im Treppenhaus Selmas engste Freunde Lea und Marcel. «Ich habe so eine Ahnung.»

    «Okay, dann räumen wir unten mal langsam auf», meinte Lea.

    Elin wartete, bis die beiden verschwunden waren, ging dann vom dritten in den zweiten Stock und klopfte vorsichtig an die Wohnungstüre: «Selma?»

    Sie bekam keine Antwort.

    Elin war sich sicher, dass Selma drinnen war. Jahrelang war diese Wohnung im zweiten Stock für Selma und Elin tabu gewesen. Jahrelang hatte nur ihre Mutter Charlotte, die im ersten Stock des Hauses wohnte, diese Räume betreten. Den Schlüssel dazu hatte sie im Wandtresor hinter dem Gemälde des abgesetzten schwedischen Königs Gustav IV Adolf aufbewahrt. Selma und Elin hatten immer geglaubt, dass ihre Mutter diese Wohnung nur deshalb nicht freigab, weil hier sowohl Charlottes Ehemann Dominic-Michel Legrand wie auch ihr Vater Hjalmar Hedlund verstorben waren. Aber dann hatte Elin das Amulett mit dem Foto eines fremden Mannes in Charlottes Schlafzimmer gefunden und begann, Fragen zu stellen. Charlotte geriet unter Druck. Und hatte kurz darauf Selma in diese Wohnung im zweiten Stock geführt und ihr die Gemälde des schwedischen Malers Arvid Bengt Ivarsson gezeigt. Arvid Bengt Ivarsson war der Mann, dessen Foto in Charlottes Amulett war. Das Geheimnis war gelüftet. Und das Lügengebilde Charlotte Legrand-Hedlunds brach zusammen.

    Elin klopfte erneut. «Selma, ich weiss, dass du da drin bist.»

    Keine Antwort.

    «Schwesterherz, ich komme jetzt herein.»

    Elin öffnete langsam die Wohnungstür und sah im fahlen Licht der Strassenlaternen, das durchs Fenster schien, Selma auf einem der mit Leintüchern abgedeckten Sessel sitzen. Sie hatte die Pumps ausgezogen und hielt ihre Beine mit den Händen fest.

    Selma funkelte Elin giftig an: «Nenn mich nicht Schwesterherz!»

    Elin ging zu ihr und umarmte sie. «Wie soll ich dich denn sonst nennen? Halbschwesterherz? So ein Blödsinn. Du bist und bleibst meine Schwester!»

    «Ich bin keine Legrand», fauchte Selma.

    «Natürlich bist du das. Unsere Mutter hatte eine Affäre mit diesem Arvid Bengt Ivarsson, na und? Da waren sie und Papa noch kein richtiges Paar. Sie hatten sich gekannt, ja, vielleicht auch geliebt – ach, das spielt doch jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist, dass unsere Mutter ihrem zukünftigen Ehemann alles gebeichtet hat. Und vor allem, dass er sie trotzdem und obwohl sie schwanger war, geheiratet und dich wie seine leibliche Tochter angenommen hat.»

    «Angenommen?» Selma stand auf, ging ans Fenster und starrte zum Totentanz hinaus. Die farbigen Herbstblätter an den Bäumen im kleinen Stadtpark tanzten im leichten Wind. Blies der Wind kräftiger, lösten sich viele Blätter von den Ästen und schwebten zu Boden. «Angenommen?», wiederholte Selma giftig. «Was für einen Mist redest du?» Selma drehte sich um, nahm die alten Familienfotos der Legrands und der Hedlunds vom Regal und streckte sie Elin entgegen. «Alles Lug und Trug, Elin», schimpfte Selma und warf die Fotos auf den Boden. Die Glasscheiben zersplitterten. «Dem feinen Söhnchen aus der noblen Bankiersfamilie Legrand war wohl nichts anderes übriggeblieben. Das war doch alles ein abgekartetes Spiel: Monsieur Dominic-Michel Legrand aus der Basler Hautevolee, dem Daig, heiratete die Tochter des angesehenen schwedischen Professors Hjalmar Hedlund! Ich bitte dich, Elin. Da wurde ein Bastard wie ich nicht geduldet.»

    «Selma!», rief Elin erschrocken. «Du bist kein …»

    «Natürlich bin ich das!»

    «Vater hat dich geliebt.»

    «Er ist nicht mein Vater. Er ist nicht mein Vater.» Selma liess sich auf die Knie fallen, vergrub ihren Kopf in den Händen und schluchzte.

    «Selma, du darfst das nicht so sehen. Wirklich nicht. Mein Vater ist auch dein Vater. Du hast jetzt eben zwei Väter. Vielleicht suchst du ihn …»

    «Ich werde ihn nicht suchen, verdammt nochmal!», wetterte Selma zwischen ihren Heulkrämpfen. «Der Idiot interessiert mich nicht. Und das künstlerische Talent habe ich sicher nicht von ihm! Warum hat Mutter überhaupt all diese Bilder? Ach, was soll’s! Es ist mir völlig egal!»

    Elin versuchte, Selma zu trösten: «Lass es raus, lass es endlich raus!» Doch Selma weinte und weinte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte Elin leise: «Wenigstens redest du wieder darüber. Seit dich Mama in diese Wohnung geführt hat, habt ihr ein Mal zusammen geredet. Und ein Mal noch mit mir. Dann wolltest du nicht mehr darüber sprechen. Dabei beschäftigt mich das alles sehr. Ja, auch ich leide darunter. Weil ich dich liebe. Und weil ich meine Familie liebe. Aber du wolltest nie erfahren, was …» Elin brachte den Satz nicht zu Ende. Sie war aufgewühlt, wollte nichts Falsches sagen, vor allem keine Vorwürfe machen.

    Selma blickte auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte resolut: «Ich will auch jetzt nicht darüber sprechen. Ich will feiern. Gib mir fünf Minuten. Dann komm ich hinunter, und wir ziehen um die Häuser. Wer noch da ist, soll mitkommen!»

    Selma stieg in ihre Wohnung in den dritten Stock, um sich frisch zu machen und um ihren Mantel zu holen. Als sie in den Coiffeursalon zurückkam, waren nur noch Lea, deren Freund Georg, Elin, Marcel, ihre Mutter und Jonas Haberer anwesend.

    «Selmeli, ist alles in Ordnung mit dir?», wollte Charlotte wissen.

    «Alles bestens», sagte Selma, «habe ich rote Augen?»

    «Ganz leicht. Hast du geweint?»

    «Ein bisschen, vor Rührung», log Selma. «Kommst du mit?»

    «Mit? Wohin?», fragte Charlotte.

    «Feiern!»

    «Wir sind dabei», sagte Jonas und legte seinen Arm um Charlotte. Diese schaute ihn ziemlich verdutzt an. «Keine Widerrede, Charlotte», sagte Jonas. «Wir zeigen jetzt dem jungen Gemüse, wie man richtig feiert.»

    Mit seinen schweren Schritten und seinen roten Boots liess Jonas Haberer die Mittlere Rheinbrücke erzittern. Klack – klack – klack. Zielstrebig und als klarer Leader der kleinen Vernissagetruppe steuerte er im Kleinbasel die erste Kneipe an und bestellte vier Glas Sekt und fünf Bier.

    «Warum fünf Bier?», wollte Lea wissen. «Ihr seid nur drei Männer.»

    «Wirst du gleich sehen, Süsse», meinte Haberer und lachte laut. So laut, dass alle anderen Gäste zu ihm schauten. Als die Bestellung serviert wurde, leerte Jonas Haberer das erste Bierglas in einem Zug. Das zweite ebenso. Dann ergriff er das dritte und prostete allen anderen zu: «Hatte ich vielleicht einen Durst, goppeloni!» Das «Goppeloni» versuchte er in Baseldeutsch auszusprechen, was ihm als Berner nicht wirklich gelang. «Ein Kumpel aus Basel sagt das immer, goppeloni, ein Kriminalkommissar, ein Kommissär, wie man hier sagt.» Wieder lachte er laut heraus. Dann hustete er ebenso laut und sagte: «Schluss damit! Wir trinken auf unsere fantastische Künstlerin, Selma Legrand-Hedlund genannt Selmeli!»

    «Haberer», fauchte Selma, lächelte ihn daraufhin aber charmant an.

    «Ich darf Selmeli sagen», meinte Haberer. «Ich und deine Mama.»

    Während alle anderen an ihren Gläsern nippten, leerte Haberer auch das dritte Bier in einem Zug. Und bestellte sich ein viertes.

    Er nahm Selma am Arm und sagte: «Deine Bilder sind okay. Aber du bleibst Reporterin, klar?»

    «Meine Kunst ist brotlos …»

    «Zum Glück. Und noch was, bevor ich betrunken bin: Ich habe einen neuen Job für dich.»

    «Oh! Was denn?»

    «Habe ich vergessen. Erzähle ich dir morgen beim Frühstück.»

    «Frühstück?»

    «Prost, Selmeli!»

    Nach dem Besuch des ersten Lokals verabschiedete sich Selmas Schwester Elin. Nach dem zweiten Lokal Lea. Ihr Partner Georg war bereits zünftig in Schuss, hatte einen Narren an Selma und Jonas Haberer gefressen und wollte unbedingt noch weiterziehen. Das machte Lea ziemlich sauer. Marcel rettete die Situation, in dem er anbot, Lea ein Stück weit zu begleiten.

    «Bringst du sie nach Hause, bitte?», fragte Selma.

    «Klar.» Marcel gab Selma drei Küsschen. «Pass auf dich auf, Liebste.»

    «Pass auf dich auf, Liebster», sagte auch Selma und drückte ihn an sich – was definitiv nicht zu ihrem «Liebste und Liebster»-Ritual gehörte.

    «Können wir endlich weiter?!», brüllte Haberer, legte den Arm um Selmas Mutter und steuerte nun im Basler Rotlichtmilieu eine ziemlich düstere Spelunke an. Die Bar war heruntergekommen, der rote Samt an den Wänden schmutzig, die roten Lampen staubig.

    Haberer bestellte wiederum Sekt für die Damen und Bier für die Herren. Selma spürte mittlerweile den Alkohol, und ihre Füsse in den hohen Schuhen schmerzten. Sie setzte sich an die Bar. Rechts neben ihr nahmen Jonas und Charlotte Platz, links Georg.

    Bald spürte sie eine Hand an ihrer Hüfte.

    Es war Georgs Hand. «Weisst du eigentlich, dass du umwerfend sexy bist?», sagte er leicht lallend. «Das wollte ich schon lange einmal sagen.»

    Selma stand auf und lächelte die Anmache weg. «Ich glaube, ich sollte nach Hause.» Sie wandte sich zu Charlotte, die mit Haberer eifrig diskutierte: «Mama, was meinst du? Gehen wir?»

    «Ich bin in besten Händen, Liebes», sagte Charlotte und lächelte Jonas Haberer an. «Wir reden über Kunst.»

    «Über Kunst … aha.» Selma war erstaunt. Haberer und Kunst – diese Kombination war ihr gänzlich unbekannt. Und sie konnte sie sich auch nur schwer vorstellen.

    Georg hielt plötzlich Selmas Arm fest und sagte: «Du bist doch auch in besten Händen, Selmeli.» Er griff mit der anderen Hand an Selmas Po.

    Selma zog ihren Arm weg, warf Georg einen stechenden Blick zu und sagte zu Haberer: «Wir gehen!»

    «Wir gehen?»

    «Wir gehen!» Selmas Augen funkelten.

    Haberer verstand: «Muss ich wegen einem Grapscher meinen Goppeloni-Polizisten-Kumpel rufen?» Haberer holte demonstrativ sein Handy hervor.

    Georg schaute ihn verdattert an.

    Haberer zahlte und führte die beiden Damen aus dem Lokal. Als Georg ihnen folgen wollte, sagte Haberer: «Bestell dir ein Taxi!»

    Klack – klack – klack. Haberer übertönte mit seinen Boots das spitze Klacken von Selmas und Charlottes hohen Absätzen. Mutter und Tochter hatten sich bei ihm eingehängt.

    «Das war widerlich!», echauffierte sich Selma, als sie durch die menschenleere Stadt gingen. «Ich wusste nicht, wie schrecklich Leas Partner ist, furchtbar.»

    «Hast du wirklich einen Freund im Kommissariat, Jonas?», fragte Charlotte.

    «Na ja, in meinem früheren Leben als richtiger Reporter, als Boulevard-Ratte. Lange her. Da habe ich noch in der Gosse recherchiert. Heute besuche ich Vernissagen! Verdammt, was ist bloss aus mir geworden?!» Er lachte. Er lachte laut. Sein Lachen hallte durch die Gassen. Dann räusperte er sich und sagte: «Ich habe Hunger. Gibt es noch einen mitternächtlichen Schwedenschmaus?»

    «Oh, Gott, nein!», rief Selma.

    «Hering habe ich immer im Haus», sagte Charlotte. «Und Schnaps ebenso!»

    3

    «Skål!» Immer wieder «Skål!»

    Charlotte Legrand-Hedlund, die Kunsthistorikerin und Dame aus besserer Gesellschaft, sowie Jonas Haberer, der rüpelhafte Ex-Chefredaktor und jetzige Medienunternehmer, prosteten sich nach jedem Hering mit einem Gläschen Aquavit zu. Als die Flasche leer war, Haberer aber noch nicht genug hatte, holte Charlotte eine fast volle Flasche Absolut, schwedischen Wodka.

    «Skål!»

    Selma konnte es kaum fassen, dass ihre Mutter überhaupt noch stehen konnte. Sie hatte sicher die meisten Sekt- und Schnapsgläser irgendwo ausgeleert. Und stattdessen viel Wasser getrunken. Jedenfalls nippte Charlotte immer wieder an einer

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1