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Kritik der digitalen Vernunft: Warum Humanität der Maßstab sein muss
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eBook499 Seiten5 Stunden

Kritik der digitalen Vernunft: Warum Humanität der Maßstab sein muss

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Über dieses E-Book

Digitale Transformation ist mehr als eine technologische Innovation. Sie hat gewaltige soziale, politische und kulturelle Auswirkungen. Was bedeuten diese Veränderungen für uns Menschen und für unsere Zukunft? Was bedeutet digitale Identität? Gibt es so etwas wie eine Maschinenwürde oder gar eine digitale Religion? Welche Herausforderungen bieten digitale Arbeit und Politik? Und wie sollen wir ethisch mit der digitalen Welt umgehen?
In seinem Buch zeigt Ulrich Hemel, dass eine Frage im Zentrum stehen muss: Fördert oder hemmt ein Werkzeug der digitalen Welt Menschlichkeit? Dieses Prinzip angewandter digitaler Humanität ist der Leitstern, dem wir in der digitalen Transformation folgen sollten. Denn die Verantwortung für unsere Zukunft liegt bei uns Menschen selbst.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum14. Sept. 2020
ISBN9783451819773
Kritik der digitalen Vernunft: Warum Humanität der Maßstab sein muss

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    Buchvorschau

    Kritik der digitalen Vernunft - Ulrich Hemel

    1. Philosophische Grundfragen der Digitalität

    Die digitale Transformation durchzieht mittlerweile alle Lebensbereiche. Von der Produktion bis zur Logistik, vom Handel bis zu Dienstleistung, den Beruf ebenso wie den Alltag: Wir leben vernetzt und hängen von digitalen Strukturen in einem Ausmaß ab, das wir uns vor wenigen Jahren nicht hätten träumen lassen.

    Das Eindringen des Digitalen in die Lebenswelt

    Mein Großvater, geboren 1896, Volksschullehrer im hessischen Bürstadt, liebte Reisen. Abgesehen von wenigen Fernreisen hatte er dabei einen Radius von etwa 100 km. Er nutzte öffentliche Verkehrsmittel und das Fahrrad. Autofahren lernte er nie. Fotografieren auch nicht. Aber er malte mit Aquarellfarben, und zwar Städte und Landschaften, vom nahen Rhein bis zu den Pyramiden in Ägypten. Mit der digitalen Welt hatte er nichts zu tun.

    Mein Vater, geboren 1927, nutzt das Telefon und fuhr zeitlebens Auto. An der digitalen Welt will er nicht teilhaben. Dadurch ist er nicht Mitglied der familieninternen WhatsApp-Gruppe. Wobei durchaus darüber diskutiert wird, dass die Datenschutzbestimmungen von WhatsApp unseren Ansprüchen nicht genügen. Achselzuckend stellen die teilnehmenden Familienmitglieder allerdings fest, dass der praktische Nutzen überwiegt. Zu den kleinen Widersprüchen der digitalen Welt gehört es also, dass wir die familieninterne Kommunikation in dieser WhatsApp-Gruppe über unsere Datenschutzbedenken stellen.

    Ich bin 1956 geboren und ein typischer „Digital Immigrant". Mit diesem in der jüngeren Generation schon gar nicht mehr gebräuchlichen Begriff bezeichnete man Angehörige der Übergangsgeneration zwischen analoger und digitaler Welt. Immerhin gibt es das Internet erst seit 1991. Als ich 1988 gemeinsam mit meinem Freund Hans-Ferdinand Angel die Firma „EcclesiaData GmbH" gründete, weil ich an das Zukunftspotenzial des PC auch im Bereich kirchlicher Organisationen glaubte, kamen wir zu früh und wichen auf andere Zielgruppen aus.

    Zu den Widersprüchen digitaler Immigrants gehört es bisweilen, dass sie zwischen analoger und digitaler Welt hin und her wechseln. Das geht auch mir so und gehört zur typischen Lebenslage meiner Alterskohorte. Eines Morgens vor fünf Jahren war mein jüngerer Sohn Daniel (geboren 1991) zu Besuch. Wir entschieden beim Frühstück, dass wir ins Kino gehen wollten. Ich zückte die gedruckte Tageszeitung, er sein Smartphone. Die Information über das Kinoprogramm war die gleiche, die Geschwindigkeit auch.

    Mein Enkelsohn Justus, geboren 2013, hat im Alter von 7 Jahren noch kein Handy. Manchmal tippt er Nachrichten auf dem Smartphone meines Sohnes, also seines 1983 geborenen Vaters Stefan. Justus ist in eine digital geprägte Welt hineingeboren, aber seine Eltern achten darauf, dass er in seiner frühen Kindheit durch Primärerfahrungen geprägt wird, nicht durch deren Abbildung auf einem Bildschirm. Er weiß also aus erster Hand, wie ein Wald riecht und wie Schmetterlinge fliegen.

    Andererseits durfte ich 2018 eine sehr neue und moderne Kindertagesstätte mit einem wunderschönen Ausblick in einen Park besuchen und fragte das Personal nach den Auswirkungen der digitalen Revolution. Eine Erzieherin erklärte mir: „Draußen war ein Eichhörnchen zu sehen. Ein Vierjähriger ging zum Fenster und machte eine Wischbewegung zur Bildvergrößerung. Er war erstaunt, dass das nicht klappte."

    Diese Generationenerzählung soll zeigen: Die Welt hat sich radikal verändert, und sie wird sich weiter verändern. Aber was bedeutet dies für den einzelnen Menschen in der Generationenfolge einer Familie? Was bedeutet es für die Arbeitswelt? Was für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt? Und wie sieht es aus, wenn wir die Welt als ganze betrachten?

    Vieles spricht dafür, dass wir immer noch am Anfang stehen. Die Veränderung wird weitergehen, nach allen Vorzeichen rasanter und schneller, als wir es uns vorstellen können. Das geht bis zu unserem Selbstverständnis: Menschen haben die neue Aufgabe, sich nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Künstlicher Intelligenz (KI) oder „Artificial Intelligence" (AI) abzugrenzen.

    Digitale Verunsicherung und digitaler Konformitätsdruck

    Die Frage nach der „Vernunft" des Digitalen ist nicht nur rhetorisch so gestellt. Sie verweist auf ein zugrunde liegendes Gefühl tiefer Verunsicherung: Wer sind wir Menschen, wenn Maschinen uns womöglich überflüssig machen?

    Wie gehen wir mit dem Trend zu immer größerer Konformität um, den man „Digital Mainstreaming" nennen kann? Wie können wir frei leben, wenn wir stets und ständig überwacht werden, etwa über unsere Bewegungsdaten und Bewegungsprofile, unsere Suchabfragen, unser Zahlungsverhalten, unseren digitalen Konsum? Immerhin wird schon die Abschaffung des Bargelds diskutiert, und zwar mit dem Argument der Verhinderung von Geldwäsche. So als ob jede Zahlung mit Bargeld unter den Schatten des Verdachts fiele!

    Das kleine Beispiel „Abschaffung von Bargeld" zeigt auf, wie massiv sich die digitale Welt auf den Alltag auswirkt. Aber auch hier gibt es zwei Seiten. So konnte ich Anfang 2020 an einer Tankstelle mein Benzin nicht wie üblich mit der Kreditkarte, sondern nur mit Bargeld bezahlen. Die Kassiererin fragte mich, ob das denn ein Grund sei, anderswo zu tanken – und ich bejahte. Denn Bargeld muss ich aus dem Geldautomaten ziehen, was Aufwand und Mühe ist. Die Kreditkarte ist unmittelbar verfügbar, und am Ende des Monats habe ich eine Aufstellung über meine Ausgaben.

    Bequemlichkeit hat aber auch hier ihren Preis: Denn dann weiß nicht nur ich, was ich gezahlt habe, sondern auch das Kreditkartenunternehmen. Wie meine Daten dann in Big-Data-Auswertungen eingehen, weiß keiner. Aber im Alltag verdrängen wir es.

    Vernunft und Verstand in der digitalen Welt

    Ist die digitale Welt vernünftig, kann Vernunft digital sein? Das ist die Leitfrage dieses Kapitels, und sie führt hin zum Thema dieses Buches. Selbst bei einem ganz einfachen Beispiel wie dem Tanken mit Kreditkarte entstehen Fragen, die sich aus der digitalen Durchdringung des Alltags ergeben. Was daran vernünftig ist, kann nicht losgelöst von eigenen Perspektiven und Interessen beantwortet werden.

    Das aber ist genau ein Teil des Dilemmas. Denn natürlich ist es praktischer und unter diesem Blickwinkel vernünftig, wenn ich mir einmal im Monat meine Benzinkosten ansehe. Wenn ich bar zahle, müsste ich mir das separat aufschreiben, Belege sammeln, Listen führen und dergleichen. Das Digitale wird also Teil der Alltagsvernunft! Wobei ausgebildete Philosophen anmerken würden, es könne sich hier höchstenfalls um ein Phänomen des alltäglichen Verstandes handeln, denn es geht um den „common sense". Im angelsächsischen Sprachgebrauch ist damit insbesondere die Pragmatik des Einsatzes unserer Denk- und Handlungsfähigkeit in Abgrenzung zu einer umfassend verstandenen kognitiven Rationalität gemeint.

    Die weiter oben erwähnte Abschaffung des Bargelds verhindert Geldwäsche beim Kauf von Autos und Wohnungen, etwa wenn große Beträge in bar über den Tisch gehen. In Großbritannien gibt es bereits ein Gesetz, das zu Erklärungen verpflichtet, wenn große Summen Geld von einem Konto bewegt werden. Das Digitale ist hier nicht einfach Teil der Vernunft. Es wird Teil einer immer enger werdenden sozialen Kontrolle.

    Eine Kritik der digitalen Vernunft wird daher stets die Balance aus sozialer Kontrolle und Alltagserleichterung, aus Befreiung und Beherrschung, aus individueller Einzigartigkeit und genormtem Gruppenverhalten berücksichtigen müssen. Digitale Fragen sind nicht nur Fragen der Zweckmäßigkeit, sondern auch Fragen sozialer Macht und Ohnmacht. Die digitale Frage ist ja tatsächlich in vielerlei Hinsicht eine soziale und eine politische Frage, ob es auf den ersten Blick so wirkt oder nicht. Dafür möchte dieses Buch den Blick schärfen.

    Überlegungen darüber, was genau „digitale Vernunft sein soll, werden Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Dabei ist digitale Vernunft von „Künstlicher Intelligenz zu unterscheiden und wird qualitativ gedeutet.

    Wir haben uns ja längst daran gewöhnt, dass gut programmierte und selbst lernende Computerprogramme besser Schach und besser Go spielen als die weltbesten Spieler. Reden wir dann von „intelligenten Anwendungen oder von „digitaler Vernunft? Sollen wir eine „digitale Vernunft von einem „digitalen Verstand abgrenzen, oder geht eine solche Unterscheidung zu weit?

    Gibt es sinnvoll abgrenzende Gegenbegriffe zum Terminus „digitale Vernunft, etwa digitale Unvernunft, digitaler Wahnsinn, digitale Naivität? Ist am Ende unsere Vernunft grundsätzlich schon „digital? Oder deuten wir bloß aufgrund aktueller technischer Neuerungen unser menschliches Erkenntnisvermögen nach dem Bild der gerade aktuellsten Maschine? Schließlich hatten die Fortschritte der Präzisionsmechanik dazu geführt, dass Gott im 17. Jahrhundert auch mit dem obersten und perfekten Uhrmacher verglichen wurde.

    Unvernünftige Aspekte des Menschseins

    Und wenn wir von „Vernunft und „vernünftig sprechen, wie gehen wir in Anwendung auf die digitale Welt mit den nicht so vernünftigen, mit den nicht nur emotionalen, sondern rundum irrationalen und widersprüchlichen Anteilen menschlichen Handelns und Lebens um?

    Wäre die Vernunft dann nur ein abgegrenzter Bereich inselhafter Anwendungen für eine rationale Weltgestaltung? Dann wäre eine rundum vernünftige Welt eine Welt der Perfektion, die zu einem breiteren Fundament rationaler Lebensgestaltung führen könnte. Unter diesem Blickwinkel könnten wir den heutigen Menschen eher mit Blick auf seine Defizite und Rationalitätsmängel betrachten. Genau das ist die Perspektive nicht weniger Forscher auf dem Gebiet der KI (vgl. dazu kritisch: A. Grunwald 2018).

    Wer Rationalität als ein grundsätzlich erstrebenswertes Ziel betrachtet, für den wirkt es anziehend, wenn der Mensch mit digitalen Vernunftmitteln Schritt für Schritt zur „rationalen, also „vernünftigen Selbstoptimierung geführt werden kann. „Digitale Vernunft" wäre dann in gewisser Weise ein pädagogisches Programm zur vernünftigen Erziehung des Menschengeschlechts.

    Ob Immanuel Kant (1724-1804) sich den Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit so vorgestellt haben mag? Wäre dann nicht zu fragen, ob sich digitale Vernunft als neue Spielart eines Intellektualismus kennzeichnet, der zu einem rationalen Überbietungswettbewerb führt? Dann reden wir bald nicht mehr vom Menschen, wie er ist, sondern konsequenterweise von einem „Transhumanismus oder vom „Übermenschen, wie es Friedrich Nietzsche (1844-1900) ausgedrückt hat.

    Schon diese wenigen Überlegungen werfen Unbehagen auf. Sollen wir eine solche rein rationale Welt wollen?

    Immerhin vermag ja auch die Gegenthese, also eine übertriebene Betonung emotionaler, bisweilen gar irrationaler Elemente der menschlichen Lebensführung nicht zu überzeugen. Denn eine ausschließlich romantische Weltsicht lässt sich mit fast 8 Milliarden Menschen auf der Erde weder individuell noch kollektiv gut realisieren.

    Wie also finden wir eine Balance zwischen „Rationalität und „Emotionalität?

    Ist die digitale Welt grundsätzlich vernünftig?

    Die einfache Frage, ob die digitale Welt vernünftig sei, ist folglich gar nicht so einfach zu beantworten. Gleiches gilt für die Frage, wie wir mit der digitalen Welt vernünftig umgehen können. Die bedingungslos digitale Struktur von automatisierten Rechenoperationen ist als solche frei von Geschmack, Geruch und Sinneswahrnehmungen, aber das allein reicht nicht dafür aus, sie als „vernünftig" anzuerkennen.

    Es gibt eben auch ein Potenzial zur Sinnfreiheit oder Sinnlosigkeit in der digitalen Welt. Konkret bedeutet dies, dass „rational" strukturierte Rechenoperationen auf der Grundlage problematischer oder gar irrationaler Voraussetzungen zu keinem vernünftigen Ergebnis führen.

    Dies gilt sowohl bei erkannter wie auch bei unerkannter Irrationalität. So können wir uns durchaus eine künstlerische Installation vorstellen, die in einem Museum kleine Schwankungen des Luftdrucks mit kleinen Schwankungen der Lichtstärke kombiniert und daraus Ergebnisse berechnet, die als akustische Tonfolge ausgegeben werden. Das mag funktional nicht besonders sinnvoll sein, veranschaulicht aber das Potenzial zur Sinnfreiheit digitalen Outputs. Darüber hinaus wäre genau das auf einer nächsten Ebene der Realität die „künstlerische Botschaft".

    Schwieriger ist der Fall, wenn die unzureichende Qualität von Daten-Input gar nicht erst erkannt wird. Dann kommt es zu einem sozialen Fehlvertrauen in Ergebnisse, die gar nicht aussagekräftig und sinnvoll sind. Dieser Fall ist häufiger, als wir es im Alltag erwarten, und er stellt ein Grundproblem digitaler Zeit dar.

    Grundsätzlich gilt jedenfalls: Sinnloser Input führt zu sinnlosem Output. „Garbage in, garbage out", hieß das in der digitalen Frühzeit. Wobei bereits in der klassischen Logik der Satz gilt, dass aus falschen Prämissen keine gültigen Schlüsse gezogen werden können.

    Anders gesagt: Die inhärente Programmatik digitaler Vernunft ist gerade in ihrer Struktur als stringente digitale Rationalität von Voraussetzungen abhängig, die sie selbst nicht schaffen kann.

    Die Frage nach Voraussetzungen taucht auch in ganz anderen Zusammenhängen auf, etwa in der Staatstheorie. So besagt das berühmt gewordene Böckenförde-Theorem, dass der Staat von Voraussetzungen abhängig sei, die er selbst nicht geschaffen habe (H. Böckenförde 1967, 75-94; H. Dreier 2018, 189-214). Wenn ein solcher Gedanke auf die digitale Welt übertragbar ist, dann entsteht das oben angedeutete Paradox, dass die Grundlagen für digitale Rationalität nicht notwendigerweise vernünftig oder rational sein müssen.

    Denn wenn die Voraussetzungen der digitalen Welt außerhalb ihrer selbst liegen, was ja nachweislich der Fall ist, dann werden diese Voraussetzungen auch nicht den gleichen Rationalitätsanforderungen wie bei der Programmierung innerhalb der digitalen Welt folgen können. Folglich sind irrationale Elemente in der Begründung und Verwendung der digitalen Welt ebenso möglich wie in der klassischen, analogen Welt. Das aber ist ein auf den ersten Blick erstaunliches Ergebnis!

    Natürlich gibt es vernünftige Aufgaben und Zwecke, bei denen digitale Hilfen, Programme und Werkzeuge die konkrete Aufgaben- und Zweckerfüllung erleichtern oder sogar erst ermöglichen. Vernunft ist aber als „rationale Anfangsvoraussetzung", wie gerade ausgeführt, nicht von Haus aus ein zutreffendes Attribut der digitalen Welt.

    Die Zuschreibung von Vernunft zur digitalen Welt und ihren Anwendungen erfolgt vielmehr über grundlegende Rationalitätsfragen hinaus in einem sozialen und politischen Zusammenhang, der niemals ganz zweckfrei ist, sondern der partiellen und kontextuellen Perspektiven folgt.

    Ist Vernunft grundsätzlich digital?

    Die nahe liegende Umkehr der Fragerichtung, also die Überlegung, ob Vernunft digital sein könne, ist nicht leichter zu beantworten. In der Frage stecken ja schon mindestens zwei Voraussetzungen, nämlich die der grundsätzlichen, digitalen Abbildbarkeit vernünftiger Prozesse in digitale Strukturen und die Frage nach der zumindest theoretisch möglichen Vollständigkeit einer solchen Abbildung. Anders gesagt könnten wir entweder meinen, dass es im menschlichen Geist und in der Welt nicht-digitalisierbare Bereiche gibt oder die Auffassung vertreten, es gebe diese zwar noch, aber nur noch auf begrenzte Zeit: Denn grundsätzlich könne alles digitalisiert werden.

    Die Idee einer „vollständigen Abbildung oder Erklärung" würde mit der Behauptung einhergehen, dass durch eine digitale Abbildung und Programmierung vernünftiges Denken und Handeln von Menschen vollständig erklärt werden könne. Daraus würde im Umkehrschluss folgen, dass alles, was nicht oder noch nicht digital abgebildet werden kann, auch nicht vernünftig ist.

    Ich spreche hier vom „Vollständigkeitstheorem" der digitalen Vernunft. Wer so argumentiert, für den kann wie erläutert die naturwüchsige Vernunft lebender Menschen vollständig digital abgebildet werden. Was bisher nicht digital abgebildet wurde, ist entweder von Haus aus unvernünftig oder im immer nur vorläufigen Warteraum noch besserer technischer Realisierung.

    Es ist kein Zufall, dass wir hier relativ rasch auf den bekannten Ersten Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel (1906-1978) stoßen. Dabei geht es darum, dass in bestimmten formalen Systemen nicht alle Aussagen bewiesen oder widerlegt werden können: „Jedes hinreichend mächtige, rekursiv aufzählbare formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig" (K. Gödel 1931). Systeme enthalten in diesem Sinne eine Sprache mit Aussagen und Formeln, ferner Axiome und Regeln für das Schlussfolgern.

    Die Theoriebildung in der formalen Logik ist eine Sache, deren Anwendung auf die digitale Welt eine andere. Denn eine alternative Deutung der Frage, ob Vernunft digital sein könne, ist stärker auf den in sich begrenzten Möglichkeitsraum des Digitalen ausgerichtet. Dann gäbe es sozusagen unterschiedliche Parallelwelten der Vernunft, nämlich digital abzubildende, aber auch andere.

    Parallelwelten der Vernunft wären dann gegeben, wenn diese aus technischen, aus grundsätzlichen oder aus anderen Gründen digital nicht abgebildet werden können. Die grundsätzliche Möglichkeit, Vernunft digital abzubilden, ginge dann nicht mit einem Vollständigkeitsanspruch für Rationalität und digitale Rationalität einher.

    Gemeint wäre also der Gedanke, Vernunft könne eben nicht vollständig digital abgebildet werden, entweder aufgrund der beschriebenen technischen Begrenzung oder aufgrund der Gleichzeitigkeit mit alternativen Formen von Rationalität, wie immer diese empirisch, spekulativ oder sonst zu beschreiben wären.

    Wie lassen sich Leistungsgrenzen der digitalen Welt beschreiben?

    Die angerissenen Gedankenstränge bedürfen einer Erläuterung, weil sie dem Vollständigkeitstheorem digitaler Erfassung widersprechen. Denn eine „grundsätzliche Grenze ist von einer „technischen Begrenzung zu unterscheiden, also einer Grenze, die von der Verfügbarkeit von Rechnerinfrastruktur, von Rechnerkapazität, von geeigneten Programmen und Anwendungen, aber auch von Energie und sonstiger Infrastruktur abhängt.

    Beim Blick auf technische Leistungsgrenzen nehmen wir immer auch zukünftige Grenzverschiebungen mit ins Kalkül. Wir reden dann von einem „Schon und einem „Noch-Nicht, von „Jetzt und „Zukunft. Diese deutliche Spannung zwischen Erfüllung und Erwartung, zwischen Realisierung und Potenzialität wird jenseits der digitalen Welt besonders stark in der christlichen Theologie bearbeitet, etwa innerhalb der Theologie der Endzeiterwartung oder der Eschatologie (vgl. P. Koslowski 2002, J. Ratzinger 2005, J. Moltmann 2007). Mit dem „Schon ist dabei grundsätzlich ein Ausblick auf das „Noch-Nicht verbunden, das aber bald erwartet wird. Genau das nennt man in der Theologie „eschatologische Erwartung".

    Für das „Schon und Noch-Nicht" digitaler Vernunfterwartung gibt es handfeste Gründe, etwa das Moore’sche Gesetz, nachdem sich die Rechenleistung alle 18 bis 24 Monate verdoppelt. In den vergangenen Dekaden hat es sich als ungewöhnlich robust erwiesen. Jedes Mal, wenn natürliche Grenzen erreicht zu sein schienen, wurden neue technische Durchbrüche möglich, bis hin zur Erwartung des Quantenrechners, der zu einer neuerlichen Leistungsexplosion von Rechenleistung führen könnte.

    Der Gedanke einer technischen Leistungsgrenze für die digitale Welt ist naheliegend, da wir beim immer weiteren Vordringen technischer Auflösung irgendwann zu subatomaren Strukturen kommen, über die wir trotz großer Fortschritte in der Physik noch wenig wissen. Für den starken Fortschrittsglauben von Protagonisten digitaler Evolution wirkt der Gedanke einer „Leistungsgrenze" dennoch wie ein Tabubruch, ein Sakrileg.

    Trotzdem will ich ihn hier weiter entfalten, und zwar am Beispiel von Datenvolumen und Datenkontext.

    Dabei möchte ich ein einfaches Beispiel heranziehen, einen Apfel, der vor mir auf dem Tisch liegt. Ich kann diesen physischen Apfel aufessen, denn irgendwann meldet sich der kleine Hunger. Ich kann ihn mit Worten beschreiben, eher botanisch, eher funktional, eher knapp, eher ausschweifend. Ich kann den Apfel aufnehmen und mit gängigen Programmen per Instagram, WhatsApp, als E-Mail-Anhang oder sonst wie mit meinen Freunden und Bekannten teilen. Das digitale Bild des Apfels kann 1 MB, 5 MB oder größer sein, je nach Auflösung. Wir könnten daran anknüpfend die Frage stellen, wo die Grenze für das Datenvolumen zur Darstellung des Apfels auf meinem Tisch liegen könnte.

    Bereits an dieser einfachen Stelle wird es für das erörterte Vollständigkeitstheorem der digitalen Vernunft problematisch, und zwar zumindest aus den beiden oben genannten Gründen: Der Datenmenge und dem Datenkontext. Gehen wir zunächst auf die realen oder grundsätzlichen Begrenzungen der Datenmenge ein.

    Bilder werden ja über Pixel definiert, und die Anzahl der Pixel definiert die Größe einer Bilddatei. Wenn eine solche Datei erfolgreich versendet wird, könnten wir von digitaler Konnektivität sprechen. Diese bedeutet immer auch ein Passungsverhältnis zwischen sendendem und empfangendem Medium. Stimmt die Passung nicht, dann sagen wir: „Die Datei kommt nicht durch." Nun können wir uns immer ein Missverhältnis zwischen einem Datenpaket und einer Datenleitung vorstellen, denn nur in einer nicht existierenden idealen Welt sind Datenleitungen immer genau so ausgelegt wie das Volumen der zu sendenden Daten. Die leidige Diskussion über den Ausbau des digitalen Glasfasernetzes in Deutschland veranschaulicht hier, was mit einer realen digitalen Leistungsgrenze gemeint sein kann.

    Vergleichen lässt sich dies mit der öffentlichen Kanalisation. Deren Rohre sind auf bestimmte Wassermengen ausgelegt. Wenn bei einem Sturzgewitter zu viel Wasser auf einmal transportiert werden soll, dann laufen Keller voll, die Gullys auf der Straße nehmen kein Wasser mehr auf, Unterführungen werden überschwemmt. Gleiches gilt für die technische Auslegung von Sende- und Empfangsgeräten. Bei zu großen Datenmengen streikt das System. Die technischen Fortschritte ermöglichen zwar den Transport und die Auflösung immer größerer Datenmengen, aber es gibt eben auch einen Rebound-Effekt: Mit besserer technischer Verfügbarkeit wachsen auch die verschickten Datenpakete. Ob wir dann immer wieder neu von einer faktischen Leistungsgrenze oder von einer grundsätzlichen technischen Limitierung sprechen, muss bei diesen Überlegungen gar keine entscheidende Rolle spielen.

    Kommen wir zurück auf das Foto des Apfels. Das Gedankenexperiment lässt sich nämlich leicht weiterführen. So könnten wir fragen, wie viele Pixel die bestmögliche digitale Abbildung des Apfels haben solle. Dabei lassen wir weitere Fragen außen vor, etwa die der Perspektive, also ob es ein Bild von oben, von unten, von der Vorder- oder der Rückseite sein soll. Allein schon die Frage nach der relevanten oder sinnvollen Größe des Datenpakets für das digitale Foto meines Apfels ist keine rein technische, sondern eine technische und soziale Frage. Denn die Antwort hängt neben der Größe und Geschwindigkeit der Datenleitung und des Datentransfers eben auch von sozialen Konventionen ab. So gesehen, gibt es keine ein für allemal „richtige" Antwort. Das wiederum zeigt: Die Begrenzung, die in jeder gewählten Perspektive liegt, kann logischerweise auch digital nicht aufgelöst werden.

    Immerhin könnten wir dort eine technische Grenze ziehen, wo das natürliche Sehvermögen des Menschen eine noch höhere Auflösung nicht mehr wahrnehmen könnte. Doch führt auch dieses Argument in die Irre. Denn durch die Fortschritte der Mikroskopie und der Messtechnik können wir unsere Sinnesleistung durch technische Hilfsmittel wie etwa Elektronenmikroskope weit über das biologisch evidente Maß hinaus ausdehnen. Ein digitales Beispiel für die Erhöhung von Sinnesleistungen durch Technik ist die Erkennung von Hautkrebs durch Mikroskope in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz. Denn diese kann nach heutigem Stand mindestens 450 Graustufen unterscheiden; das menschliche Auge nur rund 15.

    Grenzen der Messtechnik und Grenzen des Erkennens überhaupt

    Die technische Grenze der digitalen Vernunft fällt also faktisch mit der Grenze der verfügbaren Messtechnik zusammen, und diese Grenze verschiebt sich mit dem technischen Fortschritt selbst.

    Damit sind wir aber noch nicht an das Ende unseres Gedankenexperiments gekommen. Denn aufgrund unserer physikalischen Theorien stoßen wir zu gegebener Zeit auf den molekularen, atomaren und subatomaren Raum. Hier hätten wir dann ein Henne-Ei-Problem: Ist die Grenze der digitalen Vernunft die Grenze des messtechnisch Erfassbaren? Oder die Grenze des theoretisch Vorstellbaren? Oder verschwimmt die Grenze im hybriden Zusammenwirken von Messtechnik, von natürlicher und digitaler Vernunft?

    Ausgehend vom einfachen digitalen Foto eines Apfels gelangen wir hier zur philosophischen Frage nach der Erkennbarkeit der Welt, was immer diese ist und wie immer wir den erkennenden Zugriff zu ihr beschreiben. Wenn wir beim Sehvermögen bleiben, geht das Spektrum vom sichtbaren zum unsichtbaren Licht, bis zum spannenden neuen Gebiet der extrem ultravioletten Strahlung (EUV) und der EUV-Lithografie auf Halbleitern mit einer Wellenlänge von nur 13,5 Nanometern.

    Die technische Grenze der digitalen Vollständigkeit geht in der Frage nach der „Datenmenge" einer Abbildung aber noch gar nicht auf. Denn keine Abbildung steht für sich allein, losgelöst von ihrem praktischen Lebenszusammenhang, ihrem Kontext. Die für Menschen leichte Frage nach dem Kontext führt aber für den Bereich digitaler Repräsentation in Folgeprobleme, die auf prinzipielle Leistungsgrenzen hinweisen.

    Diese Leistungsgrenze liegt, kurz gesagt, in der Forderung nach Widerspruchsfreiheit. Selbst wenn es nur um einen Apfel auf einem Schreibtisch geht, haben Menschen ganz unterschiedliche Perspektiven und Assoziationen. Der eine ist Apfelallergiker und denkt daran. Der andere erinnert sich an den Apfel, die verbotene Frucht aus der biblischen Geschichte zur Vertreibung aus dem Paradies. Der dritte ist Pomologe und interessiert sich für die spezielle Apfelsorte, um die es geht. Der vierte kommt aus einem tropischen Land, wo Äpfel als Frostkeimer gar nicht wachsen und daher als Luxusfrucht angesehen werden.

    Nicht die anekdotische Evidenz der verschiedenen Perspektiven, sondern die spannungsvolle Vielfalt der Einordnung oder des Framing dessen, was Menschen sehen, stellt technische Repräsentation vor große Herausforderungen. Jeder Mensch hat nur eine Perspektive, aber er weiß, dass es andere geben kann.

    Ein solches Wissen um „alternative Repräsentationen ließe sich zwar digital abbilden. Problematisch wird es aber dann, wenn wir entscheiden müssen, welche Perspektive denn die „richtige ist.

    Als Menschen haben wir sowohl genetisch und biografisch festgelegte wie auch frei wählbare Perspektiven. Mit einer weißen und männlichen Identität sieht die Welt in vielen Alltagssituationen auch beim Betrachten eines Apfels womöglich anders aus als mit einer schwarzen und weiblichen, um nur ein Beispiel zu nennen. Keine dieser Perspektiven ist richtiger als die andere, und Menschen können sich darauf verständigen, dass die Gemeinsamkeit ihrer Sichtweise entscheidender ist als die kontextuelle Verschiedenheit.

    Trotzdem spielt diese Verschiedenheit eine Rolle. Sie kann aber in ihrer Widersprüchlichkeit technisch nicht programmiert werden. Denn für ein technisches Programm muss schon klar sein, welche Perspektive und welcher Zweck im Vordergrund steht. Anders gesagt: Jede technische Lösung braucht einen funktionalen Kern und einen funktionalen Zweck, der so weit wie möglich kontextunabhängig ist.

    Da wir aber wissen, dass es unglaublich viele und auch widersprüchliche Kontexte gibt, können wir nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus Gründen der Widerspruchsfreiheit nicht gleichzeitig alle Kontexte, die es für eine digitale Repräsentation geben kann, abbilden. Das muss nicht tragisch sein, kennzeichnet aber einen Unterschied zwischen dem Weltzugang von Menschen und von digitalen Maschinen. Denn Menschen kennen Kontexte und Situationen, die weitgehend zweckfrei sind (etwa das „Spielen"), Maschinen aber sind grundsätzlich auf ihren Zweck ausgelegt.

    Die Frage der Kontextualität ist auch für aktuelle technische Anwendungen von erheblicher Bedeutung. Es lohnt sich also, vertieft nach dem Kontext einer digitalen Abbildung oder einer digitalen Repräsentation zu fragen. Wie kontextabhängig oder wie kontextunabhängig ist diese? Und wie viel Kontext ist erforderlich, um im Rahmen einer digitalen Zwecksetzung wie etwa dem autonomen Fahren zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen?

    Die Kontextualität digitaler Repräsentationen

    Die Kontextualität einer digitalen Repräsentation ist eine hoch praktische und hoch theoretische Frage. Wie kann ein digitales Programm ein auf die Straße springendes Kind erkennen? Wie viel „Kontextualität" im Bewegungsablauf muss Teil des Wirklichkeitsmodells werden, das am Ende handlungsleitend wirkt?

    Denn im Fall eines voll autonomen Fahrzeugs wird dieses ebenso wie ein menschlicher Fahrer oder eine menschliche Fahrerin entweder bremsen oder weiterfahren. Digitale Programme im Kontext Künstlicher Intelligenz benötigen jedenfalls ganz grundsätzlich ein Modell der „Welterfassung", das auf einer engeren oder weiteren Bestimmung von Kontextualität beruht.

    Und hier geraten wir erneut an die Grenzlinie für technische und philosophische Fragen. Technisch ist zu fragen, „wie viel Kontext, „welcher Kontext und „welche Relevanzbildung" in einem Kontext programmiert werden kann und soll.

    Philosophisch lässt sich die Linie leicht fortführen. Denn an irgendeiner Stelle wird ein noch weiterer Kontext für die konkrete Situation bedeutungslos, etwa ob das auf die Straße springende Kind Anton heißt oder Michael und ob der Ball, dem es hinterherspringt, grün oder gelb ist. Das Problem ist nur, dass es zur Feststellung der „Relevanzgrenze" einer Entscheidung bedarf, die in einer unendlichen Kette von Iterationen wiederum hinterfragt werden kann.

    So könnte es sehr wohl von Bedeutung sein, ob ein Ball grün oder gelb ist, denn je nach Licht- und Straßenverhältnissen wird dadurch die optische Sichtbarkeit beeinträchtigt.

    Dies soll hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Klar wird aber sehr schnell, dass sowohl die verfügbare Messtechnik wie das Ausmaß der Berücksichtigung von Kontexten für eine grundsätzliche Grenze der digitalen Abbildung von Wirklichkeit zu sprechen scheinen.

    Möglichkeitsräume und alternative Formen von Rationalität

    Der Möglichkeitsraum des Digitalen lässt sich aber auch über eine dritte Grenze seiner Vollständigkeit erörtern. Dabei war oben von alternativen Formen der Rationalität die Rede. Eine solche Sprechweise, die auf „alternative Formen der Rationalität Bezug nimmt, ist in einem wissenschaftlichen oder wissenschaftsnahen Kontext herausfordernd. Denn zunächst einmal wirkt schon der Begriff „alternative Formen der Rationalität merkwürdig, wenn nicht gar unsinnig.

    Entweder ist eine Vorgehensweise, eine Aussage, ein Verhalten oder eine Denkform rational oder eben nicht. Wenn sie nicht rational ist, dann ist sie im Sinn des Rationalen defizitär, also durch einen Mangel an Rationalität gekennzeichnet. Dieser zeigt sich durch mangelnde Faktenkenntnis, Verdrängung oder Verdrehung von Tatsachen, unbewiesene Behauptungen oder gar Fake News und dergleichen. Mangelnder Rationalität ist durch Vernunft und durch Aufklärung entgegenzutreten. Sie hat keinen Ort dort, wo es um den rationalen Diskurs geht.

    Das Andere der Vernunft ist aber nicht immer die Unvernunft. Gerade das nach Erkenntnis suchende Licht der Vernunft tut gut daran, die eigenen Grenzen auszuloten und sich dabei in das unwegsame Gelände des Zweifels, des Halbwissens und des bewussten oder unbewussten Nicht-Wissens zu begeben. Die Vernunft wird sich dann frei nach Ludwig Wittgenstein (1889-1951) Beulen holen. Aber zur Rationalität der Vernunft selbst gehört die Einsicht in ihre eigene Grenze.

    Die Redeweise von den Grenzen der Vernunft wie etwa der Dummheit (vgl. R. Musil 1937/1996) unterscheidet sich allerdings von der Frage nach alternativen Formen von Rationalität. Hier ist wiederum der von Robert Musil (1880-1942) in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften" beschriebene Möglichkeitssinn gefragt (R. Musil 1930/1943).

    Denn wirklich und möglich sind auch Dinge und Sachverhalte jenseits unseres eigenen Erkenntnisstandes. So beruht die digitale Welt, um die es bei der Erforschung digitaler Vernunft geht, auf dem binären Zahlensystem, einer Abfolge von 0 und 1, die sich in Form elektrischer Spannung darstellen und als Rechenoperation interpretieren lässt. Zur möglichen Welt gehört aber auch ein Duodezimalsystem in Zwölfer-Schritten so wie früher beim englischen Pfund, beim Zahlenbegriff eines „Schocks" Eier (das sind 60 Stück) oder bei der Uhrzeit.

    Zum Möglichkeitsraum gehört aber auch ein Siebener-Zahlensystem oder – und hier beginnt unwegsames Gelände – ein Einundzwanziger-Zahlensystem. So wie beim uns vertrauten Zehnersystem die Zahl 10 „ein mal zehn und null mal eins bedeutet, würde die Zahl 10 im „Einundzwanziger-System genau 21 bedeuten. Das mag gewöhnungsbedürftig und wenig sinnvoll sein, möglich ist es. Man könnte die Zahlen im 21-System beispielsweise durch Buchstaben abbilden, sodass A den Wert „1 und „T den Wert 20 hätte.

    Diese Gedankenexperimente haben dort ihren Sinn, wo es um die Exploration von Möglichkeitsräumen geht, von denen einige digital abbildbar sind, andere wohl eher nicht. Dies kann beispielsweise am naheliegendsten Beispiel alternativer Rationalität untersucht werden, dem großen Feld der Religion

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