Menschliche Gesellschaft 4.0: (Christliche) Beiträge zum Digitalen Wandel
Von Verlag Herder
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Buchvorschau
Menschliche Gesellschaft 4.0 - Verlag Herder
Digitalisierung: Fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit
HARALD WELZER
Dieser Text erschien zuerst in
DIE ZEIT Nr. 34/2019, 15. August 2019
Die Digitalisierung führt zu künstlicher Dummheit: Die Netzkonzerne blenden alle Konflikte und Ungleichheit aus. So sollten wir nicht leben wollen.
Im vergangenen Herbst war ich auf einem Kongress der deutschen Stadtwerke. Da gab es vormittags Expertenvorträge zur Verletzlichkeit digitaler Infrastrukturen von sehr kompetenten Offizieren der Bundeswehr sowie Fachleuten der Bundesämter für Sicherheit in der Informationstechnik beziehungsweise für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Deren Aussagen zur Versorgungssicherheit unter Bedingungen eines großen Stromausfalls oder erfolgreicher Cyberattacken stimmten einen eher nicht optimistisch. Am Nachmittag dann gab es Vorträge zu Smart Citys, und die zeichneten ganz wunderbare Bilder unserer digitalen Zukunft – sorglose Menschen in intelligenten Umgebungen, geshuttelt von autonomen E-Autos und in den Schlaf gesungen von Alexa. Oder so ähnlich. Was interessant war: Niemand stellte eine auch nur zarte Verbindung zum Vormittag her. Die smarte neue Weltbeglückung spart die nicht gar so smarte analoge Energieversorgung sowieso aus. In der Smart City gibt es auch keine soziale Ungleichheit, keine Konflikte, keine Graffiti, keine Kriminalität, keine Prostitution und so weiter, also eigentlich überhaupt keine soziale Welt, die nun mal weder smart noch binär ist.
In solchermaßen aseptischen Visionen stellt sich auch nie die Frage, was denn in den künftigen Fernsteuerungsumgebungen eigentlich geschieht, wenn der Strom ausfällt, und zwar für einen, zwei oder gar drei Tage. Diese fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit ist symptomatisch für die gesellschaftliche Debatte über die Digitalisierung – sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann: Auf der einen Seite gibt es die Bequemlichkeitsreklame der Digitalwirtschaft, die Bedürfnisse zu befriedigen behauptet, die man kurz zuvor noch gar nicht hatte; auf der anderen Seite mit Spezialwissen ausgestattete Warner vom Typ Manfred Spitzer, die alarmieren, aber den smarten Betrieb in keiner Weise stören. Dazwischen: wenig oder nichts.
Was das Dazwischen ausmacht, lässt sich mit dem schlichten Sachverhalt andeuten, dass die Algorithmen der Tumorerkennung derselben Logik folgen wie die der Gesichtserkennung. Die Entscheidung über ihren Einsatz kann mithin nicht durch das Vorhandensein der Technologie begründet werden. Die Digitalisierung wirkt sich, wie jede Technologie, nach ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Gebrauch höchst unterschiedlich aus, weshalb wir Digitalisierung endlich als gesellschaftspolitische Frage begreifen müssen – zumal die Verkehrsformen und Verfahren der Demokratie selbst von den Wirkungen des Technikeinsatzes stark betroffen sind. Man denke nur an Wählermanipulation, Fake-News, Dauererregung et cetera.
Aber die Politik beschränkt sich dessen unbeschadet noch hauptsächlich darauf, smarte Technikwelten zu imaginieren, als wäre man in den 1950er-Jahren. Ob es Doro Bärs Flugtaxis sind, die Raumfahrtutopien von Jeff Bezos oder die autonom bestellenden Kühlschränke der Digitalkonzerne, alles sieht aus wie in der futuristischen Zeichentrickserie Die Jetsons. Und beim meist wenig kenntnisreichen Schwadronieren über 4.0, 5G oder KI werden schwach begründete, aber bestens finanzierte Interessen artikuliert, die Benutzeroberfläche des demokratischen Rechtsstaats upzudaten. Und zwar, wie das bei Updates so üblich ist, ohne zu fragen, wer die eigentlich haben möchte. Und warum.
Das alles ist unterlegt mit einem Solutionismus, der die Welt nur insoweit zur Kenntnis nimmt, als sie in »lösbare« Probleme filetierbar ist. Ob und für wen diese Probleme Probleme sind oder in welchen Kontexten und Handlungsketten sie entstehen, tritt dabei nicht in den Blick. Alles, was in diesem Sinn dirty, also nicht binär zu definieren ist, fliegt raus. Das erzeugt allerdings erst wirklich Probleme.
Nehmen wir als aktuelles Beispiel die Abstürze zweier Maschinen vom Typ Boeing 737 Max. Diese Maschinen haben gegenüber der konventionellen 737 effizientere, aber größere Triebwerke, was es erforderlich machte, diese weiter vorn und an höheren Aufhängungen zu befestigen. Das wirkt sich auf die Aerodynamik und daher auf die Flugeigenschaften aus, weshalb Boeing ein Trimmsystem programmierte, das Strömungsabrisse durch automatische Korrekturen des Anstellwinkels verhindern sollte. Offenbar kollidierten diese automatischen Korrekturen mit den manuellen Gegenkorrekturversuchen der Piloten. Das zugrunde liegende Problem: Ein ingenieurmäßig schlechter, der Physik unangepasster Einbau von Triebwerken wird durch Software zu korrigieren versucht. Man könnte auch sagen: Statt das Flugzeug neu zu konstruieren, wurde am alten gebastelt und die improvisierte Lösung durch ein digitales Korrektursystem kaschiert – was übrigens den Piloten offenbar nicht klar war. Man kann davon ausgehen, dass die eilig überarbeiteten Programme von Boeing den nächsten Absturz nicht verhindern werden; das Flugzeug ist einfach falsch