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Mondscherben & Funkenmeer: Magiesprung Chronik 2
Mondscherben & Funkenmeer: Magiesprung Chronik 2
Mondscherben & Funkenmeer: Magiesprung Chronik 2
eBook377 Seiten4 Stunden

Mondscherben & Funkenmeer: Magiesprung Chronik 2

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Über dieses E-Book

"Magie pulsiert frei, unbezwungen und tödlich." Flucht & Verrat Erins Leben hat innerhalb kürzester Zeit eine 180-Grad-Wendung hingelegt.Mitten im Kampf zwischen uralten Magien und grauenhaften Dunkelschatten soll ihr Schicksal besiegelt werden, während sie sich ihr altes Mauerblümchenleben zurückwünscht.Glücklicherweise hat Finley die Seiten gewechselt. Aber kann sie ihm wirklich trauen? Kann man von jetzt auf gleich seine Vergangenheit hinter sich lassen und für etwas eintreten, das man sein Leben lang verachtet hat?Der Countdown läuft.Vier Generationen, zwei Magien und ein letzter Kampf.

Magiesprung Chronik (Dilogie)
Teil 1: Lichterglanz & Dunkelschatten
Teil 2: Mondscherben & Funkenmeer
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Aug. 2019
ISBN9783959914840
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    Buchvorschau

    Mondscherben & Funkenmeer - C. I. Harriot

    Teil I

    »Die Welt ist eine andere, seit jenem verhängnisvollen Tag.«

    »Wie meinst du das, Oma?«

    »So, wie ich es sage, mein Kind.«

    »Das verstehe ich nicht …«

    »Das wirst du auch nie, denn du kennst die Welt nicht anders.«


    (Vermächtnis der Springer, März 1954)

    Kapitel Eins

    10. März 2019


    Erin

    Eine gespenstische Ruhe herrscht über dem Strandabschnitt, der im dämmrigen Tageslicht vor uns liegt. Wir stehen nah am Wasser, der Westwind peitscht über die Wellen und trägt Spritzer der Gischt bis zu uns heran. Fröstelnd trete ich einen Schritt zurück, um nicht nasser zu werden, als ich ohnehin bereits bin. Ich reibe mir über die Arme, um dem Zittern entgegenzuwirken. Meine Jacke ist eindeutig nicht für dieses Wetter geschaffen. »Rettung in letzter Sekunde, würde ich sagen, doch das mit der Landung müssen wir unbedingt üben. Wo sind wir hier eigentlich?« Ich werfe Finley einen fragenden Blick zu.

    »Keine Ahnung«, antwortet er und hebt theatralisch die Arme. Die schneidende Kälte scheint ihm beneidenswerterweise nichts auszumachen.

    »Was soll das bedeuten? Ich denke, springen ist begrenzt auf Orte, die man kennt?«

    »Ja, bloß bin nicht ich derjenige, der uns hierhergebracht hat.«

    Bloß bin nicht ich derjenige, der uns hierhergebracht hat. Finleys Worte sickern in mein Unterbewusstsein und erreichen ganz langsam mein Gehirn.

    »Was willst du mir damit sagen?«, erkundige ich mich, in der Hoffnung, dass es eine andere Erklärung gibt als die, die unmittelbar auf der Hand liegt.

    »Nach was klang es denn in deinen Ohren?« Er klingt rau, als würde er mich herausfordern. Lässig steht er da und verschränkt die Arme vor der Brust. Cool. Distanziert. Abwartend. Sandkörner haften an Jacke und Jeans. Der kalte Nordwind bläst ihm eine Haarsträhne ins Gesicht. Man könnte sein Auftreten beinahe als verwegen bezeichnen. Eine Mischung aus Jack Sparrow und Nathaniel Archibald aus Gossip Girl … Erde an Erin?, reiße ich mich aus meinen Gedanken. Ich muss mich ernsthaft beherrschen, nicht anzufangen zu sabbern, und zwinge mich, ihm in die grauen Augen mit dem blauen Schimmer zu sehen, um mir ins Gedächtnis zu rufen, was er ist und was er mir ein paar Tage zuvor antun wollte. »Willst du damit sagen, dass ich das war?«

    »Ja.« Seine Pupillen verengen sich und er unterzieht mich einem prüfenden Blick, der sich anfühlt, als ob er in mein Innerstes vordringt. Nichts an Finleys Erscheinung wirkt auf mich, als hätte er sich einen Spaß mit mir erlaubt. Im Gegenteil. Für seine Verhältnisse ist er seltsam ernst und erinnert mich viel stärker an den Mann, mit dem ich vor wenigen Tagen eine Bekanntschaft der etwas anderen Art machen durfte, oder besser gesagt musste. Ich werde nervös und fühle mich genötigt, die ganze Situation auflockern zu müssen. »Gut, dass in diesem Keller wenigstens einer von uns klar denken konnte. Dank dir wären wir fast zu Hühnerfrikassee verarbeitet worden.«

    »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

    »Welch durchdachte Antwort. Magst du mich noch an weiteren kryptischen Anspielungen teilhaben lassen?«

    »Nope, und nur für den Fall, dass es dein Gehirn bei all diesen aufregenden Dingen nicht verarbeiten konnte, ich hätte uns jederzeit aus dem Keller rausbringen können.« Seine letzten Worte durchdringen mich wie ein Erbeben. So sehr, dass ich die Beleidung glatt überhöre.

    »Du elendiger Mistkerl! Du hast das alles geplant!«, brülle ich.

    »Gut möglich«, haucht er und ein heimtückisches Lächeln mischt sich in seine Züge. »Eventuell wollte ich auf diese Weise herausfinden, was in dir schlummert und ob du es einsetzen kannst, nachdem unsere letzte Trainingseinheit so danebengegangen ist …«

    »Und da dachtest du, ein Feldversuch wäre ganz nett? Hat dir mal jemand gesagt, was für ein mieses Arschloch du bist? Ich hatte da unten verdammte Angst und hab mir fast in die Hose gemacht! Und jetzt kommt Mister Obercool altklug um die Ecke und erzählt mir, dass alles bloß ein Experiment war. Stehen bei dir noch alle Tassen im Schrank? Sehe ich aus wie ein Versuchskarnickel?« Ich rede mich in Rage, werde mit jedem Wort lauter.

    »Erin, jetzt beruhig dich doch«, mahnt er und bewegt beschwichtigend die Hände.

    »Sag du mir nicht, was ich tun soll!« Ich stoße ihn von mir, als er einen weiteren Schritt auf mich zu macht.

    Finley seufzt. »Du bist echt schwierig. Andere wären dankbar für das, was ich getan habe.«

    »Für was sollte ich dir dankbar sein? Dass ich mich beinahe eingenässt hätte? Wow, danke fürs Zurückkatapultieren ins Säuglingsalter.«

    »Nein«, meint er und schüttelt den Kopf, während meine letzten Worte an ihm abprallen wie eine Fliege an einer Frontscheibe. »Weil ich dafür gesorgt habe, dass du jetzt in der Lage bist zu springen.«

    »Wenn du glaubst, dass ich dir dafür wie ein Groupie um den Hals falle, hast du dich geschnitten.«

    »Puh«, macht er und atmetet geräuschvoll aus. »Gut, dass du das sagst, ich hatte nämlich schon Schweißausbrüche deswegen …«

    »Ich mach dich fertig!« Ein Schritt nach vorn und meine Faust versenkt sich bereits in seiner Magengrube. Finley ringt nach Luft. Die Reaktion hat er nicht kommen sehen und dennoch gelingt es ihm, meine Hände in seine Gewalt zu bringen.

    »Wow, jetzt mach mal halblang! Heb dir das besser für unsere Feinde auf.«

    »Lass mich los!«, schreie ich und rangle mit ihm. Was ungefähr denselben Effekt hat, als würde ich gegen einen Sumoringer antreten. Keinen.

    »Beruhig dich erst mal!« Plötzlich ist sie weg, die Wut. Keine Ahnung wohin, doch stattdessen fühle ich mich leer und verraten. »Warum hast du das getan?«, flüstere ich und würde mich am liebsten selbst ohrfeigen.

    Verdammt. Das Blitzen in seinen Augen verrät mir, dass er mich längst durchschaut hat. Wahrscheinlich eher als ich mich selbst. Denn wenn ich ehrlich bin, herrscht in mir das pure Chaos. Ich bin verwirrt und aufgewühlt. Eigentlich sollte ich ein ganz normales Mädchen sein, das zur Schule geht, Hausaufgaben macht und Zeit mit seinen Freunden verbringt. Vielleicht sogar mit dem einen Freund. Meine Gesprächsthemen sollten sich um Make-up, Jungs und Filme drehen, nicht um Monster, Verfolgungsjagden, Magie und der Frage, warum mir jemand nach dem Leben trachtet. Verdammt, bin ich hier in den Chroniken der Unterwelt gelandet? Ich heiße doch nicht Clary!

    Ich bin Erin, denke ich und seufze. Die Tatsache, dass ich nicht mal in der Lage bin, eine Straßenkarte zu lesen, und über übernatürliche Kräfte verfügen soll, ist absurd. Alles, was in den letzten Tagen geschehen ist, war absurd und erinnert mich an einen schlecht gemachten Thriller, doch dummerweise kann ich die Welt und die Geschehnisse darin nicht ausschalten, wie ich es bei einem Film tun konnte. Nicht zu vergessen der Fakt, dass Schauspieler während Dreharbeiten nur äußerst selten draufgehen …

    »Über was denkst du nach?«, durchschneidet Finley die Stille zwischen uns und mir wird bewusst, dass er mich die ganze Zeit über beobachtet hat. Unangenehme Schauer schütteln mich.

    »An nichts«, erwidere ich schnell und drehe mich umgehend weg. Zu spät.

    »Du solltest unbedingt lernen, besser zu lügen«, bemerkt er amüsiert.

    »Und du aufhören, dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen.«

    »Ach?« Er macht einen Schritt auf mich zu und schiebt seine rechte Hand unter mein Kinn, sodass ich ihm nicht ausweichen kann. »Tun sie das nicht? War ich nicht das Zentrum deiner Gedanken?«

    »Nein«, brumme ich, während mein verräterischer Herzschlag sich beschleunigt. Aber jetzt, wird mir bewusst und meine Wangen beginnen zu glühen.

    »Wirklich nicht?«

    »Nein!«

    »Wie ich bereits erwähnte: Lerne, besser zu lügen und dich zu verstellen. Dann glaube ich dir in Zukunft vielleicht ausnahmsweise mal.«

    »Und wenn du es nicht tust, ist mir das genauso schnuppe! Jetzt nimm deine Hand weg!«, gebe ich trotzig zurück, drehe den Kopf zur Seite und verschränke entschlossen die Arme vor meiner Brust. Eine eindeutige Geste, die selbst er versteht. Zufrieden stelle ich fest, dass er tatsächlich die Hand zurückzieht und schiele zu ihm.

    Der Ausdruck in seinen Augen lässt mich aufkeuchen. Todernst starrt er mich an und ich habe das Gefühl, dass er sich jede Sekunde auf mich stürzen könnte. »Finley«, hauche ich und kann die Panik in meiner Stimme nicht verbergen. Wir sind allein und mir gehen die Gedanken von vorhin nicht aus dem Kopf. Er wollte dich schon mal töten … »Finley«, versuche ich es dieses Mal mit möglichst fester Stimme und lasse ihn keine Sekunde aus den Augen, während ich ein paar Schritte nach hinten mache.

    »Was hast du denn, Erin?«, knurrt er und folgt mir. »Hast du etwa Angst vor mir?«

    »Nei-in«, stottere ich und stoße gegen einen Felsen.

    »Dann ist doch gut. Komm wieder her.« Er streckt die Hand nach mir aus. Das erste Mal sehe ich die Dunkelheit um ihn herum. Tiefe Schwärze, die sich um ihn sammelt. Ein Rückschluss auf seine Seele?

    »Bleib stehen! Wag es nicht, näher zu kommen!«, fauche ich wie ein verletztes Tier.

    Schlagartig ändert sich die Situation. Der fiese Ausdruck weicht einem Grinsen. Die Dunkelheit schwindet und ich realisiere, dass er mit mir gespielt hat. »Du erbärmliches Arschloch!«

    »Als erbärmlich würde ich meine Einlage nicht unbedingt bezeichnen«, meint er und bricht in Lachen aus.

    »Du hast mir eine Scheißangst eingejagt! Was ist daran so witzig?«, schimpfe ich.

    »Dein Gesichtsausdruck. Allein der ist diese ganze Sache wert gewesen.«

    »Toll, hast du dich genug amüsiert? Wir haben da nämlich immer noch ein ziemliches Problem. Es hat mit ein paar deiner Freunde zu tun, die uns nach wie vor tot sehen wollen.« Augenblicklich wird er ernst.

    »Denkst du wirklich, ich könnte das vergessen?«

    »Ich wollte nur sichergehen, nachdem du so in deiner Rolle aufgegangen bist.«

    »Na, wenigstens kann einer seinen Part spielen …«

    »Behauptest du etwa, dass ich kein Talent hätte?« Im Nu sind mir Alistair und seine Kumpane egal. Das hier wurde zu was Persönlichem.

    »Nein, ich weiß, dass du keines hast, Schätzchen.«

    »Ich bin weder dein Schätzchen noch eine schlechte Schauspielerin!«

    »Nein? Deine Vorstellung vorhin war jedenfalls ziemlich grottig, ganz im Gegensatz zu meiner.«

    »Bullshit, du hast mich bloß auf dem falschen Fuß erwischt«, brumme ich und fühle mich prompt genötigt, etwas zu kontern. Selbst wenn es nur der kleinste Strohhalm war … »Ich bin sogar so fantastisch, dass ich die Hauptrolle in unserem letzten Schultheaterstück ergattert habe. Pah, damit hast du ganz sicher nicht gerechnet!«, pfeffere ich unüberlegt zurück.

    »Dornröschen zählt nicht, die hat fast das gesamte Stück verschlafen.«

    »Sie zählt wohl!«, fauche ich und sehe, wie sich sein markantes Gesicht zu einem widerwärtigen Grinsen verzieht. »Entschuldigt, Eure Hoheit. Belehrt mich eines Besseren, aber ich habe damals sage und schreibe vielleicht zehn Sätze von Euch vernommen.«

    »Du hast es dir angesehen?« Ich fühle mich völlig überrumpelt.

    »Ja, sogar jede Aufführung, und ich gebe zu, beim letzten Auftritt ist es mir sogar gelungen, nicht wegzunicken.«

    Ich will ihn anbrüllen oder doch lieber gleich erwürgen, bis mir etwas Entscheidendes in den Sinn kommt. Er hat dich beschattet. Über Monate hinweg. Die Worte blinken in meinem Kopf wie eine Leuchtreklame. An. Aus. An. Aus. »Wo warst du noch mit dabei?«

    »Willst du eine ehrliche Antwort?«

    »Was sollte ich sonst wollen? Dass du mich schonst?«, sage ich sarkastisch und bemerke, wie der sonst so obercoole Draufgänger auf der Stelle auf und ab wippt.

    »Na gut, ich war eigentlich überall. Außer mit im Bad.«

    »Wow, ein echter Gentleman. Erwartest du, dass ich dir dafür dankbar bin?«, zische ich.

    »Nein.« Sein Gesichtsausdruck wird ernst. »Ich habe getan, was ich musste. Es war mein Job und dafür werde ich mich nicht entschuldigen.« Finley nimmt eine geradere Haltung ein und sieht mich entschlossen an. »Außerdem solltest du nicht vergessen, dass an meiner Stelle auch ein anderer Dunkelschatten hätte sein können …«

    »Du meinst einer, der mir nicht auflauert und versucht, mich kaltzumachen?«

    »Ich wollte …« Finleys entschlossener Blick fällt von ihm ab und wirkt beinahe gequält. »Erin«, haucht er, doch ich schüttle den Kopf. Eine Begründung oder gar eine Entschuldigung ändert nichts an seiner Tat. Es sollte in diesem Augenblick das Letzte sein, was mir Sorgen bereiten sollte, aber darauf achtet mein Herz nicht. Es fühlt sich nackt und bloßgestellt.

    »Wie lange?«, flüstere ich.

    »Ein halbes Jahr«, gibt er zu und hüllt uns in Schweigen. »Es tut mir leid«, sagt er schließlich und tritt nach etwas auf dem Boden.

    »Du weißt doch nicht mal, was diese Worte bedeuten«, murre ich und wende mich ab. Trotz allem, was zwischen uns passiert ist, kann ich nicht leugnen, was ich für ihn fühle. Umso schlimmer war dieses Geständnis, von dem ich gewusst hatte, dass es eines Tages kommen musste.

    Mein Unterbewusstsein hatte die ganze Zeit gewusst, dass Finley mich bespitzelt hatte. Warum war es jetzt verdammt noch mal so schwer, es zu akzeptieren und abzuhaken? »Wir sollten weiter«, bemerke ich, um endlich dieser ganzen Situation zu entfliehen.

    »Weiter«, wiederholt er.

    »Ja, oder hast du vor, hier Wurzeln zu schlagen?«

    »Ich dachte eigentlich, dass du mich noch eine Weile in der Kälte beschimpfen willst.«

    »Nein, verlegt auf später«, fauche ich, als der Wind stärker wird und ein Gemisch aus Schnee und Regen einsetzt. Eiskristalle verfangen sich in meinen Haaren, meine Wangen werden taub. »Gehen wir endlich irgendwohin, wo es trocken und warm ist?«

    »Und wohin?«

    »Keine Ahnung, mir egal.« Schulterzuckend wende ich mich der kargen Sandlandschaft zu. Langsam erinnere ich mich wieder. Ich war bereits mehrfach hier, während der Urlaubssaison. Eine Zeit, in der sich Handtuch an Handtuch reiht und alle paar Meter ein Eisverkäufer steht. Weiter als vom Auto bis zum Meer bin ich nie gekommen und habe dementsprechend auch keine Ahnung, ob hier etwas anderes als ein Klohäuschen steht.

    »Ein kleiner Einwurf meinerseits: Du hast uns hierhergebracht.«

    »Ja …«

    »Und?«

    »Und was?«

    Finley seufzt und lässt sich demonstrativ in den nassen Sand zu meinen Füßen plumpsen.

    »Was soll das werden?«, frage ich ihn irritiert.

    »Nichts, ich richte mich bloß darauf ein, dass es mal wieder länger dauert.«

    »Sehr witzig und so hilfreich«, maule ich und zerre an seinem Ärmel. »Jetzt komm! Wenn das von Weitem einer verfolgt, denken die Leute womöglich, dass du mir einen Antrag machst.«

    »So schlimm?« Schelmisch grinst er mich von unten an und ich verkneife mir einen Kommentar. »Nebenbei bemerkt bist du auch nicht gerade hilfreich.« Er windet sich aus meinem Griff.

    »Also schön, Mister Neunmalklug, schlagen Sie doch was vor.«

    »Dazu müsste ich erst mal wissen, wo wir uns überhaupt befinden. Ich bin nämlich nicht allwissend. Wenn deine Antwort allerdings am Strand lauten sollte, dann kannst du sie dir sparen.«

    Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mein erster Impuls war tatsächlich, am Strand zu antworten. Ein Umstand, den ich tunlichst vertuschen sollte. »Ich glaube, dieser Ort heißt Manila. Er liegt südlich von Manolin. Ungefähr fünf Stunden mit dem Auto. Wir haben letztes Jahr in der Nähe Urlaub gemacht und waren beinahe jeden Tag hier.«

    »Wenn du so oft hier warst, solltest du dich doch eigentlich auskennen«, meint er und lässt mich keine Sekunde aus den Augen, während er aufsteht und sich den Sand behelfsmäßig von der Hose klopft.

    Ich zucke mit den Achseln. »Was soll ich sagen? Ich bin eine wahre Wasserratte. Das Meer hat mir voll und ganz genügt.« Er musste nun wirklich nicht wissen, dass ich die Tage mit dem Anschmachten eines supersüßen Jungen verbracht und mich maximal in meiner Liege umgedreht habe, um ihn besser anglotzen zu können …

    »Wenn dem so ist, will ich dich nicht aufhalten.« Finley deutet zum Wasser.

    »Nein, kein Bedarf. Vielleicht irgendwann, wenn ich nicht so müde bin«, lehne ich dankend ab und unterdrücke ein Gähnen.

    »Hör sofort auf zu gähnen!«

    »Hab ich doch gar nicht«, murre ich.

    »Du warst kurz davor!«

    »Ach, spricht da etwa ein pathologischer Mitgähner?«, provoziere ich und reiße demonstrativ meinen Mund auf. Eigentlich wollte ich ihn bloß reizen, doch das Gähnen kommt ganz von allein. Ohne Anstrengung.

    »Wird Zeit für einen Kaffee«, beschließt Finley.

    »Oder ein Bett«, ergänze ich.

    »Nein, dafür haben wir keine Zeit. Wir haben sowieso schon genug davon verschwendet. Die Dunkelschatten sitzen uns im Nacken. Jetzt komm.« Er greift nach meinem Arm. Ich bin zu perplex, um mich ihm zu entziehen, und stolpere bereits in der nächsten Sekunde hinter ihm her.

    »Hey, wo willst du hin?«

    »Wenn ich mich nicht irre, gibt es hier in der Nähe irgendwo eine Strandpromenade und dort ein niedliches kleines Café. Ein Kaffee sollte zum Wachwerden genügen«, bemerkt er, ohne stehen zu bleiben. Wenigstens lässt er meinen Arm los, damit ich besser laufen kann.

    »Du kennst dich hier aus?«, erkundige ich mich überrascht und beeile mich, mit ihm Schritt zu halten.

    »Ein wenig«, gibt er zu, mutiert jedoch nicht zur Plaudertasche und ich bohre nicht weiter. Zumindest nicht, nachdem mir der ernste Gesichtsausdruck und das Flackern in seinen Augen aufgefallen ist.

    Als die Strandpromenade in unser Sichtfeld rückt, bleibe ich stehen.

    »Erin?« Finley beugt sich zu mir.

    »Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Ich meine, dort werden Menschen sein.«

    »Das haben Cafés gewöhnlicherweise an sich.« Ein Lächeln erhellt seine Züge, als wolle er mir damit die Angst nehmen.

    »Ja, bloß ist das der richtige Ort?«

    »Wofür? Für einen Kaffee? Auf jeden Fall, glaub mir, du bist nicht die Einzige, die müde ist. Ich brauche einen doppelten Espresso, sonst kann ich für nichts mehr garantieren.«

    Dem habe ich nichts entgegenzusetzen.

    Finley

    Automatisiert wie ein Roboter setzte ich Fuß vor Fuß und bewege mich unsicher vorwärts. Ich habe keinen Scherz gemacht, als ich sinngemäß zu Erin sagte, dass ich im Stehen einschlafen könnte. Seit der Dunkelschatten meinen Körper verlassen hat, tickt dieser anders. Schlafentzug oder Gewaltmärsche, die mich vorher nicht die Bohne beeindruckt haben, zwingen mich jetzt in die Knie. Ich spüre die Müdigkeit in sämtlichen Knochen. Mir diesen Umstand nicht anmerken zu lassen und ihr damit keine Sorgen zu bereiten, fällt mir extrem schwer. Jede Faser ruft nach Schlaf, doch ich habe Erin die Wahrheit gesagt. Wir sind in Gefahr. Sie wird gesucht und ich bin vogelfrei. Selbst Schatten, die uns zufällig entdecken, sind potenzielle Feinde. Wir brauchen einen Ort außerhalb ihrer Reichweite, um unsere nächsten Schritte zu überlegen. Und um einen Wochenvorrat an Koffein einzuwerfen, ergänze ich gedanklich und richte den Blick nach vorn. Tatsache ist, dass meine Fähigkeiten, Schatten aufzuspüren, deutlich nachlässt. Ich hoffe, nein, ich bete darum, dass es sich dabei bloß um ein Geschenk der Müdigkeit handelt.

    Eine seltsame Anspannung überkommt mich, als das Café von damals in mein Sichtfeld rückt. Ich neige den Kopf und versuche zu ergründen warum, kann es aber nicht. Schließlich schiebe ich die Eingebung auf unsere Situation.

    »Ist alles in Ordnung?«, ertönt es unmittelbar neben mir und ich zucke merklich zusammen.

    »Scheiße«, fluche ich. Ich habe tatsächlich nicht bemerkt, dass sie zu mir aufgeschlossen hat.

    »Woah«, macht sie und schiebt eine entschuldigende Geste hintenan. »Ist mein Anblick so furchtbar?«

    »Nein, absolut nicht.« Entschuldigend schüttele ich den Kopf. »Ob du es glaubst oder nicht, ich bin total durch.«

    »So schlimm?«, hakt sie nach und ich kann die Besorgnis beinahe körperlich spüren.

    »Es geht schon«, murmele ich und spanne den Körper an. Der kalte Wind und der Schneeregen, die mir ins Gesicht klatschen, sorgen dafür, dass ich wenigstens meine übrigen Sinne bei mir behalte. Erst als wir die Promenade betreten, wage ich es, erleichtert durchzuatmen.

    »Wollen wir wirklich da rein?« Stirnrunzelnd deutet sie auf das Schild, das einige Meter weiter vorn im Wind hin und her schaukelt.

    »Du kennst unser Dilemma. Hast du eine bessere Idee?« Erin schüttelt den Kopf und wir erreichen den Eingang. »Dachte ich mir«, bemerke ich und halte ihr die Tür auf. »Denk dran: tick tack, tick, tack.«

    »Jaja«, murmelt sie und schlüpft an mir vorbei.

    »Überleg dir schon mal einen Plan«, flüstere ich ihr ins Ohr, während ich sie vor mir in die hinterste Ecke des Raumes manövriere. Es ist keine Ausrede und auch kein Versuch, sie zu besänftigen. Unsere nächsten Schritte müssen gut durchdacht sein. »Dunkel­schatten lernen schnell. Besonders aus ihren Fehlern. Beim nächsten Mal werden wir nicht so einfach entkommen können.«

    Das Café ist genau so, wie ich es vom letzten Besuch in Erinnerung habe. Gemütlich und verwinkelt, so wie ich es gern habe.

    »Setz dich«, fordere ich und deute auf die Bank.

    Wir sitzen kaum eine Minute, da erscheint eine rundliche Bedienung an unserer Seite und mustert uns äußerst kritisch. »Guten Morgen, ihr Herzen«, begrüßt sie uns mit Worten, die eindeutig nicht zu ihrem Gesichtsausdruck passen. »Lasst mich kurz klarstellen, dass ich lediglich ernsthafte Kundschaft bediene und es hier drin kein WLAN gibt. Wie sieht es also aus? Wollt ihr nicht gehen?«

    Erin will offensichtlich zu einer spitzen Bemerkung ansetzen, doch ich trete ihr gekonnt gegen das Schienbein.

    »Aua«, keucht sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und wirft mir einen bitterbösen Blick zu.

    »Wie bitte?«, erkundigt sich die Frau skeptisch.

    »Verzeihen Sie bitte. Meine Freundin ist leicht erkältet und hat ihre Tage. Sie ist im Moment etwas nah am Wasser gebaut. Geht es wieder, mein Schatz?« Ich werfe einen mitfühlenden Blick zu Erin und widme mich dann wieder der Bedienung. »Wir sind nicht wegen WLAN oder Ärger hier. Man sagte uns, bei Ihnen gibt es den besten Kaffee der ganzen Gegend.«

    »Ach, sagt man das?«

    »Ja, wären Sie so freundlich, uns zwei zu bringen? Wir würden gern mitreden können, und dann vielleicht noch die Karte«, bringe ich besonders liebenswürdig hervor und lächele sie an. Mein Charme wirkt, das Misstrauen in ihrem Gesicht lichtet sich.

    »Ist gut. Der Kaffee kommt sofort, aber leider kann ich euch nicht mit einer Karte dienen. Wir backen jeden Tag frisch und so wie es mir passt. Alle Brote, die wir führen, sind vorn an der Tafel aufgelistet, bei Kuchen habt ihr heute lediglich die Wahl zwischen Apfel und Pflaume. Wir sind außerhalb der Saison, da machen wir hier draußen keinen großen Aufriss.«

    »Selbstverständlich. Ich würde ein Stück Pflaumenkuchen nehmen und du, mein Schatz?«

    »Schatz?«

    »Mach bloß keine Szene«, mahne ich sie über die Verbindung.

    »Dann halt dich gefälligst zurück!«

    »Ich nehme Apfel, mein Bärchen«, sagt sie zuckersüß. Die Frau nickt wissend und lässt uns allein.

    »Bärchen?«

    »Das war das Mindeste! Freundin? Tage? Bei dir hackt es wohl?«, schnaubt sie mit hochrotem Kopf, als die Bedienung endlich außerhalb der Hörweite ist.

    Ich hebe entschuldigend die Arme. »Mir ist eben auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen, bevor Miss Kratzbürstig hier den nächsten Streit vom Zaun bricht und alles versaut.«

    »Haha, sehr witzig.« Sie beißt sich schmollend auf die Unterlippe.

    »Du siehst niedlich aus, wenn du so drauf bist«, sage ich, ohne nachzudenken. Ohne Vorwarnung beginnt ihr Gesicht zu glühen. Ich kann förmlich live miterleben, wie es unter der Oberfläche brodelt. Die goldenen Funken in ihren Augen tanzen unruhig umher wie bei einer Wildkatze. Tödlich, aber durchaus sexy.

    »So, meine Lieben, hier kommt eure Bestellung. Kaffee und mein hausgemachter Kuchen. Veredelt mit meiner Spezialzutat«, unterbricht die Frau meinen gefährlichen Gedankengang und gleichzeitig unseren Zwist. Mit einem entwaffnenden Lächeln setzt sie uns ein Tablett vor die Nase und verteilt die Teller und Tassen. »Bitte schön, lasst es euch schmecken; und wenn etwas sein sollte, ruft einfach nach mir. Ich bin hinten und mache die Bestellungen für morgen fertig.«

    »Vielen Dank, das werden wir«, erwidere ich charmant. Die Frau wird rot und zieht sich mit einem Grinsen im Gesicht zurück.

    »Schleimer«, kommt es von meiner neuen Partnerin.

    »Mit Nettigkeit kommt man im Leben eben weiter.« Lässig streife ich mir die Jacke von den Schultern. Langsam weicht die Kälte aus meinem Körper und ich beginne mich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Ein ziemlich müder Mensch.

    »Lustig, dass das ausgerechnet der Dunkelschatten sagt, der mich vor nicht allzu langer Zeit kaltmachen wollte.«

    »Ehemaliger Dunkelschatten«, korrigiere ich und ignoriere beflissen den Rest ihrer Worte. Vieles in meinen Leben ist nicht nach Plan gelaufen und ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Dummerweise kann ich die Vergangenheit nicht ändern, und das ist ihr bewusst. Statt sie deshalb darüber in Kenntnis zu setzen, widme ich mich dem Kuchen.

    »Typisch Kerl, lieber essen, als sich am Gespräch beteiligen«, murrt sie.

    »Du wolltest weiter darüber reden, wie

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