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Gem Nation: Herz aus Diamant
Gem Nation: Herz aus Diamant
Gem Nation: Herz aus Diamant
eBook465 Seiten6 Stunden

Gem Nation: Herz aus Diamant

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Über dieses E-Book

Selbst die kleinste Flamme spendet Wärme. Bis zum Schluss. Und bevor sie erlischt, kann sie ein neues Feuer entfachen.

Gwyn lebt in einer geteilten Welt. Ein Großteil der Menschheit hat die Erde verlassen, die nun überwiegend von der Gem Nation, der Edelstein Nation, bewohnt wird. Doch auch die Zirkoner, grausame und seelenlose Geschöpfe, treiben ihr Unwesen in der neuen Welt und jagen die Gem Men, um an ihre Herzen zu gelangen. Als der kleine Bruder ihrer besten Freundin verschwindet, macht sich Gwyn auf die Suche nach ihm und gerät in ein Abenteuer, das alles verändert ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Mai 2020
ISBN9783751926607
Gem Nation: Herz aus Diamant
Autor

Emma K. Sterlings

Emma K. Sterlings ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1995 in Lörrach geboren und absolvierte 2014 ihr Abitur. Die Liebe zum Lesen und zum Schreiben begleitet sie schon seit ihrer frühen Kindheit. Heute verleiht sie ihrer Leidenschaft Ausdruck durch eine Ausbildung zur Buchhändlerin und das Verfassen von fantastischen Geschichten. Gemeinsam mit ihren Eltern, ihren vier jüngeren Geschwistern und sechs Haustieren wohnt sie auf dem Land und wartet noch immer auf ihren Brief aus Hogwarts oder die Einladung zu einem Disney-Casting.

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    Buchvorschau

    Gem Nation - Emma K. Sterlings

    DAS BUCH

    Selbst die kleinste Flamme spendet Wärme. Bis zum Schluss. Und bevor sie erlischt, kann sie ein neues Feuer entfachen.

    Gwyn lebt in einer geteilten Welt. Ein Großteil der Menschheit hat die

    Erde verlassen, die nun überwiegend von der Gem Nation, der »Edelstein-Nation«, bewohnt wird. Doch auch die Zirkoner, grausame, seelenlose Geschöpfe, treiben ihr Unwesen in der neuen Welt und jagen die Gem Men, um an ihre Herzen zu gelangen. Als der kleine Bruder ihrer besten Freundin verschwindet, macht sich Gwyn auf die Suche nach ihm und gerät in ein Abenteuer, das alles verändert...

    DIE AUTORIN

    Emma K. Sterlings ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Sie wurde 1995 in Lörrach geboren und absolvierte 2014 ihr Abitur. Die Liebe zum Lesen und zum Schreiben begleitet sie schon seit ihrer frühesten Kindheit. Heute verleiht sie ihrer Leidenschaft Ausdruck durch eine Ausbildung als Buchhändlerin und das Verfassen von fantastischen Geschichten. Gemeinsam mit ihren Eltern, vier jüngeren Geschwistern und sechs Haustieren wohnt sie auf dem Land und wartet noch immer auf ihren Brief aus Hogwarts oder die Einladung zu einem Disney-Casting.

    Für alle ungeschliffenen Diamanten, Träumer und Wunschdenker da

    draußen. Hört nie auf, nach den Sternen zu greifen.

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Fünftes Kapitel

    Sechstes Kapitel

    Siebtes Kapitel

    Achtes Kapitel

    Neuntes Kapitel

    Zehntes Kapitel

    Elftes Kapitel

    Zwölftes Kapitel

    Dreizehntes Kapitel

    Vierzehntes Kapitel

    Fünfzehntes Kapitel

    Sechzehntes Kapitel

    SiebzehnteS Kapitel

    Achtzehntes Kapitel

    Neunzehntes Kapitel

    Epilog

    ERSTES KAPITEL

    Vorsichtig spähte ich über die Mauer. Dahinter verhielt sich alles ruhig und unauffällig. In der Morgendämmerung lagen die leeren Straßen da wie ausgelegte Stoffbahnen. Nur ab und zu sah man mal eine Katze oder ein Huhn, das wohl aus einem der nahe gelegenen Ställe ausgebrochen war und sich ins Innere der kleinen Stadt verirrt hatte, in einer der dunklen Gassen verschwinden. Der Nebel waberte in dichten, grauen Dunstschleiern um die Häuser des Türkiser Stammes und verhüllte deren Dächer wie ein Schleier das Gesicht einer unschuldigen Braut. Hinter keinem der Fenster brannte bisher ein Licht. Die Bewohner schienen also alle noch friedlich schlummernd in ihren Betten zu liegen.

    Als ich mir dessen ganz sicher war, hievte ich mich beherzt auf die mit Moos bewachsene Stadtmauer und sprang auf der anderen Seite mit einem Satz wieder hinunter. Dabei versuchte ich, möglichst auf den Fußballen zu landen und mich mit den Handflächen auf dem kiesigen Boden abzustützen, um den Sprung besser abfedern zu können. Mit der Zeit hatte ich meine Taktik optimiert und von Mal zu Mal tat der Sturz von den knapp zweieinhalb Meter hohen Mauern weniger weh. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie ich mir bei einem meiner ersten Versuche das rechte Handgelenk ordentlich verstaucht hatte, weil ich unglücklich aufgekommen und umgeknickt war. Danach konnte ich tagelang nicht mehr beim Verarbeiten der Spinnenseide helfen und mein Vater war ziemlich böse auf mich gewesen. Ich hatte zwar versucht, es vor ihm zu verheimlichen, aber eigentlich hätte ich es besser wissen sollen. Es war praktisch unmöglich, irgendetwas vor unserem Stammesoberhaupt geheim zu halten. Als er erfahren hatte, dass mein Handgelenk verletzt war, war er regelrecht ausgetickt. Er hatte mich angeschrien und mich zornig zurechtgewiesen, ich könne froh sein, dass es das rechte und nicht das linke Handgelenk gewesen sei. Denn dann wäre es lebensbedrohlich geworden. Da ich jedoch sein Temperament geerbt hatte, war ich ebenfalls böse geworden und hatte wiederum ihm entgegnet, er solle mich nicht immer wie ein Kind oder irgendeinen zerbrechlichen Gegenstand behandeln. Zumal ich ja als zusätzlichen Schutz meine Armklemme trug. Gott sei Dank war mein Vater nicht auch noch hinter den Grund für meine Verletzung gekommen. Den hatte er wohl aus lauter Ärger über die Verstauchung gar nicht mehr erfragt. Wenn er wüsste, dass ich mich des Nachts manchmal aus unserem Lager schlich, um andere Stämme um ein paar Rohstoffe zu erleichtern, ließe er mich wohl nicht mehr aus den Augen. Dabei würden wir ohne die zusätzlichen Nahrungsmittel, die ich unserem Stamm damit bescherte, wohl mehr schlecht als recht über die Runden kommen. Und außerdem stahl ich ja auch nur von den wohlhabenderen Stämmen, die in diesen schweren Tagen ohnehin mehr als genug zu essen hatten, während mein Volk mit dem Hunger rang. Damit versuchte ich stets, mein eigenes Gewissen etwas zu besänftigen.

    Ich richtete mich wieder auf und schulterte meinen Rucksack, in dem ich zwei leere Leinensäcke und drei Botas untergebracht hatte. Mehr würde ich nicht tragen können. In gefülltem Zustand wögen die Behältnisse mehrere Kilos und ich musste sie wieder ganz alleine über die Mauer zu unserem Lager transportiert bekommen.

    So leise wie ich nur konnte, huschte ich mit meinem Gepäck über den mit Kies bedeckten Grund und versteckte mich hinter dem nächstgelegenen Stamm eines Baumes. Wenn ich von den Mitgliedern des Türkiser Volkes unentdeckt bleiben wollte, musste ich mich möglichst unsichtbar halten. Bisher war es selten vorgekommen, dass ich bei einem meiner nächtlichen Ausflüge von jemandem gesehen wurde, aber wenn, dann war ich zum Glück immer rechtzeitig davongekommen, bevor derjenige seine Angehörigen informieren konnte und die ganze Stadt in Aufruhr geriet. Die Türkiser waren eines von insgesamt einundzwanzig Völkern unserer großen Nation. Der Gem Nation. Und ihr Volk gehörte eindeutig zu den Wohlhabenderen unter uns. Dies verdankten sie wohl unter anderem auch der Tatsache, dass sie zusammen mit den Korallen, den Lapislazuli und den Hämatiten in diesem Jahr vom Kreis der Großen Zwanzig dazu erwählt worden waren, die Nahrungsvorräte der gesamten Nation zu verwahren und verwalten. Diese bestand aus den einundzwanzig großen Völkern, die sich wiederum in mehrere hundert Stämme aufgliederten und über die gesamten Kontinente verteilt lebten. Mein Volk jedoch besaß weder Wahl- noch Mitspracherecht in jeglichen politischen Angelegenheiten. Die ehrenvolle Aufgabe der Rohstoffverwaltung wurde jedes Jahr aufs Neue an vier andere Völker vergeben, damit Gleichberechtigung und Sicherheit unter den Stämmen herrschten. Davon merkte ich jedoch nicht die Bohne. In diesem Jahr wurde jedenfalls den Türkisern diese Aufgabe zuteil, weshalb auch in dieser Stadt nur etwa die Hälfte des Stammes ansässig war. Die meisten von ihnen waren abgezogen und zur Großen Halle berufen worden, wie der Lagerort der Vorräte genannt wurde. Er befand sich auf Middle Island, einer kleinen, bislang unbewohnten Insel im Südatlantik, von wo aus die Vorräte dann in die gesamte Welt verschickt und aufgeteilt wurden. Die Verwaltung der Vorräte war eine große Verantwortung und daher wurden die Völker, die gerade damit beauftragt waren, auch entsprechend entlohnt. Dies wurde durch die großen Karren bestätigt, die immer reich beladen waren mit Rohstoffen. In der vergangenen Woche hatte ich vom Waldrand aus beobachtet, wie im Rhythmus von zwei Tagen jeweils drei der schweren Holzgefährte von mehreren schwarzen Donnerhuflern ins Innere der Türkiser Stadt gezogen wurden. Innerhalb der Stadtmauern wurden sie dann, wie bei den meisten Stämmen, in geräumigen Lagerhäusern am Stadtrand entladen und die Nahrungsmittel und Getränkevorräte dort aufbewahrt, bis irgendjemand vom Stamm etwas davon benötigte. Dann konnte er dorthin gehen und nach einer Ration verlangen. In der Regel aber wurden Teile des Vorrates immer einmal in der Woche an die ganze Stadt verteilt. Nur an unseren Stamm verteilte niemand etwas.

    Achtsam lugte ich hinter meinem Versteck hervor und warf einen Blick auf das runde, steinerne Lagerhaus der Türkiser, welches einige Meter entfernt von meinem Baum im Morgendunst ruhte. Links und rechts vom Eingang bemerkte ich zwei großgewachsene Männer, deren schwarzes Haar von einigen blau-grünen Strähnen durchfärbt war. Offensichtlich waren sie dort platziert worden, um Wache zu halten und ihre Vorräte vor möglichen Dieben und Plünderern zu schützen. Was mir aufgrund der Tatsache, dass ich gerade tatsächlich vorhatte, sie zu bestehlen, ziemlich plausibel erschien. Da ich auf diese Art von Hindernis allerdings vorbereitet war, nahm ich meinen Rucksack vom Rücken und kramte aus dessen Innerem zwei dünne Blasrohre hervor, die ich selbst aus einem ausgehöhlten Ast gefertigt hatte. Dann zog ich eine Pinzette und eine kleine, gläserne Ampulle aus der Seitentasche meiner khakigrünen Jacke, die ich als Tarnung über meiner weißen Volkstracht trug. In dem schmalen Gefäß befanden sich einige braune Samenkörner. Behutsam öffnete ich den Verschluss der Ampulle und beförderte mit der Pinzette ein kieselsteingroßes Exemplar des Saatguts heraus, das ich zuvor in dem Saft eines Lianen-Gewächses getränkt hatte. Der Saft dieser Pflanzeenthielt ein Gift, das zwar eine betäubende Wirkung entwickelte, sobald es Hautkontakt bekam, sich aber ansonsten recht ungefährlich verhielt. Kam man damit in Berührung, schlief man lediglich ein und wurde für etwa einen halben Tag außer Gefecht gesetzt. Unser Stamm war durch Zufall auf dieses Gift gestoßen, als einer unserer Ältesten es vergangenes Jahr auf der Suche nach einer wirksamen pflanzlichen Medizin gegen Magenkrämpfe entdeckt hatte. Aufgrund der Nahrungsmittelknappheit innerhalb unseres Stammes mussten wir uns mit allem Möglichen behelfen, was die Natur und der Wald zu bieten hatten. Und da davon nicht immer alles genießbar war, kam es in der Vergangenheit leider nicht selten vor, dass sich irgendjemand unter uns eine Vergiftung zuzog, die fürchterliche Magenbeschwerden zur Folge hatte. Jedenfalls stieß Detor – so der Name jenes Ältesten – dadurchauf die narkotische Wirkung der Pflanze. Bei der Extraktion einiger Pflanzensäfte fand mein Vater ihn plötzlich schlummernd über seiner Arbeit wieder. Während seines Nickerchens hatte man noch so oft versuchen können, den alten Mann zu wecken – er schlief einfach weiter und wachte erst Stunden später wieder auf. Detor musste wohl versehentlich mit dem Gift der Pflanze in Berührung gekommen sein. Und da er keine Ahnung hatte, welche Wirkung es besaß, konnte er auch nicht erahnen, was geschehen würde. Nachdem er dann wieder zu sich gekommen war, untersuchte er das toxische Gewächs noch einmal vorsichtiger und kam auf diese Weise hinter sein Geheimnis.

    Ich jedenfalls fand die betäubende Wirkung des Saftes überaus hilfreich und sie erwies sich bei meinen Borgungsausflügen als sehr nützlich. Mithilfe der Pinzette ließ ich nacheinander zwei der Samenkörner in den Blasrohren verschwinden und pirschte mich dann diskret an die zwei Wachen heran. Als sie mir ungefähr in geeigneter Reichweite schienen, duckte ich mich hinter einen Busch und ging in Schussposition. Mit einer raschen Handbewegung strich ich mir ein paar Strähnen meines widerspenstigen, weißblonden Haares aus der Stirn, welches die Angewohnheit besaß, mir andauernd ins Gesicht zu fallen. Dann legte ich das erste Blasrohr an die Lippen und zielte auf den Mann, der rechts neben der Tür und damit weiter von mir entfernt stand. Jetzt bloß nicht einatmen, rief ich mir in Erinnerung, sonst wäre es nämlich ich selbst, die in wenigen Augenblicken hier narkotisiert hinter dem Busch liegen würde. Mit genügend Pflanzengift intus, um bis in den späten Tag hinein durchzuschlafen. Ich wollte nicht wissen, was passieren würde, wenn ein Stammesmitglied der Türkiser mich hier bewusstlos, beziehungsweise laut schnarchend auffinden würde.

    Mit einem gekonnt dosierten Atemstoß beförderte ich das erste Samenkorn aus dem Rohr und sah erleichtert, wie es den Wachmann an einer Stelle am Hals unterhalb des Kinns traf. Der Mann gab einen überraschten Laut von sich und fuhr sich mit der Hand über die getroffene Stelle. Doch noch ehe er oder sein Kollege überhaupt begreifen konnten, was geschehen war, griff ich blitzschnell nach dem zweiten Rohr und beglückwünschte mich selbst, als auch das verbliebene Samenkorn sein Ziel fand. Es vergingen keine dreißig Sekunden mehr und die beiden Männer fielen bewusstlos und wie ich bemerkte, etwas unsanft zu Boden. Das würde sicherlich ein paar blaue Flecken geben. Als ich leise über ihre schlafenden Körper hinweg stieg, entschuldigte ich mich im Stillen dafür.

    Im Inneren des Speicherhauses war es trocken und warm. Durch ein kleines Fenster unterhalb des Daches fiel ein dämmriges Licht in den halbdunklen Raum. Überall waren Kisten und Kanister aufeinandergestapelt, gefüllt mit Obst und Gemüse, getrocknetem Fleisch, Wasser und Saft. In dem, von mir aus gesehen, hinteren Teil des runden Raumes, lehnten schwere Säcke an der Wand, in denen sich unter anderem Mehl, Mais und verschiedene Getreidesorten befanden. Gleich daneben standen noch einige hölzerne Fässer und Kästen mit Garn, Fellen und Spinnenseide. Rasch durchquerte ich den Raum und holte zunächst die drei Botas aus meinem Rucksack, um sie mit Trinkwasser aus den Kanistern zu befüllen. Als sie voll waren, ließ ich sie wieder im Inneren des Rucksacks verschwinden und griff nach den Leinensäcken. Ich begann damit, Mehl und Getreide in einen der großen Säcke zu schaufeln, da sich diese am längsten halten würden. Obst und Gemüse nahm ich immer nur in kleineren Mengen mit, da sie ziemlich schnell faulten und in größeren Vorkommen in unserem Lager auffallen würden. Unser Volk kam – wenn überhaupt – nur schwer an Lebensmittel dieser Art heran. Ich hatte den ersten Sack schon beinahe bis zur Hälfte gefüllt, als ich hörte, wie hinter mir plötzlich jemand scharf die Luft einsog. Erschrocken fuhr ich herum.

    »Was tust du hier!?«, herrschte mich eine raue Stimme an.

    Im Eingang des Hauses stand eine schlanke Männergestalt.

    Verflixt! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich jemand ertappen würde. Was sollte ich nun tun?

    Zuerst dachte ich an Flucht, aber dann würde ich all meine Sachen hier zurücklassen müssen. Die gesamte Arbeit wäre umsonst gewesen. Zudem war der einzige Weg nach draußen versperrt.

    Mein Entdecker trat einen Schritt näher an mich heran, um mich besser sehen zu können, da ich mich im Dunkeln verbarg. Als er endlich etwas erkennen konnte, sah ich, wie sich seine Augen vor Überraschung weiteten.

    Na toll! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Als wäre es nicht schon genug, dass er eine Fremde dabei erwischt hatte, wie sie seinen Stamm bestahl, nun hatte er auch noch gesehen, wie ich aussah. Und er schien zu begreifen, wen er da vor sich hatte. Gleich würden Wellen der Panik über die ganze Stadt hereinbrechen. Ich war geliefert!

    Instinktiv versuchte ich, doch zu flüchten. Ich rannte auf den Mann zu, stieß ihn mit aller Kraft zur Seite, so dass er etwas taumelte, und hastete an ihm vorbei auf die Tür zu.

    »Gwyn!?«

    Abrupt hielt ich inne. Der Fremde hatte meinen Namen genannt. Nun war es an mir, erstaunt dreinzublicken. Zögerlich wandte ich mich zu ihm um und betrachtete ihn genauer.

    Der Mann war mit einem tiefblauen Hemd und der dazu farblich passenden Hose aus leichtem Stoff bekleidet. Er trug keine Schuhe, war barfüßig. Der Saum seines Oberteiles war mit kleinen, grün schimmernden Steinen bestickt, von denen sich auch einige in einer seiner pechschwarzen Haarsträhnen entdecken ließen, die ihm in die Stirn fielen. Wie auch bei den Wachen zuvor, und bei eigentlich so gut wie allen Mitgliedern des Stammes der Türkiser, fanden sich wenige blau-grüne Streifen in seiner ansonsten dunklen Haarpracht wieder. Die Farbe seiner Haut war von einem hellen Karamell, genau wie seine Augen. Irgendwie kam mir der Türkiser bekannt vor. Verdammt bekannt, um ehrlich zu sein.

    Und dann fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen.

    »Mein Gott, Talek! Ist das möglich? Bist du es wirklich?«, aufgeregt lief ich ihm entgegen und umarmte meinen Freund aus Kindertagen stürmisch.

    Ich konnte es noch gar nicht richtig glauben, dass ich ihn ausgerechnet in dieser Situation wiedertraf. Mit dem ehemals schmächtigen, kleinen Türkiserjungen von damals hatte dieser zwar immer noch schlanke, aber dennoch muskulöse, junge Mann nichts mehr gemein. Er war erwachsen geworden. So wie ich.

    Talek schien sich ebenso zu freuen, mich wiederzusehen. Wenn ihm auch seine Überraschung darüber noch deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

    Talek und ich kannten uns gut von früher. Aus der Zeit, als es uns noch gestattet gewesen war, miteinander zu spielen und befreundet zu sein. Bevor man mein Volk verstoßen hatte.

    Nachdem er mich eine gefühlte Ewigkeit an sich gedrückt hatte, nahm er mich bei den Schultern und schob mich sachte ein Stück weit von sich weg. Dann wurde sein Blick wieder ernst.

    »Gwyn, was tust du hier?«, wiederholte er in gedämpftem Tonfall seine Frage von vorhin.

    »Ich klaue eure Vorräte, das siehst du doch«, lieferte ich ihm die ehrlichste aller Antworten, die mir auf der Zunge lag. Nun, da ich von meinem ehemaligen besten Freund dabei ertappt worden war, wie ich seinen Stamm ungeniert bestahl, schämte ich mich ein wenig dafür. Auch wenn ich es tat, um mein eigenes Volk damit vor dem Hungertod zu bewahren. Ich versuchte, die Stimmung aufzulockern, und lächelte etwas. Doch Talek schüttelte nur bedenklich den Kopf.

    Er eilte zur Tür, schien sich zu vergewissern, dass draußen niemand in der Nähe war, und schloss sie dann leise hinter sich.

    Als er sich wieder zu mir umdrehte, wirkte er besorgt.

    »Im Ernst. Wenn dich hier jemand anderes außer mir entdeckt hätte, wäre jetzt die gesamte Stadt auf den Beinen. Und alle brächen in Panik aus. Wenn dich jemand innerhalb unserer Stadtmauern antrifft, herrscht hier das komplette Chaos. Sie werden dich gefangen nehmen, weil du alleine bist. Du bist doch alleine, oder?«

    Nun eher misstrauisch als besorgt wirkend, sah er sich im halbdunklen Raum um.

    »Natürlich! Außer mir ist sicher keiner so leichtsinnig und schleicht sich nachts in die Stadt eines fremden Stammes, um sich dort in dessen Lagerhaus herumzutreiben«, versuchte ich immer noch, das Ganze etwas ins Lächerliche zu ziehen.

    Doch Talek fand die Situation anscheinend alles andere als amüsant.

    »Leichtsinnig ist genau das richtige Wort für deine Aktion hier, Gwyn! Was denkst du dir eigentlich dabei? Du könntest dir damit eine Menge Ärger einhandeln. Was glaubst du wohl, wie nahe ich davor stand, die anderen zu alarmieren, als ich die bewusstlosen Wachen vor dem Speicherhaus entdeckt habe? Du hattest Glück, dass ich genauso leichtsinnig war, indem ich einfach nachgesehen habe, wer das zu verantworten hat!« Bei seinen letzten Worten konnte er dann aber doch nicht verhindern, dass sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen schlich.

    Ich schmunzelte ebenfalls und sah dann, wie Taleks Blick auf meinen Rucksack und den halb vollen Leinenbeutel am Boden fiel.

    Flehentlich schaute ich ihn an.

    »Bitte verrate mich nicht. Unserem Stamm geht es wirklich schlecht. Wir brauchen die Vorräte!«

    Talek nickte verständnisvoll.

    »Ich weiß, wie es um euch steht, Gwyn. Du glaubst gar nicht, wie leid mir das tut. Ich habe so oft an dich gedacht.«

    Es rührte mich, dass er das sagte. Und ich wusste, dass er es ernst meinte. Talek kannte mich von klein auf, und deshalb brauchte er auch keine Angst vor mir oder meiner Familie zu haben. Mein Stamm gehörte dem Volk der Diamanten an. Eines von einundzwanzig großen Völkern der Gem Nation. Unsere Nation war über die gesamte Welt verbreitet. Jedes Volk war in mehrere kleine Stämme untergliedert, die sich über die verschiedenen Kontinente hinweg verstreuten. Das größte aller Völker bildeten die Quarze, die mit den Untervölkern, der Rosenquarze, der Citrinen, der Jaspise und der Amethysten, insgesamt vier an der Zahl waren. Jedem der Völker wurde eine ganz eigene Besonderheit oder ein Talent zuteil, das sie in bestimmte Aufgaben mit einbrachten. Wir nannten sie auch 'die Begabungen'. Die Quarze zum Beispiel waren Meister im Herstellen von Keramik und Glasarbeiten. Oder im Konstruieren und Bauen von Häusern, weshalb sie auch von Seiten der anderen Völker häufig damit beauftragt wurden. Ebenfalls zu den praktisch Begabten in der Gem Nation gehörten die Hämatiten, Achater und wir Diamanten.

    Ein anderes Volk bildeten die Stämme der Rubiner. Eitle und kühle Charaktere, die aber neben den Königshäusern sozusagen unsere Elite bildeten. Sie kümmerten sich um die Gotteshäuser der Gem Men. Die meisten von ihnen fungierten in den Ämtern von Priestern und Ordensschwestern, waren sehr religiös. Ihr Hauptsitz befand sich in Teilen von Asien und Ostafrika. Unser Hohepriester Saphir (der im Übrigen auch einen ständigen Sitz im Rat der Großen Zwanzig hatte) lebte in Kenia und leitete von dort aus die gesamten Stämme der Rubiner an. Diese zählten zu den Ordnungshütern unserer Nation, ebenso wie die Amethysten und Citrinen. Natürlich brauchte man in einer solch großen Gemeinschaft auch jene, die sich um die körperlichen und seelischen Belange der Einzelnen kümmern konnten. In der Gem Nation fiel diese Aufgabe den Heilern zu. Insgesamt besaßen fünf Völker diese Gabe: die Karneoler, Türkiser, Korallen (alle drei angewendete Körperheilpraxis), Perlen und Rosenquarze (seelische Beschwerden). Die Angehörigen der Chryskollvölker, Pyriten und Jaspise fungierten in politischen Ämtern, kümmerten sich beispielsweise aber auch umalles, was mit Wirtschaft und dem Agrarwesen zu tun hatte. Künstler gab es unter uns dreierlei: Die Turmaline liebten es, die übrigen Völker zu unterhalten und verstanden es voll und ganz, alle Facetten der Schauspielerei auszuleben. Die Perlmutter waren musikalisch unübertrefflich und veranstalteten die wundervollsten Konzerte, während man Stunden des Staunens vor dem Kunstwerk eines Lapislazulis zubringen konnte. Sie verstanden es mit Farben und Pinsel ebenso umzugehen, wie mit Hammer und Meißel. Keine tatsächliche Bestimmung hatten die Nomadenvölker, die von dem Rest der Nation auch 'die Herumtreiber' genannt wurden: Die Völker der Suglitithen, der Tigeraugen und Obsidianer streiften durch die Lande und zogen von einem Ort zum anderen, schlossen sich nur sehr selten der Gemeinschaft eines anderen Stammes an und blieben meist unter sich. Und dann gab es neben all den verschiedenen Völkern noch die drei verbliebenen Königsgeschlechter. Die Painits aus Myanmar, die Roten Berylle aus dem Bereich der ehemaligen USA und die Serendibits aus Madagaskar. Einst hatte es sieben Königsgeschlechter gegeben, von denen ein jedes die Aufgabe hatte, über einen der Kontinente zu wachen. Aber vier der Könige bekriegten sich in einem langjährigen Streit, was zu vielen Opfern auf allen Seiten und letztendlich zum Aussterben ihres Geschlechts geführt hatte. Es war der größte und blutigste Krieg gewesen, den unsere Nation jemals gesehen hatte. Angeblich hatte der König der Musgraviten Anspruch auf die Herrschaft über die drei Kontinente der anderen erhoben und als diese sie ihm nicht überlassen wollten, brach die Fehde aus. Seit es nur noch drei Königsgeschlechter gab, herrschte auf den führungslosen Kontinenten immer öfter Chaos und Unfrieden. Eine Vielzahl an streitsüchtigen Parteien hatte sich gebildet, die gegen die bestehenden Königshäuser aufbegehrten und rebellierten, weil diese in überschwänglichem Reichtum lebten und nichts gegen die Angriffe der Zirkoner, unserer Nachbarnation, unternahmen. Die Gem Men in den obersten Ämtern der Großen Zwanzig (die sich aus den weisesten Männern und Frauen eines jeden Volkes zusammensetzen), versuchten zwar, die Rebellion und den herrschenden Unwillen unter den Stämmen einzudämmen, aber das gelang ihnen nur mäßig. Die Völker brauchten dringend die Unterstützung der Königshäuser. Alleine würden sie sich nicht dauerhaft gegen die Übergriffe wehren können. Es standen ihnen einfach nicht die zur Verteidigung notwendigen Mittel und Waffen zur Verfügung, mit denen die Könige dienen könnten. Viele der Gem Men lebten in Angst und Schrecken vor den Angriffen der Zirkoner, unserer brutalen und unbarmherzigen Nachbarnation, die unter der Herrschaft ihres machthungrigen Anführers Zirkon Gem Men gefangen nahmen und ermordeten. Ich war ihm zwar bislang noch nie begegnet, aufgrund seines grauenvollen Rufes jedoch war meinerseits ein gemeinsames Zusammentreffen in meinem persönlichen Terminkalender auch nicht vorgesehen. Zirkoner gehörten nicht zu den Gem Men, da sie sich nicht so wie wir, als 'Edelsteinmenschen' bezeichnen konnten. Ihre Herzen waren weder echt noch rein.

    Das größte aller Probleme aber war, dass die Zirkoner äußerlich sehr den Diamanten, meinem Volk, ähnelten. Manche von ihnen sahen uns wirklich zum Verwechseln ähnlich, so dass selbst wir Diamanten innerhalb unserer eigenen Stämme manchmal nicht sicher sein konnten, ob wir gerade Freund oder Feind vor uns hatten. Um wirklich sicher zu sein, müssten wir den Fremden berühren, aber das traute sich seit den vielen Morden selbstverständlich keiner mehr. Anfangs, als das Töten begann, hatten die Zirkoner es sich sogar zu ihrem Vorteil gemacht, dass sie uns so gleich sahen. Um näher an mehrere Gem Men heranzukommen, gaben sie sich einfach als Mitglieder unseres Volkes aus. Denen, die ihnen zum Opfer fielen, offenbarte sich ihr wahres Gesicht erst, als es bereits zu spät war. Diese Tatsache machte es natürlich umso gefährlicher für alle Gem Men, da man den Widersacher nur schwerlich von den eigenen Mitgliedern seiner Nation unterscheiden konnte. Die logische Konsequenz, die die anderen Völker daraus gezogen hatten, war, dass das Volk der Diamanten aus Angst vor Übergriffen verstoßen wurde. Kamen wir auch nur in die Nähe eines anderen Stammes, gerieten dessen Angehörige sofort in Panik oder griffen uns gar an. Seither war mein Stamm, mein gesamtes Volk, auf der Flucht. Wir versteckten uns in Wäldern und in den Bergen, um keine Aufstände zu riskieren. Allerdings enthielten die anderen Völker uns auch die lebensnotwendigen Nahrungsmittel und Rohstoffe, die wir dringend zum Bauen von robusten Behausungen benötigten, vor.

    Ich hörte Talek empört schnaufen. Mit seiner linken Hand raufte er sich die zerzausten Haare.

    »Es ist so unfair, Gwyn!«, flüsterte er frustriert und ich konnte sehen, dass es ihm wirklich ernst war mit dem, was er sagte.

    »Viele von uns haben viele von euch gekannt. Waren miteinander befreundet. Wir wissen, dass ihr niemandem etwas antun würdet. Wir wissen auch, welchem Volk ihr angehört. Warum dürfen wir euch dann kein Asylgewähren?«

    Ich seufzte resigniert. Das war in der Tat eine gute Frage. Meine Familie beispielsweise war in der Vergangenheit tatsächlich ziemlich gut mit Taleks Familie befreundet gewesen. Meine Mutter kam sogar aus ihren Reihen. Sie war auch Türkiserin gewesen.

    Aber da die Angriffe der Zirkoner sich in den letzten zehn Jahren beinahe verdoppelt hatten, ordneten die Rubiner sogar an, dass es aufs Strengste verboten war, jegliche Individuen unseres Aussehens innerhalb der Stadtmauern zu lassen. Man sollte einen großen Bogen um uns machen und durfte nicht einmal mit uns sprechen. Jeder Verstoß dagegen wurde geahndet und hart bestraft. Der Sinn dahinter blieb mir allerdings verschlossen.

    Warum riskierte man das Verhungern und damit Aussterben eines ganzen Volkes, wenn man doch eigentlich wusste, dass wir unschuldig waren?

    Ich zuckte mit den Schultern.

    »Nicht jeder kennt jeden«, versuchte ich, mir eine Erklärung zurechtzulegen, die einigermaßen plausibel klang. Auch wenn das keine Entschuldigung für das Leid war, das meinem Volk mutwillig zugefügt wurde.

    »Die Rubiner wollen kein Risiko eingehen. Zudem wäre es ebenso unfair denjenigen unseres Stammes gegenüber, die nirgendwo unterkommen, nur weil sie nicht mit jemandem aus einem der anderen Völker befreundet waren.«

    Talek schüttelte heftig den Kopf. Er wirkte aufgebracht.

    »Aber wir dürfen doch nicht die Unsrigen für etwas bestrafen, unter dem wir alle leiden! Ihr am allermeisten. Die Stämme werfen euch den Löwen zum Fraß vor, wenn sie euch aussetzen. In den Wäldern seid ihr dem Feind doch hilflos ausgeliefert ohne den Schutz der Allgemeinheit!«

    »Jetzt unterschätzt du mein Volk aber. Wir können schon selbst auf uns aufpassen! Und auf die Hilfe eurer ach so tollen Rennleitung können wir gut und gerne verzichten!«, entgegnete ich etwas schnippischer als gewollt. 'Rennleitung' war eine ironische Anspielung von mir auf das Volkder Amethysten gewesen. Ihre Stämme waren sehr auf Ordnung bedacht und verhielten sich ein wenig so, wie eine Art inoffizielle Polizei der Gem Men. Sie arbeiteten eng mit den Rubinern zusammen und gaben ihr Bestes, die Krawalle und Rebellenübergriffe auf die Königshäuser unter Kontrolle zu bringen. Ich konnte sie nicht besonders gut leiden. Was waren das für Ordnungshüter, die feige kniffen, wenn nachts die Zirkoner durch unser Land strichen und unzählige Gem Men entführten oder töteten? Meist kamen die Feinde bei Einbruch der Dunkelheit, schlichen dann um die Stadtmauern herum und überfielen ahnungslose Gem Men, die spät von der Arbeit kamen.

    Oder sie lauerten ihnen im Wald oder an den Grenzen zu den Sperrgebieten (wie wir die Ländereien nannten, auf denen Zirkon und seine Untertanen ihr Domizil hatten) auf.

    Aber in gewisser Weise musste ich Talek recht geben. Uns Diamanten hatte es in den letzten Monaten sehr häufig getroffen.

    Dass wir zumeist in den Wäldern unsere Lager errichten mussten, war von großem Nachteil. Ohne den effektiven Schutz einer Stadtmauer oder einer größeren Nachbarschaft war es für die Zirkoner ein Leichtes, uns zu überfallen. Das hatte schon einige von uns das Leben gekostet und war auch der Grund, warum wir nie lange an einem Ort verweilten, sondern häufig unsere Lagerplätze wechselten.

    Talek verzog den Mund, woraufhin ich leise kicherte.

    »So hatte ich das auch nicht gemeint«, sagte er zerknirscht.

    »Ich weiß, dass ihr nicht ganz hilflos seid. Du alleine hast wahrscheinlich Mumm genug für euch alle!«

    »Haha! Schön, dass du das so siehst!«

    Talek grinste frech.

    »Ich habe nicht vergessen, wie du mich damals vor dem wilden Kerchenschwein im Wald gerettet hast.«

    »Oh Gott, ist das ewig her! Fast zehn Jahre, oder?«

    Es wunderte mich, dass er sich an dieses Ereignis noch erinnern konnte. Ich jedenfalls hatte es schon lange vergessen, bis Talek es jetzt erwähnte. Wir mussten acht Jahre alt gewesen sein, als es passiert war. Ein Kerchenschwein war eine Art weiterentwickelter Nachfahre des ausgestorbenen Wildschweines, nur ein gutes Stück größer und viel aggressiver, wenn man es in freier Wildbahn antraf. Taleks Eltern hatten uns damals zum Sammeln von Spinnenseide in den Wald geschickt und Talek war unglücklicherweise einem sehr angriffslustigen Exemplar über den Weg gelaufen.

    »Weißt du noch?«, fragte Talek lächelnd »Als es auf mich losgegangen ist, hast du dich einfach auf einen Ast geschwungen und dem Schwein von oben deinen Korb mit der bereits gesammelten Spinnenseide über den Kopf geworfen, als wir unter dir durch gerannt sind! So hat es nicht mehr gesehen, wohin es lief, und ist mit voller Wucht gegen einen Baumstamm geknallt!«

    Bei dieser Erinnerung mussten wir beide schmunzeln. Es war schön, wieder einmal mit jemandem reden zu können, der nicht aus den eigenen Reihen stammte und den man nicht tagtäglich um sich hatte. Bisher hatte ich gar nicht wirklich gemerkt, wie sehr ich das vermisst hatte.

    »Du warst noch nie besonders ängstlich«, meinte Talek und mit einem Blick auf die Tür hinter ihm fügte er flüsternd hinzu »und auch nie besonders vorsichtig! Wenn jemand die zwei schlafenden Wachen da draußen findet, fliegst du auf.«

    Ich zuckte erneut mit den Schultern.

    »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, erwiderte ich leichthin und machte mich vor seinen Augen daran, meinen zur Hälfte gefüllten Sack weiter mit Hirse zu füllen.

    Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Talek die Augen verdrehte und tief die Luft einsog.

    »Ich glaube nicht, dass ich das jetzt tue«, seufzte er dann in gedämpftem Tonfall und bückte sich nach dem anderen noch leeren Leinensack. Er kniete sich neben mich auf den staubigen Boden des Lagerhauses und begann damit, Mais ins Innere des Beutels zu schaufeln.

    Ich neigte meinen Kopf zur Seite und lächelte ihn dankbar an. Talek erwiderte mein Lächeln und wir verrichteten im Eiltempo unsere Arbeit. Als beide Säcke bis zum Rand voll waren, band ich sie mit einem Stück Schnur oben ab und griff nach dem Rucksack mit den Botas. Dann schnürte ich die Säcke zu beiden Seiten des Rucksacks fest und schulterte das nun nicht mehr ganz so leichte Gepäck. Am Anfang taumelte ich etwas nach hinten und Talek griff erschrocken nach meinen Armen, um mich zu stützen.

    Für einen Augenblick leuchtete ein winziger Teil meines und der größte Teil seines linken Handgelenkes auf. Bis ich ihm zögerlich meine Hände entriss. Das Leuchten erstarb. Auch Talek hatte unsere Herzen betrachtet. Ein trauriges Lächeln breitete sich nun auf seinem Gesicht aus.

    »Ich wünschte, es wäre wieder alles wie früher«, sagte er leise und seine karamellbraunen Augen blickten dabei tief in meine eigenen eisblauen.

    Ich spürte das Herz in meinem Handgelenk warm pulsieren und schluckte schwer.

    »Ich auch«, gab ich zu und wandte mich dann von meinem besten Freund ab, um in Richtung Tür zu gehen, bevor mir noch schmerzhafter bewusst wurde, was ich verloren hatte. Was ein jeder von uns verloren hatte.

    »Vielen Dank noch mal, dass du mich nicht verraten hast!«, flüsterte ich im Vorbeigehen.

    Talek sprintete hinter mir her und hielt mir die Tür auf, nachdem er sich zuvor noch einmal vergewissert hatte, dass die Luft rein war.

    »Ich muss dich wiedersehen, Gwyn! Jetzt, wo ich dich wiedergefunden habe, möchte ich dich nicht noch einmal aus den Augen verlieren!«, raunte er mir noch eindringlich zu, ehe ich mich aus dem Staub machen konnte.

    Ich musste kurz darüber nachdenken. Ich wollte Talek auch wiedersehen. Aber war das schlau? Immerhin hatte ich gerade seinen Stamm bestohlen. Außerdem würden wir jedes Mal einen Aufstand riskieren, wenn wir uns heimlich trafen. Wenn irgendjemand aus seinem oder aus einem der anderen Stämme dahinter käme, würde das schwerwiegende Konsequenzen für uns beide nach sich ziehen. Andererseits hatte ich es jetzt auch schon so oft geschafft, mich heimlich aus unserem Lager zu schleichen und andere Gem Men zu bestehlen, ohne dass es überhaupt jemandem aufgefallen war.

    »Kennst du den kleinen See, ein paar Kilometer von hier im Wald, an dem der letzte Mammutbaum wächst?«, fragte ich Talek. Er nickte kurz zur Bestätigung.

    »Okay. Morgen früh um halb sechs. Kurz bevor die Sonne aufgeht, treffen wir uns dort. Sei da!«, wies ich ihn an.

    Talek strahlte.

    »Darauf kannst du dich verlassen!«

    »Gut«, meinte ich dann und versuchte,

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