Alles Schicksal?: Wie wir uns aus Familienmustern befreien
Von Andreas Steiner
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Über dieses E-Book
Der Familientherapeut macht deutlich, dass die Ursachen keineswegs so mysteriös sind, wie sie scheinen und zeigt den Weg aus solchen Verstrickungen: die ehrliche, oft schmerzhafte, aber gleichzeitig spannende Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der eigenen Familiengeschichte. Dadurch wird nicht nur der einzelne Mensch von drückenden Problemen entlastet, sondern das ganze System kann gesund und künftige Generationen aus den zerstörerischen Mustern befreit werden.
Diese wiederkehrenden Verhaltensweisen und Ähnlichkeiten sind oft völlig unvernünftig und führen ins Unglück. Und das, obwohl die Beteiligten wissen müssten, was geschieht und motiviert sein sollten, es anders zu machen: Die Ehe von einem Paar ist katastrophal. Der Mann schlägt die Frau, geht ständig fremd. Sie erträgt dies lange Jahre, schließlich verlässt er sie wegen einer anderen. Die gemeinsame Tochter, die selbst unter ihrem brutalen Vater gelitten hat, verliebt sich später in einen Mann, der sie ebenfalls schlägt und betrügt. Sollte nicht gerade sie es besser wissen?
Das "Nicht-Bemerken" solcher Muster und Lebensmotive hat seinen Ursprung darin, dass Menschen den immensen unbewussten Anteil an allem, was sie tun und denken, nicht wahrhaben – und dies auch nicht wollen. Das evolutionär wichtige Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur Familie hindert daran, kritisch hinter die Kulissen zu blicken. Doch durch die prägende Lebenszeit in der Familie ist jeder einzelne von Anfang an "vorprogrammiert". Der Mensch jedoch denkt, er sei frei und losgelöst von alten Bindungen.
Das Buch ist eine spannende Reise zu den Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten des Lebens, es benennt die Ursachen vermeintlicher Familienschicksale, zeigt Wege aus den alten Familienmustern und macht deutlich: niemand ist seinem Schicksal ausgeliefert.
Andreas Steiner
Andreas Steiner wurde 1964 in Köln geboren. Er studierte Psychologie (Diplom) und Musik-, und Theater-, Film- Fernsehwissenschaft (M.A.). Schon als Student gewann er mehrere Auszeichnungen als Illustrator und Karikaturist. Nach dem Studium wurde er Psychotherapeut und betreibt eine eigene kassenzugelassene Praxis in Köln, sowie ein eigenes Lehrinstitut für Psychotherapeuten. In seinen Spezialgebieten klinische Hypnose und systemische Therapie bildet er Therapeuten professionell aus. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der politischen Psychologie, insbesondere der Psychodynamik des Nationalsozialismus und der Genese der pathologischen Persönlichkeiten des Dritten Reiches. Andreas Steiner ist in mehreren Fernseh-Dokus als wissenschaftlicher Experte zu sehen. Bibliographie: „Die schlafende Stadt“ – Roman (Steinmeier, 2011) „Die Kunst der Familienaufstellung“ – Fachbuch (Kohlhammer 2019) „Alles Schicksal? Wie wir Familienmuster überwinden“ – Sachbuch (Herder 2020) „Das Dunkel aus der Zeit“ – Roman (BoD 2022) Filmographie: „Helden der Propanganda“ ZDF-Info-Doku (2017), 45 Min. „Geschichte Mitteldeutschlands: Emmy Göring – die First Lady der Nazis“ MDR-Doku (2015), 45 Min. „Geschichte Mitteldeutschlands: Hitlers williger Vollstrecker -Roland Freisler“ MDR-Doku (2014), 45 Min. „Angst“ – TV-Interview in NRW-TV (2012), 60 Min.
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Buchvorschau
Alles Schicksal? - Andreas Steiner
Andreas Steiner
Alles Schicksal?
Wie wir uns aus Familienmustern befreien
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © ONiONAstudio/iStock/GettyImages
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book 978-3-451-81951-3
ISBN Print 978-3-451-60090-6
Inhalt
Einleitung
Wie ein roter Faden
Die Wiederkehr von Früherem
Der Fluch der Kennedys
»Schicksalshafte« Muster
Der Mensch und sein Umfeld
Frei formbar oder genetisch festgelegt?
Das Lernen
Die Anziehungskraft des Vertrauten
Das Festhalten an vertrauten Mustern
Die bedrohte Männlichkeit: Ernest Hemingway
Das menschliche (Un-)Bewusstsein
Die Macht des Unbewussten
Menschlichkeit anstatt Göttlichkeit
Rationale Einsichten
Das innere Drehbuch
Gefühle
Primärgefühle
Angst
Ekel
Wut
Trauer
Freude
Begierde
Liebe und Bindung
Sekundärgefühle
Kindliche Gefühle
Fremdgefühle
Spirituelle Gefühle
Die Bedeutung von sozialen Systemen
Familie, Sippe, Clan, Gemeinschaft
Geborgenheit, Zugehörigkeit und Identität
Gruppendynamik
Ein Teil des größeren Ganzen
Unbewusste Lebensentwürfe
Das Fortführen von Themen
Tradierte Lebensformen
Schatten des Krieges
Hitlers Geist in heutiger Erziehung
Verarbeitung, Verdrängung, Verstrickung
Konstruktivismus
Falsche und echte Erinnerungen
Umdeuten unbequemer Wirklichkeit
Lüge und Bullshit
Familiengeheimnisse
Radikales Abspalten
Zweifel an berichteten Fakten
Krankheit und Gesundheit
Die psychiatrische Wirklichkeit
Alltag in psychiatrischen Einrichtungen
Das Streben nach Sühne
Gut und Böse
Radikalität
Das Gefühl von Schuld, ohne schuldig zu sein
Verdrängtes taucht wieder auf
Der Schaden durch vorgegebene Moral
System und Biografie
Schicksalhafte Ereignisse
Individuelle Motive und günstiges Umfeld: Jeanne d’Arc
Das Lebensthema steckt bereits in der Familiengeschichte
Das kindliche Weltbild
Gutes und schlechtes Gewissen
Kindliche Deutungen
Märchenhafte Wirklichkeiten
Das Scheitern an der Realität
Formen des Ausgleichs
Kindliche Illusionen
Die Tudors: Blut, Angst, Tragödie und Theater
Der Vater: Heinrich VIII.
Das Skriptmotiv als Fluch
Die Mutter: Anne Boleyn
Der Kampf um den Thron
Die Frau, die anders ist als alle anderen
Kompensation, Überkompensation und Zerrissenheit
Ruhm, Macht und Reichtum als Ersatz
Tragik als Antrieb: Ray Charles
Der tote Zwillingsbruder: Elvis Presley
Rächen
Rache als romantische Vorstellung
Bestrafung der Eltern
Übertragene Rache: Sadismus
Angst vor Erkenntnis
Rache als pathologische Ideologie: Adolf Hitler
Fortführen
Nachfolgen
Verkehren
Austilgen
Sühnen
Vertreten
Das Aufspüren seelischer Wirklichkeiten
Die Sherlock-Holmes-Methode
Skriptfiguren und Skriptgeschichten
Wie Lösungen funktionieren
Das Ordnen
Aussöhnung
Angemessenheit
Hindernisse
Heilende Reisen
Das Wesen von Lösungen
Verändern von Mustern
Über den Autor
Index
Einleitung
Erfahrung heißt gar nichts.
Man kann seine Sache
auch 35 Jahre schlecht machen.
Kurt Tucholsky
Wie ein roter Faden
Als ich ins Gymnasium kam, hatte ich einen Schulkameraden, der bald zum engen Freund wurde. Er hieß Kurt, war strohblond und sommersprossig, und wir teilten viele Interessen, lachten über ähnliche Witze, waren ähnlich emotional und hatten ähnliche Probleme. Wir lasen sogar die gleichen Comics. Man kann wirklich sagen: Wir waren richtig dicke Freunde.
Kurt wohnte damals mit seinen Eltern in einem kleinen Häuschen, das Teil einer Siedlung war, die die SPD einst hatte bauen lassen. Sein Vater war Busfahrer, der in seiner Freizeit Akkordeon spielte, seine Mutter Putzfrau, nette, einfache Leute, die sehr stolz darauf waren, dass ihr einziges Kind es bis aufs Gymnasium geschafft hatte. Erst viel später kam ich darauf, dass sie es womöglich auch gerne sahen, dass Kurt mich zum Freund hatte, weil ich aus einem Akademikerhaushalt stammte, denn solche Unterschiede spielten für mich nie eine Rolle. Ein einziges Mal nur sprach mich seine Mutter darauf an, dass sie erstaunt sei, mit welcher Ausdauer ich mich in Bücher vertiefen konnte.
Kurts Eltern erlaubten ihm sogar etwas, was meine Eltern niemals gemacht hätten: Die ganze Klasse durfte in ihrem Keller eine Klassenfete feiern. Der vermeintliche Höhepunkt war, dass sein Vater mit seinem Akkordeon hereinspazierte und uns den »Schneewalzer« und ähnliche Hits vorspielte. Dies war das erste Mal, dass einige sich anschließend über Kurt und seine Familie lustig machten.
Als wir etwa dreizehn Jahre alt waren und die siebte Stufe besuchten, begann sich Kurt eigenartig zu verändern. Ich merkte zunächst nichts davon, für mich blieb alles gleich. Bis zu einem normalen Schultag, der unsere Freundschaft abrupt beendete.
In dieser Zeit war es unter uns sehr beliebt, in der Pause Karten zu spielen. Einige Spezialisten spielten Skat; Vito, ein italienischer Mitschüler, hatte »Briscola« mitgebracht, dass mit einem Deck aus den klassischen Bildern Schwert, Stab, Münze und Kelch gespielt wurde und viel Spaß machte. Der große Renner aber wurde schließlich »Herzblättchen«, eine Art vereinfachter Skat, bei dem die Trumpffarbe Herz vorgegeben war, und mit dem wir viele Stunden zubrachten. Der Vorteil zum Skat war außerdem, dass man es nicht nur zu dritt, sondern auch zu viert oder fünft spielen konnte.
Kurt und ich waren so eine Art fester Bestandteil jeder Herzblättchen-Runde, und der dritte oder gar vierte Mann wechselte. An einem Tag trafen wir uns wie üblich zu dritt, nur dass Kurt diesmal zu dem freistehenden Tisch nur zwei Stühle stellte und offenbar größten Wert darauf legte, dass sie für ihn und den anderen Mitspieler seien. Ohne mich anzusehen, verkündete er ihm: »Andreas macht nicht mit. Wir spielen Sechsundsechzig.« – Ein Kartenspiel, das man nur zu zweit spielen kann.
Für mich wirkte das wie eine Ohrfeige, und ich vermute, so war es auch gemeint. Ich stand jedenfalls zunächst wie angewurzelt da. Der andere warf einen verschämten Blick zu mir und nahm folgsam die Karten entgegen, die Kurt verteilte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, begann er die Partie. Kurt wandte sich nach kurzer Zeit zu mir und fragte genervt, ob ich hier weiter herumstehen und glotzen wolle. Ich trottete wortlos fort. Später stellte ich ihn zur Rede. Er entgegnete betont blasiert: »Was hast du denn für Probleme?« Es wurde eine sehr unerfreuliche Unterhaltung, an deren Ende er mich als »geistigen Tiefflieger« bezeichnete.
Seitdem kamen von ihm fast nur noch abfällige oder stichelnde Bemerkungen, und ich muss zugeben, ich hielt ihn bald für den größten Vollidioten aller Zeiten und versäumte es nicht, ihm das mitzuteilen. Er schien Ähnliches von mir zu denken. Ein paarmal prügelten wir uns sogar. Er freute sich unmissverständlich, wenn mir etwas im Unterricht misslang, und amüsierte sich köstlich, wenn Karl, der Schlägertyp der Klasse, mir mal wieder meine Saftflasche ausgesoffen hatte, was nach dem schweißtreibenden Sportunterricht geradezu qualvoll war. Gottlob hatte ich noch ein paar andere Freunde in der Klasse.
Dann bekamen wir einen neuen Mitschüler, Heiko, mit dem ich mich gut verstand. Die meiste Freizeit verbrachte ich künftig mit ihm, sodass ich den Verlust von Kurts Freundschaft bald einigermaßen verschmerzt hatte. Ich erinnere mich noch gut an einen Moment, wo wir auf dem Schulhof etwa zu sechst zusammenstanden, und die Sprache irgendwie auf Kurt kam.
Heiko, mit seinen vierzehn Jahren schon sehr dem Zynismus zugetan, schürzte spöttisch seine Lippen. »Der Jo-Kurt!« – er nannte ihn so wegen seiner weißlichen Gesichtsfarbe – »Tja ... der ist ja nicht sehr beliebt.« In diesem Augenblick wurde mir etwas bewusst, was sich später noch deutlicher abzeichnete: Kurt hatte sich in der ganzen Klasse völlig isoliert. Niemand wollte mit ihm etwas zu tun haben. Er hatte alle vor den Kopf gestoßen, beleidigt, oder sich durch flapsige Bemerkungen lächerlich gemacht. Heutige Schüler würden ihn »extrem uncool« nennen. In den Pausen schlich er alleine über den Schulhof oder war überhaupt nicht mehr zu sehen. Im Unterricht wirkte er ernst und unnahbar und würdigte niemanden eines Blickes, was die meisten als arrogant deuteten. Karl trat ihm mehrmals bei Gelegenheit in den Schritt und machte sich über den »kleinen Schniedel« lustig, den er beim Umkleiden nach dem Sport an ihm gesehen haben wollte. Heiko stellte angeekelt fest, Jo-Kurt stinke nach Klopapier. Das war noch nicht einmal ganz falsch – Kurt begann tatsächlich, ungepflegt und verlottert auszusehen.
Besonders zum Gespött machte Kurt sich, als er sich ein Outfit zulegte, das später mit Manta-Fahrern assoziiert wurde: Fuchsschwanz, Cowboystiefel, Goldkettchen, Vokuhila-Frisur, wogegen diejenigen, die sich für »vornehmer« hielten, zunehmend dem damaligen Popper-Outfit anhingen: Lacoste-Pullunder, Karottenhose, Stulpen, weiße Turnschuhe, schmaler Schlips, lange Haartolle, ausrasierter Nacken. Die Lieblingsspottobjekte der pubertierenden Angeberelite waren damals die »Prolos«, also genau das, was Kurt repräsentierte.
Kurt wurde schlecht im Unterricht, was ihm den Ruf einbrachte »nicht der Hellste« oder der »Klassendepp« zu sein. Irgendwann blieb er sitzen und musste die Stufe wiederholen. Er hatte schon sehr früh eine Freundin, viel früher als alle anderen von uns, und man konnte die beiden beobachten, wie sie in den Pausen Seite an Seite die Runde machten. Für uns alle stand fest, dass es sich um das hässlichste Mädchen handelte, das wir je gesehen hatten. In Wirklichkeit war sie überhaupt nicht hässlich; wir wollten sie nur unbedingt hässlich finden. Ich kann mich nur schütteln, wenn ich daran denke, was wir damals für einen destruktiven Schwachsinn geredet haben. Ich habe mitgequatscht. Die rücksichtslose Arroganz der Fünfzehnjährigen ist oft unerträglich.
Irgendwann – womöglich nach Abschluss der mittleren Reife, keiner wusste es – verließ Kurt die Schule; er war jedenfalls eines Tages weg. Wir merkten es erst nach längerer Zeit, denn er spielte in unserer Wahrnehmung kaum noch eine Rolle. Jahre später erfuhr ich, dass er sich umgebracht hat. Er sprang von einem Hochhaus, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Ich fand seine Todesanzeige später im Internet. »Der harte Kampf ist nun zu Ende, du bist erlöst von deinem Schmerz« stand darauf.
Verdammt, Kurt. War das nötig? Ich habe dich mal so gerngehabt! Was war nur in dich gefahren? Warum nur hast du es allen so schwer gemacht, dich zu mögen? Warum hast du alle, die dich liebten, so weggestoßen? Wieso warst du so ein Idiot?
Kurts Werdegang erschien mir wie der praktizierte Leitfaden »Wie vergraule ich mir meine Mitmenschen – nachhaltig, endgültig, schnell – wie Sie garantiert von jedem für ein Arschloch gehalten werden.« Ein Psychiater würde bei ihm wahrscheinlich eine Depression diagnostizieren, die sich chronifiziert habe.
Aber das trifft den Kern der Sache nicht wirklich. Viel später, als ich Psychotherapeut wurde, begegnete mir das Thema der seelischen Skripten, ein Konzept von Eric Berne.¹ Der bedeutende Begründer der Transaktionsanalyse hatte erkannt, dass Menschen einen unbewussten Vorentwurf für sich und ihr Leben haben, also ein inneres Bild davon, wie sie selbst sind und wie das Leben verlaufen wird. Berne nannte das »Script«, was auf Amerikanisch so viel wie Drehbuch bedeutet. Dies bezieht sich nicht nur auf eine Symptomatik in Form einer Stimmung wie etwa eine Depression oder eine permanente Unruhe, sondern auch auf konkrete Inhalte wie Partnerwahl, beruflicher Werdegang, persönliche Freiheiten oder das Verfolgen von Zielen – oder das Scheitern. In Kurts Fall war es wohl das Leben eines verachteten Außenseiters.
Es gibt auch positive Skripte: der erstgeborene Wunschsohn, der völlig selbstverständlich später Bankdirektor wird, weil er in seiner ganzen Kindheit größtenteils nur von seinen Eltern vermittelt bekam, wie toll er ist, oder die Prinzessin, die schon immer Papas Liebling war und auch später noch mit Leichtigkeit Männer findet, die alles für sie tun. Das Leben wird größtenteils unbewusst so gestaltet, wie es dem eigenen inneren Bild entspricht. Wer »weiß«, dass er ganz toll ist, zu dem passt beruflicher Erfolg bzw. für eine Prinzessin ist es absolut stimmig, dass andere ihr den Hintern nachtragen.
Für Psychotherapeuten wird dies natürlich dann relevant, wenn Menschen offenkundig systematisch Pläne verfolgen, die sie ins Unglück führen, die ihre Ressourcen nicht nutzen oder abseits ihrer eigenen Bedürfnisse agieren. Es gibt Menschen, denen scheint das Unglück regelrecht an der Schuhsohle zu kleben. Andere verfallen bei der Partnerwahl mit tödlicher Sicherheit immer auf den gleichen problematischen Typus. Andere sind – ohne ersichtlichen optischen Grund – felsenfest von ihrer Hässlichkeit überzeugt und wehren sich mit Händen und Füßen gegen jedes Kompliment. Andere wiederum verhindern trotz hoher Intelligenz systematisch jeden Erfolg, der zu passieren droht. Viele dieser Menschen fragen sich irgendwann: »Warum passiert immer mir das?« oder »Warum passiert mir immer das Gleiche?« und wundern sich, dass sie es doch besser hätten wissen müssen. Viele verurteilen sich sogar dafür, dass sie wieder einmal »zu blöd« dafür waren, den immer gleichen Fehler rechtzeitig zu erkennen und entsprechend etwas zu verändern.
Menschen, die zur Psychotherapie kommen, haben daher oft eine deutlich tiefere Einsicht als solche, die es dringend nötig hätten, die Möglichkeit einer Psychotherapie aber weit von sich weisen. Letztere leiden oft auch, können das aber nicht zugeben, weil sie sich nicht trauen, die Hintergründe ihrer Probleme anzuschauen bzw. etwas in ihrem Leben zu verändern. Oft wird die Ansicht kundgetan, dass Psychotherapie sowieso totaler Quatsch ist, dass man doch nicht verrückt sei oder schlicht, dass doch alles in schönster Ordnung ist. Es gibt Leute, die sich lieber umbringen, als sich helfen zu lassen, oder die lieber an einem Magengeschwür sterben. Oder aber es steht nicht in ihrem Drehbuch, sich helfen zu lassen.
In den Psychotherapien wird folglich versucht, diese zerstörerischen oder belastenden Pläne bewusst zu machen und natürlich entsprechend zu verändern. Die »Heilung« erfolgt, wenn der Mensch sich endlich traut, gegen sein problematisches Skript zu verstoßen, also etwas bewusst und absichtlich zu tun, was er bislang noch nie getan hat – und damit einen neuen Weg einschlägt.
Bernes Beschreibungen erinnerten mich an Kurt, meinen toten, ehemaligen Freund, der es sich so dermaßen systematisch mit allen seinen Mitmenschen verscherzt hatte, dass er zum Schluss keinen Ausweg mehr wusste. Wahrscheinlich gehörte es zu Kurts Skript auch dazu, sich keine Hilfe zu suchen und eben nicht zu erkennen, dass er etwas für sich tun müsste.
Entscheidend ist nun, dass solche Prozesse nicht nur unbewusst ablaufen, sondern eine Art Vorbereitung erfahren, die oft mehrere Generationen zurückreicht.
Die Wiederkehr von Früherem
Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind weiblich, 39 Jahre alt, glücklich verheiratet und haben drei Kinder. Sie arbeiten in einem einträglichen Job, sagen wir mal: als Rechtsanwältin. Und ganz und gar unerwartet geraten sie in eine Lebenskrise: Plötzlich scheint alles »falsch« zu sein: Ihr Job, Ihr Mann, Ihre Familie. Alles macht plötzlich irgendwie Angst, ist zu viel, nimmt Ihnen die Luft, obwohl es keinerlei Grund dafür gibt; Ihre Partnerschaft ist harmonisch und liebevoll, die Kinder mögen zwar manchmal nerven, aber sie sind trotzdem süß und ihr ganzer Stolz. Der Job ist gut und interessant, und das Geld stimmt auch. Und trotzdem schreit eine immer lauter werdende innere Stimme: »Ich muss raus hier!«
Sie suchen sich Rat – erst bei Freunden, die alle nach Gründen für Ihren Zustand suchen. Ist Ihr Beruf wirklich der Richtige für Sie? Sind Sie überfordert, haben Sie einen Burn-out oder sind Sie unzufrieden? Ist wirklich mit Ihrer Partnerschaft alles in Ordnung? Leben Sie Ihr Leben so, wie Sie es wollen, oder sind Sie insgeheim unglücklich?
Da nichts davon zuzutreffen scheint, gehen Sie zu einem Psychiater. Der diagnostiziert eine Depression und verschreibt Ihnen ein Antidepressivum. Aber das behagt Ihnen gar nicht, zumal man davon dick wird und die Libido in den Keller geht, von den Konzentrationsstörungen ganz zu schweigen. Das können Sie wirklich nicht gebrauchen.
Sie überlegen, ob Sie Ihr Leben ändern sollten. Vielleicht nochmal studieren? Vielleicht Astronomie! Das hat Ihnen doch als kleines Mädchen schon so gut gefallen. Oder Sie machen eine Schreinerausbildung. Das Arbeiten mit Holz ist doch etwas Handfestes, nicht so unkonkret wie die verdammte Juristerei. Oder sollten Sie nach Spanien auswandern? Eine alleinstehende Freundin gibt Ihnen zu bedenken, ob es nicht besser wäre, sich von Ihrem Mann zu trennen. Und schließlich gibt Ihnen ein etwas verrückter Freund einen Tipp: Sie sollten doch einmal Ahnenforschung betreiben. Manchmal gebe es so eine unheimliche Wiederkehr von Lebensmustern. So als ob eine Art Macht des Schicksals uns alle steuern würde, und die dafür sorgt, dass sich bestimmte Lebensmuster immer wieder wiederholen, quer durch die Generationen.
Ein Verstandesmensch wie Sie ordnet das natürlich sofort als Spinnerei ein. Eine Art Karma? So ein Blödsinn! Allerdings hat ein Teil von Ihnen ein wenig Feuer gefangen. Familienforschung ist ja schließlich spannend, so oder so. Dabei fällt Ihnen auf, dass Sie über Ihre Familiengeschichte eigentlich gar nicht so viel Informationen haben. Ein Anlass, Ihre Eltern mal wieder zu besuchen.
Dort wird es ein einerseits netter, andererseits kontroverser Abend. Während Ihre sonst so verschlossene Mutter auftaut und viel und gerne von ihren Eltern und Großeltern erzählt, hält sich Ihr Vater eher bedeckt. Plötzlich hat er etwas in der Garage zu tun oder klinkt sich aus einem anderen Grund aus der Unterhaltung aus. Dabei fällt Ihnen auf, dass Sie ganz besonders von diesem Familienzweig kaum etwas wissen. Die Mutter Ihres Vaters haben Sie als einzigen der Großeltern nie kennengelernt. Und gerade über die will Ihr Vater partout nichts erzählen. Das macht Sie irgendwie stutzig.
Wie fast in jeder Familie gibt es auch in Ihrer eine schwatzhafte Großtante, die über so ziemlich alles Bescheid weiß. Sie freut sich, dass sie von Ihnen, ihrer Großnichte, Besuch bekommt. Und sie weiß zu erzählen, dass Ihre Großmutter (eben jene Mutter Ihres Vaters) sich umgebracht hat – mit 39 Jahren. Ein Ereignis, dass in der Familie stets ängstlich verschwiegen wurde. Natürlich ist das nur Zufall, ganz klar. Auch, dass diese Großmutter in ihrer Freizeit Gedichte geschrieben hat, genau wie Sie. Aber das machen ja alle. Also nichts Besonderes.
Und dann hatte sie noch diese Eigenart … (ungewöhnlich für eine Frau, besonders damals), abends auf dem Balkon eine Zigarre zu rauchen, einmal im Monat. Genau wie Sie.
Zufall?
Der Fluch der Kennedys
Die unheimliche Wiederkehr solch dramatischer Lebensmuster lässt sich fast in jedem Familiensystem beobachten. Nicht immer machen sie sich so präzise an einer Jahreszahl oder einem Lebensalter fest. Oft sind es vor allem wiederkehrende Lebensmotive, die bestimmte Entwicklungen vorgeben (wie z. B. den Impuls, in einem bestimmten Lebensalter plötzlich sein Leben verändern zu müssen) oder verbieten (wie z. B. Erfolg, der nicht stattfinden will). Dazu gibt es viele berühmte Beispiele, wie etwa den sogenannten Fluch der Kennedys. In dieser Familie passieren ständig spektakuläre Unglücke wie spektakuläre Erfolge – vorwiegend bei den Männern, die sich durch extremen Ehrgeiz und exzessiven Lebensstil auszeichnen, verbunden mit dem Verbot, Schwäche zu zeigen. Viele von ihnen starben durch Leichtsinn oder brachten sich und andere übermäßig in Gefahr.
Die Norm der eisernen Stärke begann durch die strenge Erziehung von Joseph »Joe« Kennedy sen. Aus einer armen irischen Einwandererfamilie stammend, brachte er es bis zum Diplomaten – und für ihn stand fest, dass einer seiner Söhne Präsident zu werden habe. Die Tragödien nahmen ihren Anfang, als Rosemary Kennedy, John F. Kennedys Schwester, auf Initiative des Vaters Joe lobotomiert wurde. Dies ist ein hirnchirurgischer, irreversibler Eingriff, bei dem der Hypophysenvorderlappen des Gehirns durchtrennt wird – danach sind die Patienten quasi schwerbehindert und sitzen nur noch apathisch im Sessel.
Was hatte Rosemary getan? Sie war »retardiert« – nach Eindruck des Vaters geistig zu langsam. Prompt wurde sie entsorgt – für immer. So ging man mit Menschen in dieser Familie um, die eine Form von Schwäche zeigten. Ab da ging es tragisch weiter, immer extrem. Der älteste Sohn, Joe jr., starb als Flieger im Zweiten Weltkrieg – er hatte sich »freiwillig« für eine gefährliche Mission gemeldet. Der nächste Sohn war dann an der Reihe. John Fitzgerald Kennedy war schwer krank. Er litt an einer Autoimmunkrankheit, an einer chronischen Darmentzündung, Knochenerweichung, war nierenkrank und hatte ständig Schmerzen, ging aber dennoch zum Militär – bloß