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Psychiatrie: Thriller
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eBook339 Seiten8 Stunden

Psychiatrie: Thriller

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Über dieses E-Book

Der Psychiater Wolf Kerrmann arbeitet an der Einführung des Psychopharmakons Serenata. Das Medikament vollbringt das Unmögliche bei aussichtslosen Fällen. Aber zu welchem Preis? Bizarre Selbstmorde scheinen einen Zusammenhang mit Serenata zu haben. Berichte an die Zuständigen bleiben ungehört. Der Einsatz von Serenata wird verbreitert, sogar Drogensucht soll heilbar sein. Die opiatsüchtige Anästhesistin Jasmin Nerhaus, eine Freundin Wolfs aus der Studienzeit, soll die erste Patientin sein. Weil Wolf seinen Chef, den Pharmakonzern und Jasmin nicht von der Gefährlichkeit Serenatas überzeugen kann, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln …
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum1. März 2020
ISBN9783839265345
Psychiatrie: Thriller

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    Buchvorschau

    Psychiatrie - Martin Kleen

    Zum Autor

    Martin Kleen, geboren 1965 in Erlangen und in Franken aufgewachsen. Studium der Medizin ebenfalls in Erlangen, danach fünf Jahre medizinische Grundlagenforschung und Habilitation in München. Anschließend vier Jahre Tätigkeit als Anästhesist und dabei Sammlung von Stoff für viele noch zu schreibende Romane. Berufsbegleitendes Managementstudium. Von 2002 bis 2004 Arbeit in der medizintechnischen Industrie. Seit 2005 arbeitet er wieder als Anästhesist in einer Münchner Klinik.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

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    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2020

    (Originalausgabe erschienen 2007 im Leda-Verlag)

    E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

    unter Verwendung eines Fotos von: © Styxography / adobe.stock.com

    ISBN 978-3-8392-6534-5

    Widmung

    Für Gregor und Viktor

    Zitat

    First they ignore you, then they laugh at you, then they fight you, then you win.

    (Mahatma Ghandi)

    1. Kapitel

    Doktor Wolf Kerrmann saß vor seinem Schreibtisch und blätterte durch das Gutachten über den Brandstifter. Er ließ die Seiten durch die Finger gleiten und suchte nach einem Dokument, das seine Aufmerksamkeit fesseln konnte. Er fand nichts.

    Wolf hörte Hellmuth Erbels Stimme rufen. Ein Kampf auf dem Stationsflur! Wolf schob sich mit dem Drehstuhl vom Schreibtisch, fühlte nach dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche und war in drei Schritten an der Tür.

    Anton Raitmeier riss sein Knie hoch und traf den Pfleger unter dem Rippenbogen. Erbel knickte ein. Wolf rannte den Gang hinunter auf die beiden zu. Anton stand in der Tür seines Patien­tenzimmers. Wolf war noch den halben Flur von beiden entfernt, aber er konnte Antons aufgerissene Augen sehen. Der Blick flackerte von Erbel zu Wolf. Im Vornüberfallen legte Erbel seine Arme um Antons Taille. Wolf fehlten noch fünf Meter. Erbel hob Anton von den Füßen. Der Patient ruderte mit den Armen. Er wand sich, seine Bewegungen wurden panisch. Er stieß kurze Schreie der Anstrengung und der Angst aus. Erbel kippte seitlich auf den Linoleumboden und klammerte sich an Anton, der wie eine Puppe an ihm hing und sich befreien wollte. Die wirbelnden Arme und Beine trafen ins Leere, bis Wolf beide erreichte und in das rasende Durcheinander griff.

    Ein Fuß traf Wolfs linke Schulter. Anton hatte Schuhe mit Absätzen. Eine Faust streifte Wolfs Wange. Er zog den Kopf ein und bückte sich. »Jetzt reicht es, Anton!«

    Anton zögerte einen Moment. Seine braune Iris lag verloren in der Mitte der Augäpfel. Anton war mittelgroß, viel kleiner als Wolf und halb so breit. Wolfs Hände schlossen sich ganz um je ein Hand- und Fußgelenk. Er richtete sich auf, und zog, Antons zuckende Gliedmaßen streckten sich. Erbels Griff löste sich, Anton hing an Wolfs Händen. Er ließ das Bein fallen, und Anton stand vor ihm und sah zu ihm hoch.

    Mein Gott, dachte Wolf, welche Angst muss dieser Mensch durchleben …

    Antons Blick zuckte umher, versuchte Wolfs Gesicht über ihm zu fixieren. Eine Bewegung kam aus den Füßen, setzte sich über die Beine und Hüften bis zu den Schultern fort und riss schließlich seinen Kopf herum. Er stürzte in sein Zimmer, stieß die Tür beiseite, die an der Wand abprallte und sich langsam schloss.

    Wolf streckte Erbel die Hand hin. »Schlimm? Hat er Sie verletzt?«

    Der Stationspfleger ließ sich von Wolf auf die Beine helfen und zog die weiße Jacke über den haarigen Bauch. Seine fleischigen Wangen blähten sich, er rieb die Gegend über dem Magen. »Weiß nicht, was er plötzlich hat, der Anton.« Erbel atmete pfeifend aus. »War doch gut drauf, die letzten zwei Wochen – seit er Serenata hat.«

    Wolf suchte mit der Rechten unter seinem Hemd nach einer Verletzung über der linken Schulter, wo der Schuh ihn getroffen hatte. »Ich wollte ihn bald entlassen. Er schien völlig in Ordnung.«

    »Ich …« Erbel stockte, sein Blick zuckte zur Tür.

    Sie wurde aufgerissen und schlug im Zimmer an die Wand. Anton stand vor Wolf, noch bevor der ihn richtig wahrgenommen hatte. Antons Rücken streckte sich, er legte den Kopf in den Nacken. Die Augen schienen herausspringen zu wollen. Venen standen prall an beiden Seiten des Halses, Muskelstränge zeichneten sich unter der Haut ab. Ein Schweißtropfen rann die Stirn hinab zum rechten Augenwinkel. Anton öffnete den Mund weit, Wolf sah die Zunge, die sich wie ein Wurm wand. Der ganze drahtige Mann vor Wolf spannte sich wie ein Bogen und aus seinem Schlund drang ein urtümlicher Schrei. Anton schrie und Wolf hörte die Angst. Woher kam diese Angst? Der arme Mann …

    Antons Körper entspannte sich kaum, der Mund war nur halb geschlossen. Er sah an Wolf hoch. Wolf holte tief Luft und beugte sich ein paar Zentimeter zu Anton hinunter. Er brüllte einen Schrei, wie er nur aus Wolfs massivem Körper kommen konnte. Einige Türen fielen in die Schlösser. Wolf wollte lachen. Er unterdrückte es, Anton tat ihm leid.

    Antons Augen tanzten einen Moment. Seine Schultern fielen vornüber. Langsam schlossen sich seine Arme um den Oberkörper. Er drehte sich um, ging mit kurzen, schlurfenden Schritten ins Zimmer und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.

    »Wir müssen ihm Blut abnehmen und die Serenata-Konzentration darin bestimmen lassen.« Wolfs Blick folgte Erbels Rücken. »Und wir müssen ihn vor sich selbst schützen, wir sollten ihn fixieren.«

    Erbel lehnte sich mit dem Rücken zu Wolf an den Eingang zum Stationszimmer. Ohne sich umzusehen, wies er hinter sich auf Wolf und Antons Zimmertür. »Bitte sehr, Sie wissen, wo die Gurte sind. Ich schicke Ihnen Thomas. Ich habe genug für heute.«

    *

    Eine Stunde später saß Professor Naumann Wolf gegenüber auf dem Stuhl, auf dem gewöhnlich die Patienten Platz nahmen. Er streckte seine hageren Beine seitlich an Wolfs Schreibtisch vorbei und fuhr sich durch die zurückgekämmten grauen Haare.

    »Herr Kerrmann …« Naumann sah an Wolf vorbei aus dem Fenster. »Was der Erbel mir da gerade erzählt, hat sich das so zugetragen?« Naumann stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte die Spitzen der gespreizten Finger sorgfältig aufeinander. Die Haut seines Halses hatte im Alter Elastizität verloren, so dass ein Kehlsack gleich einem Doppelkinn unter seinem ausgemergelten Gesicht über den Hemdkragen fiel.

    Der Herr Oberpfleger Erbel muss also sofort zum Chef rennen und alles berichten, dachte Wolf. »Ich nehme an, er hat Sie nicht angelogen.«

    Der Chef sah Wolf kurz aus den Augenwinkeln an, holte Luft, wie um zu sprechen, besann sich dann und legte die zusammengefügten Spitzen der Zeigefinger auf die Nase. Nach ein paar Sekunden hob er den Kopf wieder. »Herr Kerrmann, es ist nicht nur eine Regel dieser Klinik, es ist ein Grundprinzip, dass wir unsere Patienten nicht anschreien, das wissen Sie.«

    »Ich kenne die Regeln und ich kenne die Prinzipien der Psychiatrie. Ich habe …«

    »Sehr schön, aber warum halten Sie sich nicht daran?« Naumann ließ eine Hand sinken und wandte Wolf das Gesicht zu. »Herr Raitmeier hat Hämatome an einem Handgelenk und am Fuß.« Ein Zittern lag in seiner Stimme. »Eindeutige Abdrücke, Herr Kerrmann. Jedenfalls nicht von einem Fixationsgurt. Details …«, er rieb sich die Stirn, »Details wage ich gar nicht zu denken.«

    »Ich …«

    Naumann winkte wegwerfend. »Was, wenn Raitmeiers Angehörige heute zu Besuch kommen? Was, wenn zufällig ein Anwalt in seiner Familie ist?« Naumann schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. »Vielleicht sind Sie es ja gewohnt, sich mit Ihrer …«, er wies auf Wolf, »… Statur … körperlich durchzusetzen. Aber Sie werden sich das abgewöhnen, sonst kann ich Sie hier nicht gebrauchen. Haben Sie mich verstanden?« Naumann zog eine schmale, rote Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche und nahm eine dünne, braune Zigarette heraus.

    Wolf nickte. »Ich werde New England General Pharmacy einen Bericht über eine Arzneimittelnebenwirkung schicken und wir sollten eine Meldung an das Bundesaufsichtsamt schreiben.«

    Naumann nahm die Zigarette nach einem Zug aus dem Mund und wischte Wolfs Satz mit einem Wink beiseite. »Das werden Sie bleiben lassen.« Rauch strömte aus beim Sprechen. »Wie kommen Sie auf eine Nebenwirkung? Von Serenata? Unsinn, das Zeug hat keine Nebenwirkungen.«

    »Warum ist Anton plötzlich ausgerastet?«

    »Der Herr Raitmeier …« Er sah Wolf für einen Augenblick an, dann wandte er sich wieder ab. »Herr Raitmeier war … – ich würde es aggressiv nennen. Zunächst muss gefragt werden, was genau geschehen ist. Dann, warum es geschehen ist.«

    Wolf holte Luft und öffnete den Mund.

    Naumann richtete die glühende Zigarette auf ihn und sagte: »Irgendwann später könnte man sich überlegen, eine Medikamentennebenwirkung zu erwägen – dann. So ist die Reihenfolge, Herr Kerrmann.«

    »Aber man muss eine Meldung an die Behörde schreiben. Ich finde, man kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

    Naumann beugte sich zu Wolf herüber. »Was man tun muss, und was nicht, das bestimme ich, Herr Kerrmann.« Er lehnte sich zurück und zog an der Zigarette. Eine Halbkugel Rauch quoll aus seinem offenen Mund, bevor er tief einatmete. In den ausströmenden Rauch hinein sagte er: »Jetzt tun Sie doch nicht so, als ob Sie noch nie einen aggressiven Patienten gesehen hätten. Wenn wir da jedes Mal eine Meldung an das Bundesamt schicken wollten …« Er ließ seine Linke locker in der Luft kreisen. Die Asche fiel von der Zigarettenglut und rollte auf die Schreibtischunterlage.

    »Anton Raitmeier war noch nie aggressiv«, sagte Wolf. »Er war tief depressiv, zu Anfang fast stuporös. Es gibt in der ganzen Krankengeschichte nicht einen Hinweis auf aggressives Verhalten.«

    »Niemand ist aggressiv, wenn er zu tief depressiv ist. Kerrmann, das ist trivial. – Ach was, Schluss jetzt.« Naumann stand auf. »Sie schicken nirgendwo eine Meldung hin, ohne sie mir vorgelegt zu haben. Das ist eine Dienstanweisung.« Er stieß die halb gerauchte Zigarette in den Aschenbecher auf Wolfs Schreibtisch.

    Wolf hatte die kleine gläserne Schale nie mehr benutzen wollen. Nur dreimal war er rückfällig geworden. Dreimal in drei Monaten. Wenn ich jetzt eine rauche, wären es vier in vierzehn Wochen, dachte er. Fast zwanzig Jahre lang hatte er geraucht, plötzlich hatte er Angst vor Krebs bekommen. Kehlkopfkrebs, nach der Laryngektomie mit einem seidenen Halstuch vor dem Stoma herumlaufen. Lungenkrebs, sechs Monate Überlebenszeit. Sogar Magen- und Blasenkrebs wurden mit dem Rauchen in Verbindung gebracht. Nur sein medizinischer Sachverstand bewahrte ihn vor Panik.

    Naumann ließ die Tür hinter sich zufallen.

    Wolf stand auf, stellte sich seitlich zur Tür, peilte mit der ausgestreckten Linken und warf mit der Rechten ein eingebildetes, schweres Messer nach Naumann. Er stellte sich vor, wie die Spitze mit einem satten Ton im Holz versank, der Griff zitterte einige Sekunden ein Vibrato. »Guter Wurf, Wolf.«

    Er trat an den Schrank mit den Lehrbüchern und den Akten für die seit Wochen überfälligen Gutachten. Unter den Papieren des Brandstifters zog er eine plattgedrückte Schachtel heraus. Er klopfte eine Zigarette aus der Packung, klemmte den Filter zwischen die Lippen und suchte nach dem Feuerzeug. Er öffnete das Fenster, lehnte sich auf das Fensterbrett und gab sich Feuer. Der Rauch strömte beißend durch seine Kehle. Wolf rang geübt mit seinem Kehlkopf, der sich vor dem Gift verschließen wollte. Das Nikotin kam in der nächsten Sekunde im Gehirn an. Ein Teufelszeug, dachte er. Schneller als Heroin. Weniger wirkungsvoll, aber es macht ebenso süchtig. Er atmete aus, blies in die Glut und genoss den plötzlichen Schwindel.

    »Scheiße.« Die Röntgenaufnahme. Er hatte den Termin für die Thoraxaufnahme vergessen. Bei einer Patientin war in der Rehabilitation Tuberkulose festgestellt worden. Die Arbeitsmedizinerin der Klinik hatte alle auf der Station zu Untersuchungen aufgefordert. Er sah auf die Uhr. Sein Termin war vor einer Viertelstunde gewesen. Er schnippte die angerauchte Zigarette auf das Dach und schloss das Fenster.

    *

    Er saß im Sprechzimmer der Betriebsärztin. »Frau Doktor wird gleich kommen, Herr Kerrmann«, hatte die Sprechstundenhilfe von oben herab zu ihm gesagt, obwohl sie fast zwei Köpfe kleiner war als er. Sie hatte ihm den Stuhl zugewiesen und ihn angesehen, als denke sie darüber nach, ob es sicher war, ihn im Allerheiligsten allein zu lassen.

    Dorothea Benz. So hatte sie leserlich die Aufforderung zur Untersuchung unterschrieben, die neue Betriebsärztin Dorothea Benz. Das klang nach einer älteren Dame. Womöglich hatte sie graue Haare, eine dicke Brille und einen Dutt. Er fragte sich, warum man so spät im Leben noch einmal die Stelle wechseln musste. Hatte sie etwas angestellt? In den Opiatschrank gegriffen? Sucht traf Menschen jeden Alters. Eine Oma als Morphinistin – ein altes, graues Mütterchen mit Morphinmissbrauch fehlte noch in seiner Sammlung.

    »Guten Tag, Herr Kollege Kerrmann. Benz mein Name, ich bin die Betriebsärztin. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.«

    Wolf drehte sich zu ihr um.

    Sie hatte sich ihre Haare wirklich zu einem Dutt gesteckt. Und eine Brille trug sie auch. Aber sonst war sie das Gegenteil dessen, was er erwartet hatte. Sie war jung. Ein paar Strähnen des braunen Haars waren der Frisur entwischt und sie strich sie hinter die Brillenbügel. Zarte Hände. Kein Nagellack. Sie war kaum geschminkt. Wenn sie ihn bitten würde, sich zur Untersuchung auszuziehen, würde er rot werden. Er senkte die Augen, sein Blick streifte dabei ihre Hüften. Er atmete tief ein. Er konnte es nicht verhindern. Er stellte sich vor, wie sie ohne Kleidung aussah. Er schüttelte den Kopf.

    Doktor Benz nahm einen braunen Aktenhefter und sah durch die Blätter.

    »Frau Benz, glauben Sie wirklich, ich habe mich bei der Patientin angesteckt? Schauen Sie, das Ganze ist doch Unsinn.« Er deutete auf seine Akte. »Könnten Sie nicht einfach einen Haken auf ihr Formular machen und damit ist die Sache erledigt?«

    »Ja, natürlich. Könnte ich.« Benz lehnte sich zurück, legte die Papiere auf ihre Beine und faltete die Hände darüber.

    »Prima, dann könnten wir ja …«

    »Tue ich aber nicht. Es ist gegen die Regeln, und ich bin hier noch in der Probezeit.« Sie stemmte sich aus ihrem Stuhl. »Also, dann fangen wir an.« Sie nahm ein Stethoskop vom Tisch und beugte sich vor, um aufzustehen.

    Sein Blick fiel in ihren Ausschnitt. Er sah zur Seite.

    »Ziehen Sie bitte Ihr Hemd aus, Herr Kerrmann. Haben Sie Husten gehabt? Auswurf in letzter Zeit? Wie steht es mit Fieber?«

    Er spürte, wie er errötete. »Weder Husten, noch Auswurf, noch Fieber. Frau Benz, ich habe keine Tb.«

    Sie nahm seine Schultern und drehte seinen Rücken vor sich. Seine Haut kitzelte unter ihrem Griff. Eine Gänsehaut lief über den Rücken. »Sie sind sehr groß. Husten, bitte.« Sie setzte das Hörrohr auf und schwieg, während sie ihn zu untersuchen begann. »Ihre Gesichtszüge sind sehr ausgeprägt.« Eine neue Stelle wurde abgehört. »Hatten Sie mal eine Akromegalie? Als Jugendlicher?«

    Jede Berührung ihrer Hände ließ ihn ein wenig zusammenzucken.

    »Noch mal.«

    Er hustete. »Bin einfach immer schneller gewachsen. Mir hat es nichts ausgemacht. Mein Vater hat mich dann irgendwann zum Endokrinologen gebracht. Als ich achtzehn war. Es war ein kleines Adenom an der Hypophyse.« Er hörte sie Zustimmung summen. »Seit der Operation bin ich dann nicht mehr gewachsen.«

    »Imposante Größe.«

    »Zwei Meter fünf. Der Tumor war nur drei Millimeter groß. Hat aber Wachstumshormon für drei produziert. Kleines Biest.«

    Sie strich mit der Hand von seiner linken Schulter schräg über den Rücken nach unten. Sie klopfte den Brustkorb ab. Jedes Mal, wenn sie die Position ihrer flachen Hand veränderte, um einen anderen Teil zu beklopfen, strich sie mit ihrer weichen Haut über seinen Rücken.

    Er sah sich mit ihr auf der Untersuchungsliege. Warum lasse ich mich von jeder schönen Frau so hinreißen?, dachte er.

    »Ich kann nichts hören. Auskultation in Ordnung, Perkussion ohne Befund, so weit alles gut. Aber das Röntgenbild kann ich Ihnen trotzdem nicht ersparen. Ist Vorschrift. Anziehen.«

    »Anziehen. Jawohl, Frau Doktor.«

    Sie lachte, ging hinter ihren Schreibtisch zurück und unterschrieb ein Formular in seiner Akte. Da war wieder dieser Ausschnitt. Er zog das Hemd über der Brust zusammen. Er wollte sie im Arm halten, ihr Haar riechen, sich vergessen. Sie richtete sich auf und sah seinen Blick. Er verbot seinen Augen, tiefer als auf ihr Kinn zu blicken. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Nicht spöttisch, nicht amüsiert. Sie richtete sich auf, nahm die Schultern zurück. Er hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet und konzentrierte sich auf seine Hemdknöpfe.

    »Wenn das Bild fertig ist, kommt es zu mir«, sagte sie. »Ich rufe Sie an, dann besprechen wir das Ergebnis. Zumindest, wenn etwas auffällig ist.«

    *

    Wolf lag auf dem Rücken. Nur ein Baumwolllaken bedeckte seinen Körper. Motorengeräusch irgendwo draußen. Er versuchte, im Halbdunkel die Struktur der Decke zu erfassen, es gelang ihm nicht. Er drehte sich zum Radiowecker um. Kurz nach Mitternacht. Er sah zu Sabine hinüber. Ein Autoscheinwerfer warf einen Fleck auf die Wand, bewegte sich von der Ecke mit dem Kleiderschrank auf sie zu und streifte ihr Profil. Wolf drehte sich wieder auf den Rücken – der Lichtfleck war bereits verschwunden.

    Sabine schlief immer bald ein, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Er lag seit einiger Zeit oft noch lange wach und dachte nach. Über sie, über sich.

    Wolf wälzte sich nach rechts. Das Laken war hinabgerutscht, ihre Brust hob und senkte sich langsam. Die kühle Luft des Schlafzimmers hatte ihre Brustwarze fest und klein werden lassen. Er liebte diesen Anblick, er liebte ihren Körper, er liebte das Gefühl, bei ihr zu liegen. Nur eine Nacht zuerst, dann ein paar Nächte, jetzt schon einige Wochen. Er hatte sie auf einem Kongress in Bremen kennen gelernt. Sie hatten im Hotel die Nacht verbracht und erst am nächsten Morgen bemerkt, dass sie beide aus München kamen.

    Er liebte sie nicht. Er sah ihr Gesicht, ihre Brust, die Kontur ihres Körpers. Das alles war wunderschön, aber er fühlte das Kribbeln nicht. Er konnte es ertragen, ohne sie zu sein, und er konnte es ertragen, sich vorzustellen, dass sie nicht mehr bei ihm sein wollte. Er drehte sich auf den Rücken und betrachtete die Decke. Sie waren seit Wochen jede Nacht zusammen gewesen. Sie hatte es stets so arrangiert. Er ließ sich treiben. Ob ihr das auffiel?

    Er fragte sich, ob er ihr etwas vorgemacht hatte. Wolf dachte nach. Habe ich gespielt, verliebt zu sein? »Nein.«

    Sabine murmelte Unverständliches und wandte sich ihm zu. Ihre Hände fuhren über seinen Brustkorb und seine Schultern. Sie schmiegte sich an seine Seite. Ihre weiche Haut fühlte sich wunderbar an. Wolf genoss es, wie ihr Körper sich mit ihrem Atem rhythmisch an ihn drückte. Er spürte ihre Brüste, fest und weich zugleich. Er befreite einen Arm und schob ihn vorsichtig unter ihren Kopf und die Schultern. Sabine bewegte den Kopf, zog sich dichter an ihn und küsste seine Brust. Ihr Atem kitzelte seine Brustwarze. Er legte den anderen Arm auf ihre Schulter und griff in ihr Haar. Sie hatte glatte, schwarze Haare. Sie legte ein Bein über sein Schienbein und zog sich halb auf ihn. Sie bedeckte seine Haut mit Küssen. Er umfasste ihre Hüften und zog sie zu sich. Ihre Augen waren geschlossen. Sie suchte küssend mit halb geöffnetem Mund seinen Hals, sein Gesicht.

    Wolf schloss die Augen. Er ließ seine Hände ihren Körper erkunden. Er fand muskulöse Oberschenkel, einen kleinen Po, einen schmalen Rücken. Sabines Lippen erreichten seinen Mund. »Noch mal«, hauchte sie zwischen seinem Kinn und seiner Wange.

    ›Noch mal‹, hatte die Betriebsärztin Benz ihn angewiesen. Noch mal husten sollte er. Er stellte sich vor, Dorothea Benz läge auf ihm.

    »Oh, besser als eine Antwort.« Sabine drückte ihre Hüften an seine, griff mit beiden Händen in sein Haar, stützte sich mit den Ellenbogen ab und schob sich etwas nach oben. Wolf ließ die Augen geschlossen. Er sah Sabine, sah Dorothea, sah sich. Er umfasste Sabines Po, drückte sie an sich und küsste sie.

    *

    Wolf schlug langsam die Augen auf. Es war angenehm kühl im Schlafzimmer. Das Fenster war offen, die dünnen Laken boten mehr Schutz als Wärme. Er fühlte sich ausgeschlafen und wollte aufstehen, etwas tun. Das Licht war noch grau, die Sonne konnte noch nicht aufgegangen sein. Es konnte nicht viel später als vier Uhr sein.

    Er zog langsam seinen Arm unter Sabines Kopf heraus. Eine Strähne ihres Haares hatte sich über den Augenwinkel gelegt. Ihre großen, dunklen Augen … Wie dünn war ein Augenlid, überlegte er. Konnte man eine so dunkle Iris durch ein Lid hindurch sehen?

    Er duschte, zog sich an und suchte nach seiner Geldbörse. Er wollte ein ausgiebiges Frühstück einkaufen und Sabine früh wecken, dann hatten sie Zeit, bevor er in die Klinik musste. Sie konnte sich immer mehr Zeit als er lassen. Als Chefin ihrer Praxis in Bogenhausen hatte sie nie Termine vor neun Uhr.

    Er sollte sich andere Frauen aus dem Kopf schlagen, Sabine heiraten und in ihre Praxis einsteigen. Wenn er wusste, was gut für ihn war, würde er es tun. Aber er hatte selten getan, was gut für ihn war. Er wollte seinem Über-Ich immer wieder zeigen, wer der Boss war. Deshalb würde er Sabine bei einem schönen Frühstück erklären, dass er Abstand brauchte. Dass alles so plötzlich gekommen sei und dass er etwas Zeit für sich brauche. Nein, eine andere Frau gäbe es nicht. All das Zeug, was Frauen akzeptieren konnten. Oder das, was er dafür hielt. Es hatte jedenfalls schon einige Male funktioniert. Er hätte nicht sagen können, mit welcher Masche er Frauen ansprach, es gab keine.

    Er fand sein Portemonnaie auf dem Küchentisch.

    Er hatte seine Masche, sie wieder los zu werden. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Wenn das so weiterging, würde er als Junggeselle sterben. Wenn seine verschiedenen Ichs sich bis dahin nicht auf einen Lebensstil geeinigt hätten.

    Als er vom Bäcker kam, gurgelte die Kaffeemaschine in den letzten Zügen und der Duft begann sich zu verbreiten. Wolf verteilte Besteck und Geschirr und überlegte, auf welcher Seite des Tisches er sitzen sollte. Er saß sonst immer mit dem Gesicht zum Fenster, aber er fand, der Anlass verdiente einen Wechsel. Er überlegte, ob er sie mit einem Kuss wecken sollte. Es musste anders als sonst sein, das würde es ihm leichter machen. Er schob ein Messer an seinen Platz neben dem Teller und stellte die große Tasse mit dem Reklameaufdruck von New England General Pharmacy dazu. Er würde ins Schlafzimmer gehen, die Jalousie etwas verdrehen, damit das Licht sie wecken konnte. Vielleicht das Radio leise anstellen und dann einfach warten. Oder er konnte ihr auch eine Tasse Kaffee auf den Nachttisch stellen. Trank sie ihn schwarz mit oder ohne Zucker?

    »Guten Morgen.«

    In Wolfs Händen knackte der Verschluss eines Marmeladenglases. Sabine hielt ihr Haar mit beiden Händen im Nacken zusammen. Ihr Seidenhemd spannte über ihren Brustwarzen und in Wolf blitzte der Gedanke auf, seinen Plan aufzugeben. »Oh. Ich dachte, du schläfst noch.«

    Sie ließ die Haare los, schlang ihre Arme um Wolfs Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Du bist süß.«

    Süß? Wolf ließ das Marmeladenglas auf die Tischplatte gleiten. Sie hatte »süß« gesagt, wie es Kinder zu neugeborenen Katzen sagen, oder zu einer neuen Puppe. Barbies Mann.

    »Du hast Frühstück geholt.« Sie setzte sich auf den falschen Klappstuhl.

    Er nahm die kleinere Tasse ohne Aufdruck und füllte Kaffee ein. »Schwarz ohne Zucker?«

    »Mit Zucker. Drei Löffel.«

    »Ich muss mit dir reden.« Er rührte zu schnell in seiner Tasse.

    »Ich weiß.«

    Sie verwirrte ihn. »Ich muss mit dir reden«, wiederholte er.

    »Ich weiß«, sagte sie und nahm ein Croissant aus dem Korb zwischen ihnen. »Wir sind sechs Wochen zusammen. Du schläfst schlecht, stehst viel zu früh auf und holst Frühstück. Ist doch klar.«

    »Woher weißt du? Ich meine … was? Was ist klar?«

    »Der erste Crush ist weg, jetzt kommen Gedanken. Gedanken von Hochzeit, dem Leben. Vielleicht von …« Sie nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee.

    Sie wollte »Kinder« sagen. Sie sah so ruhig aus. Er war sicher, sie wollte »Kinder« sagen. Wie kann sie so ruhig bleiben?, dachte er. Hochzeit – wie kommt sie auf Hochzeit? Es läuft falsch.

    »Jetzt will etwas in dir heiraten. Nennen wir es dein Über-Ich.«

    Nicht das Über-Ich … Wolf stützte die Stirn in die hohle Hand.

    »›Halt, um Himmels willen, halt!‹, schreit dein Ich, das dir viel besser gefällt. Das animalische Ich.« Sie lachte, deutete ein Fauchen an und zeigte eine Kralle mit der Rechten. Die Linke stippte das Hörnchen in den Kaffee. »Das Ich, das ich übrigens auch ganz gern habe.« Sabine strich mit der rechten Hand über ihre Brust und Taille.

    Sein Blick folgte ihrer Hand. »Sabine, ich weiß nicht genau, wovon du redest. Es ist so, dass ich wieder Raum brauche. Meine Freiheit in sechs Wochen von hundert auf null zu fahren, das kann nicht gut gehen.«

    »Das sage ich doch, Wolf.« Sie hob die Rechte mit dem Croissant und streckte den Zeigefinger aus. »Du hast dich mit einer Psychiaterin eingelassen.« Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn an.

    Er wischte ein paar Zuckerkrümel vom Tisch, sah

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