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Die Chance ihres Lebens
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eBook324 Seiten4 Stunden

Die Chance ihres Lebens

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Über dieses E-Book

"Hector hatte eine Frau. Sie hieß Sylvie. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn. Sein Name war Lester … " Dieses Trio wird eine Zeitlang in den USA leben. Alles kann sich da verändern. Oder nichts. – Ein psychologisch fein gesponnener, ironisch getönter Roman voller origineller Alltagsszenen über das Leben in der Fremde und das zu entdeckende Land in uns selbst.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Feb. 2020
ISBN9783772544156
Die Chance ihres Lebens

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    Buchvorschau

    Die Chance ihres Lebens - Agnès Desarthe

    Danksagung

    Erster Teil

    Hector hatte eine Frau. Sie hieß Sylvie. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn. Er hieß Lester. Ein englischer Vorname, weil Hectors Familie väterlicherseits aus Penzance in Cornwall stammte beziehungsweise einem Marktflecken, der nördlich dieses Seebades gelegen war. Ein Dorf, dessen Name verschwiegen wurde, denn man hatte ein Faible für Geheimnisse.

    Vor Kurzem hatte Lester darum gebeten, anders genannt zu werden. Das war in einem Flugzeug gewesen. Über dem Atlantik. Sagen wir, ungefähr auf halber Strecke. Dort, so hatte der Jugendliche vermutet, wo Passagiere und Besatzung unrettbar verloren wären, sollte die Maschine abstürzen. Selbst wenn eine Wasserlandung möglich ist, hatte er spekuliert, wir sind so weit weg von allem, von Land weit und breit keine Spur, dass wir sterben werden. Wir werden nicht in den Flammen umkommen, nicht beim Aufprall, die Körper von den Splittern des Cockpits durchbohrt, wir werden wie Matrosen und Entdeckungsreisende sterben: vor Hunger, Traurigkeit und Angst.

    Er fürchtete sich nicht. Er war vierzehn und übte sich entschlossen in Weisheit.

    Wir werden sterben.

    Lester saß zwischen seinem Vater und seiner Mutter – er in eine Zeitung vertieft, sie seit Beginn des Fluges mit derselben Seite ihres Buches beschäftigt, denn sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie spionierte ihn aus, sie spionierte ihren Sohn aus, ja, ihren Sohn, um den sie sich sorgte, ohne dass sie es zugeben wollte oder darüber gesprochen hätte – und er sah ihrer aller Ableben mit großer Seelenruhe entgegen.

    Während er sich an einen Atemrhythmus von fünf Sekunden beim Einatmen und zehn beim Ausatmen hielt, in der Hoffnung, so leichter einen Zustand tiefer Meditation zu erreichen – die Handflächen nach oben gedreht, Augenlider geschlossen –, war ihm ein dünner Wasserstrahl ins Gesicht gespritzt. Nur ganz wenig. Gerade so viel Wasser, wie einem spitzbübischen Frosch ins Maul gepasst hätte, um ihn aus lauter Spaß damit anzuspucken. Es war aber natürlich kein Frosch. Sondern Leonie, die Stewardess mit akutem Rheuma, von dem sie niemandem etwas gesagt hatte, weil sie das Reisen und ihre Uniform liebte und eine Kündigung befürchtete. Ein schmerzhaftes Stechen mitten im Knie hatte sie straucheln lassen, gerade als sie einem Mann auf der anderen Seite vom Gang sein Getränk hinstellen wollte. Das Wasser war übergeschwappt.

    «Oh, Entschuldigung. Sorry, mein Großer. Wie heißt du?», fragte sie und tupfte ihn vorsichtig ab.

    Der Junge sah sie aufmerksam an. Das Make-up ließ ihre Haut glatt und samtig wirken wie einen gewaschenen Pfirsich, sie hatte große, braune Tieraugen, und um ihren Nacken war ein kleines Halstuch geknotet.

    «Absalom Absalom», antwortete Lester.

    «Absalom? Ein seltener Name. Und so schön.»

    «Absalom Absalom», hatte Lester korrigiert. «Es ist eine Art Doppelname, wenn Sie so wollen, wie Jean-Jacques, nur dass es zweimal dasselbe ist.»

    «Mit einem Bindestrich dazwischen?»

    «Absalom Leerzeichen Absalom. So, ohne Bindestrich.»

    «Interessant», hatte Léonie gemurmelt und einen bewundernden Blick, dem aber auch ein wenig Skepsis beigemischt war, auf die Person geworfen, die neben dem Jungen saß und von der sie nicht hätte sagen können, ob es sich um seine Großmutter, seine Tante oder vielleicht doch um seine Mutter handelte. Sie waren verwandt, dafür hätte sie ihre Hand ins Feuer gelegt, denn sie hatten dieselben großen, weit auseinander stehenden Augen, deren Grün … wie sollte sie dieses Grün genauer beschreiben … das ins Gelbliche spielte … Aber das erinnerte sie doch an etwas. Genau! Es war exakt der Farbton vom Nasenschleim ihrer Tochter Stella, der ihr ständig in zwei Rotzglocken zwischen Nasenlöchern und Amorbogen hing.

    Sylvie wollte sich nicht gleich einmischen. Sollte sie diesen absurden Wortwechsel unterbrechen? Musste sie die falsche Information richtigstellen? Mein Sohn heißt Lester. Er macht nur Spaß. Er ist ein richtiger Spaßvogel, wissen Sie. Etwas hatte sie zurückgehalten. Die Angst vor Uniformen. Amtstrachten hatten diese Wirkung bei ihr. Sie wusste zwar, dass die Uniform der Polizei nicht gleichwertig war mit der von Kontrolleuren, Platzanweiserinnen im Theater, Stewardessen und dem Zimmerservice. Aber war das überhaupt wichtig?

    «Hector?», hatte sie zu ihrem Mann hinübergehaucht.

    «Jooh?»

    «Lester hebt jetzt völlig ab.»

    «Was ist los?», hatte Hector mit abwesender Stimme gebrummt, die Augen immer noch auf seine Zeitung geheftet.

    Sylvie hatte nichts erklärt. Sie musste sich ruhig und zuversichtlich zeigen. Es waren so viele Entscheidungen getroffen worden. Das Leben von ihnen dreien würde so radikal auf den Kopf gestellt, dass das Motto von Edwina, ihrer Schwiegermutter, hier doch einmal passte: «Sich immer wundern, aber nie die Fassung verlieren.»

    Der Flughafen, auf dem sie am Ende ihrer Reise landeten, ähnelte dem davor nicht, wo es einen dreistündigen Zwischenstopp gegeben hatte, wo sie von einem Polizisten, der in seinem Körperbau einem jungen Gänserich ähnelte, einer Befragung unterzogen worden waren. Der junge Mann in Uniform, dessen überlangen Hals ein Adamsapfel zierte, der so hervorsprang, dass Sylvie dachte: Das ist sein drittes Auge (ohne ihren Blick von dem blassrosa Höcker abwenden zu können, der mit einer Art chronischer Gänsehaut überzogen war), dieser junge Mann hatte jedem von ihnen eine Reihe von Fragen gestellt, dabei nicht aufgehört, sie anzustarren, und wenn doch, dann nur, um einen prüfenden Blick in den Reisepass folgen zu lassen, den er in seinen zitternden Händen hielt. Er wirkte so, als hätte er furchtbare Angst und sei enorm misstrauisch.

    Ein Mann, eine Frau und ein Jugendlicher aus Frankreich, Passagiere unter Tausenden anderer Passagiere, schienen ihn persönlich zu bedrohen. «Man wählt sie wegen ihres psychiatrischen Profils aus», hatte Hector erklärt, als sie auf amerikanischem Boden waren. «In dem Fragebogen, den sie bei ihrer Einstellung ausfüllen, befindet sich ein Feld mit der Überschrift ‹Medizinische Vorgeschichte›. Jene, die hier ein Kreuz machen und ausführen, dass sie zwanghafte Verhaltensstörungen mit einer Tendenz zur Paranoia vorweisen können, werden vorrangig rekrutiert.» Er lächelte und Sylvie fragte sich, ob das wohl ein Scherz sein sollte. Hector war mit Leib und Seele Professor. Alles, was er sagte, schien gelehrt und glaubwürdig, trotz mancher Ungereimtheiten.

    Sylvie hatte sich gefragt, ob sie denn eine Bedrohung für diese riesengroße Föderation der USA darstellte. Drohte ihre unbedeutende Gegenwart eine wertvolle Ordnung zu stören, die mit Wachsamkeit, Feuereifer und erbittertem Glauben in weniger als drei Jahrhunderten errichtet worden war? Bestand die geringste Chance, dass sie eine echte Gefahr darstellte? Sie war ein nachlässiger Mensch, zeigte sich manchmal unterkühlt und glaubte an nichts. Standen ihr diese Charaktereigenschaften ins Gesicht geschrieben? Schwitzten sie aus den Wasserzeichen heraus, die sich über die Seiten des Dokuments zogen, das ihre Identität bestätigte? Sie färbte sich nicht die Haare, trieb keinen Sport, wurde schwach bei der vergammelnden Kruste von nicht pasteurisiertem Käse. War das ein Verbrechen? Als sie das Formular ausfüllte, das man im ersten Flugzeug verteilte, war sie versucht gewesen, in die Rubrik zum Gebrauch von Betäubungsmitteln einzutragen, dass in ihrer Kindheit das Rauchen von Hanfstroh schon vorgekommen war. «Ihr müsst alle Fragen mit Nein beantworten», hatte Hector ihnen geraten. «Verliert keine Zeit mit Lesen.»

    Der erste Flughafen war abweisend gewesen. Sie hatte sich dort fremd gefühlt, so, als litte sie unter mannigfaltigen Krankheiten und sei schrecklich ansteckend. Die Pest steckte ihr im kleinen Finger, Typhus in der rechten Kniescheibe und Lepra in der linken. Der zweite Flughafen hatte sie als eine Bürgerin unter vielen willkommen geheißen. Er war weitläufiger und moderner als der erste. Riesige Fensterfronten aus Glas, das Blassviolett getönt war, verbreiteten ein schmeichelhaftes Licht. Die Marmorböden waren von spektakulärer Sauberkeit, ein Spiegel für vereinzelte, friedfertige Gestalten. Niemand schien es eilig zu haben. Am Rand des Gepäckbandes, das wie eine langsame Raupe die Koffer auf seiner Wirbelsäule aus schwarzem Kautschuk im Kreis herumfahren ließ, harrten geduldige Menschen aus, einzeln, in einer Traube oder als Paar, ohne zu den besten Plätzen hin zu drängen, sie warteten mit einem gewissen Abstand zu den anderen und warfen sich ein sehr verhaltenes Lächeln zu. Lester hatte sich einen Gepäckwagen besorgt und fuhr damit herum, als wäre es ein Roller, wobei er langsame Pirouetten drehte. Man sah ihm mit Wohlwollen zu. Vielleicht gewöhne ich mich daran, dachte Sylvie. Amerika ist blind und gelassen wie ein Unterwasserwesen, das aufgrund seiner Größe, die jene aller seiner Artgenossen weit übertrifft, eine Gleichgültigkeit an den Tag legt, die an Lethargie grenzt. Man lebt auf seinem Rücken wie auf einer Insel und ist ganz ahnungslos ob der Zuckungen, die es erschüttern. Hier werde ich dieselbe sein und doch eine andere, dachte sie auch noch. Sie verwechselte die Wirkungen der Zeitverschiebung mit der zwangsläufig melancholischen Seelenruhe, die ein Traum mit sich bringt, der erfüllt worden ist.

    Im Auto, das sie zu ihrer neuen Bleibe brachte, legte Sylvie den Kopf auf Hectors Schulter und fragte:

    «Wie spät ist es, Liebling?»

    «Zeit, schlafen zu gehen, aber auch Zeit, Tee zu trinken und einen kleinen Waldspaziergang zu machen.»

    «Nein, ernsthaft.»

    «Es ist fast fünf Uhr am Nachmittag. Aber für deinen Körper ist es bald elf Uhr abends. In Paris schläfst du schon seit 10 Minuten und ich höre dich schnarchen.»

    «Ich schnarche nicht.»

    «Jeder schnarcht.»

    «Es ist fünf Uhr nachmittags und ich schnarche nie. Meine großen negroiden Nasenlöcher, die habe ich von meinen Vorfahren aus Kamerun geerbt.»

    «Wir haben Ahnen in Kamerun?», Lester schrie fast vor Erstaunen.

    Sylvie versuchte ihn zu zügeln. «Niemand kennt seine Ahnen wirklich.»

    Schützt meine Eltern. Schützt sie vor sich selbst und vor den anderen. Es sind rechtschaffene Menschen und, ihr wisst es ja, rechtschaffene Menschen sind dünn gesät. Warum sie rechtschaffen sind? Das werde ich euch sagen. Sie sind unschuldig und sie ahnen nichts von den Umständen, unter denen sie leben. Ich sehe, wie sie mit Mut und Anstand ihren Weg gehen. Sie haben manche Kümmernisse erlebt. Sie haben einige Prüfungen durchgestanden. Darüber sprechen sie nicht. Sie beschweren sich nie. Sie kommen voran, blind wie Regenwürmer, genauso arbeitsam und harmlos wie diese. Sie lieben sich. Das kommt so selten vor. Hector liebt Sylvie. Sylvie liebt Hector. Sie sind meine Eltern. Meine armen Eltern. Meine alten Eltern. Meine armen alten Eltern. Schützt sie …

    «Was machst du denn da?», fragt Sylvie, die schon seit einigen Minuten im Rahmen der Tür steht, die zur Garage hinüberführt. Sie beobachtet Lester, der sich, aufrecht stehend, mit einem Buch in den Händen vor und zurück wiegt. «Lester! Was machst du da? Antworte mir.»

    «Ich heiße nicht mehr Lester», sagt er und dreht sich langsam zu ihr um. «Ich heiße Absalom Absalom. Nenn mich jetzt so.»

    «Ich nenne dich, wie ich will. Wie wir, dein Vater und ich, dich getauft haben.»

    «Aber ihr habt mich nicht getauft.»

    «Was redest du denn da?»

    «Ich wurde im Flugzeug getauft. Die Stewardess hat mir ihren Segen gegeben. Es war meine Lufttaufe.»

    Sylvie lacht laut auf, und Lester lacht mit.

    «Ernsthaft, was macht du hier, im Keller, ganz allein? Draußen ist so schönes Wetter.»

    «Das hier ist kein Keller, Sylvie, es ist eine Garage.»

    «Nenn mich Mama.»

    «Es ist eine Garage.»

    «Betest du?», fragt sie misstrauisch und zeigt auf das Buch, das Lester jetzt an seine Brust drückt.

    «Nein, ich spiele Nintendo.»

    «Aber da ist keine Konsole, kein Bildschirm. Was soll das denn schon wieder heißen?»

    «Ich schalte die Konsole an, wenn ich so weit bin. Ich übe. Ich laufe mich warm, wenn dir das lieber ist.»

    «Und was ist das hier?», hakt Sylvie nach und tippt mit dem Zeigefinger auf das Buch.

    «Was, das?»

    «Das Buch. Es ist ja wohl keine Anleitung für ein Videospiel?»

    «Nein», antwortet Lester und zeigt ihr den Einband. «Es sind die Bekenntnisse des heiligen Augustinus.»

    «Aha, immerhin!»

    «Wie?»

    «Du gibst es zu.»

    «Was?»

    «Dass du den heiligen Augustinus liest.»

    «Ich lese ihn nicht. Ich habe das Buch genommen, weil es genau das richtige Gewicht hat, um damit meine Bizepse zu trainieren, ohne mir eine Sehnenentzündung einzuhandeln. Soll ich das Lernprogramm holen?»

    «Nein, ich will, dass du rausgehst und den Sonnenschein genießt.»

    «Okay, Mama. »

    Als sie die Eingangstür des Hauses zum ersten Mal aufstieß, musste Sylvie an die Aufkleber auf den Wänden mancher Toiletten denken: «Bitte lassen Sie dieses Örtchen so zurück, wie sie es vorgefunden haben.» Die taoistische Lehre des Nicht-Handelns in Kurzform. Wie sollte man denn das Laken der Zeit nicht zerwühlen? Wie nicht irgendetwas verpatzen oder verpfuschen? Die Welt so zurückgeben, wie sie uns gegeben wurde. Würde es ihr gelingen, in diesem Haus, das ihr nicht gehörte, nichts zu beschädigen? Alles war weiß hier, oder genauer: es war von diesem mit Rosa oder Gelb abgetönten Weiß, das es nur in den Crème fraîche-Töpfchen gibt, vorausgesetzt man öffnet sie bei strahlendem Sonnenschein. Cremefarbene Wände, cremefarbene Decke, und alle Räume, selbst die Badezimmer (wie sie später herausfinden würde) waren mit einem farblich abgestimmten, flauschigen Teppichboden ausgelegt, von dem sie wusste, kaum dass sie ihn gesehen hatte: Der ist mein ärgster Feind.

    «Ich wusste gar nicht, dass es möbliert ist», sagte Hector mit einem Grinsen.

    Wenn das Haus nicht möbliert wäre, hätten sie dann nicht Betten, einen Kühlschrank und einen Tisch kaufen müssen? Natürlich wusste er es. Komfortables Wohnhaus, acht Zimmer, geschmackvoll möbliert, das hatte man ihnen in Aussicht gestellt.

    Bewohnt, dachte sie. Es war eher bewohnt als möbliert. Es hingen sogar Bilder an den Wänden, Tuschezeichnungen und Aquarelle, und auf den meisten waren Enten dargestellt, auf einigen auch ganz bestimmte Blumen. Aber, dachte sie und verbesserte sich, davon verstehe ich ja nichts. Die Rahmen waren vergoldet und hatten alle dieselbe Größe. Eine scheußliche Harmonie herrschte schon im Flur und noch davor, in dem Teil des Hauses, den sie nicht benennen konnte, eine Art überdachtes Podium, das sich an der Fassade entlangzog, eine offene Veranda, eine Terrasse, die von einem Geländer abgeschlossen und deren Überdachung von Holzsäulen getragen wurde. Sie hatte in Filmen schon Ähnliches gesehen. In amerikanischen Filmen, versteht sich. Ein wippender Schaukelstuhl gehörte auch dazu.

    Die Treppe aus hellem Holz war breit und solide gearbeitet. Man konnte darauf zwei Tragen mit großen Verletzten aneinander vorbeidirigieren, ohne dass sie zusammengestoßen wären, dachte Sylvie. Warum kam ihr denn jetzt dieses düstere Bild in den Sinn? Warum wirkte der offensichtliche Komfort der Dienstwohnung, die die Universität Hector angeboten hatte, so bedrohlich auf sie? Die Badezimmer waren so groß wie Schlafzimmer, die Betten riesig. Was waren das für Leute? Diese Riesen, die hier normalerweise lebten?

    «Ein Physikprofessor, Spezialist für Klimatologie. Seine Frau ist eine recht bekannte Lyrikerin, glaube ich zumindest, sie unterrichtet ebenfalls. Sie haben zwei Töchter. Die Ältere ist Sängerin. Sie macht beim Gesangs- und Opernfestival Chorégies d’Orange mit. Sie haben schon mal ein Sabbath-Jahr in Aix-en-Provence verbracht. Die Jüngere geht noch zur Schule. Ich hatte dir ein Foto von ihr gezeigt, erinnerst du dich?»

    «Nein.»

    «Ich hatte dir gesagt, sie ähnele dir ein wenig.»

    Mir sieht niemand ähnlich, dachte Sylvie, und anstatt sich von dieser Besonderheit geehrt zu fühlen, wurde sie von diffuser Traurigkeit erfasst. Die Besitzer dieses Hauses waren ehrliche Leute. Sie waren vermögend. Sie hatten Geschmack. Sie hatten ihre Kinder feinfühlig und intelligent erzogen. Ihre Bratpfannen waren teflonbeschichtet. Die Griffe der Töpfe wackelten nicht. Sie hatten sich für alles ein Ordnungssystem ausgedacht. Die Einrichtung war das Werk eines Verstandesmenschen gewesen. Und doch blieb Sylvies Suche nach etwas, woran sie ihren Mantel hätte aufhängen können, erfolglos. Sie sah sich nach einem hervorstehenden Nagel um, einem Haken, der in einen Balken eingeschlagen war, einem irgendwie vorspringenden Stück Holz, einem Fenstergriff. Die Fensterfronten ließen sich per Knopfdruck öffnen. Hector half ihr aus der Klemme, indem er ihren Regenmantel auf einen Bügel und den an die Garderobe im Eingangsflur hängte. Er lächelte. Er war stolz. Etwas war geschehen in seinem Leben. Er war nominiert worden. Er war ausgewählt worden. Er hatte Vorstellungsgespräche geführt. Er hatte überzeugt. Sein Werk als Kritiker und als Lyriker würde in der fakultätseigenen University Press veröffentlicht werden. Die Dekanin der Fakultät, Farah Asmanantou, hatte ihm das zugesichert: «Es wird eine Ehre für uns sein, Hector, wirklich eine Ehre. Das ist der Aufbruch nach Derrida, aber nicht gegen Derrida. Wir finden das sehr scharfsinnig. Wirklich sehr scharfsinnig.» Sie hatte ihre braune Hand mit den langen, in Begonienrosa lackierten Fingernägeln auf ihre Brust gedrückt und ihr rechter Busen hatte leicht nachgegeben, wie ein Kopfkissen unter dem Kopf. Hector hatte nach seinem Hemdkragen gegriffen, ihn etwas nach unten gezogen und sogleich wieder losgelassen. Es war sein bestes Hemd, das grauleinene, ein Geschenk seiner Mutter.

    Sylvie hatte keine Lust auf schlechte Laune. Sie wollte weder enttäuscht noch verbittert sein. Sie hatte beschlossen, jeden Augenblick dieses Aufenthaltes zu genießen. Sechs Monate. Ein Jahr. Vielleicht noch länger, hatte Hector gemeint. «Das hängt auch von euch ab, von dir und Lester. Es ist wirklich wichtig, dass es euch gelingt, euch einzuleben. Das hat Farah deutlich betont. Es muss ein globales, ein kollektives Projekt sein, ein Familienprojekt. Sie hat große Lust darauf, dich kennenzulernen.»

    Ich nicht, hätte Sylvie fast gesagt, es aber für sich behalten und gelächelt. Sie war schüchtern. Sie wusste nie, ob sie Tee oder Kaffee wollte, und deshalb fürchtete sie Besuche bei Unbekannten. «Tee? Kaffee?», wurde mit fröhlicher Stimme gefragt, und schon öffnete sich der Boden unter ihren Füßen. Sie schwor sich, mit «Kaffee» zu antworten, wenn sie – und das ließe sich wohl kaum vermeiden – Professor Asmanantous Bekanntschaft machen würde.

    Der Container war auf einem Laster abgesetzt worden. Der LKW war bis zum Haus gefahren. Männer, die stark nach Aftershave rochen, hatten die Kartons im living room abgestellt. Diese Bezeichnung hatten sie benutzt: living room. Die einzigen zwei Wörter, die Sylvie im diffusen Durcheinander ihrer Sätze wiedererkannt hatte.

    Sie spricht Englisch. Zumindest hat sie die Sprache auf dem Gymnasium gelernt. Aber jetzt, wo sie sich eventuell für ein Jahr in einem Land niederlässt, in dem dieses Idiom in Umlauf ist, wird ihr klar, dass ihre Sprachkenntnisse sehr eingeschränkt sind. Ihr kommt die Idee, dass zwischen der Sprache, die sie zu beherrschen glaubt, und der, die man hier spricht, derselbe Unterschied besteht wie zwischen einer nicht mehr ganz jungen Frau kurz nach dem Aufwachen, die ein ausgeleiertes Nachthemd und die zu großen Pantoffeln ihres Mannes trägt, und derselben Frau, nun geschminkt, frisiert und in Pumps. Sie fragt sich, welcher der zwei Frauen das Englische gleicht, das sie damals auf dem Gymnasium gelernt hat. Sie ist sich nicht sicher, ob die Metapher funktioniert. Sie fragt sich auch, ob zur Beschreibung ihrer Tagträumereien Metapher überhaupt das richtige Wort ist.

    Ihr Blick fällt auf das Packmaterial, das deutlich anspruchsvoller ist als bei einem gewöhnlichen Umzug. Sie denkt, dass Lester zehn Jahre früher diese riesigen Kartons dazu verwendet hätte, sich eine Burg zu bauen. Er spielt nicht mehr. Er ist groß. Was macht er dann? Sie bezweifelt, dass sie eine Antwort auf diese Frage findet. Was machen sie denn eigentlich, die Jugendlichen? Man hört so schreckliche Geschichten über sie. Zwischen dreizehn und einundzwanzig drehen sie so leicht durch. Darüber hat sie Artikel gelesen. Und Bücher. Die Autoren sind der einhelligen Meinung, dass die Eltern, und insbesondere die Mütter, sich mit ihnen nicht besonders geschickt anstellen. Sie hat beschlossen, sich um nichts zu kümmern. Sie hat sich schon früh geweigert und sie bleibt damit auf Kurs. Wieder der Glaubenssatz des Nicht-Handelns, noch mal der. Sie hat mehr oder weniger beschlossen, die Großmutter ihres Sohnes zu sein. Die Idee kam nicht von ihr, sondern von einer Frau im Bus. Lester musste etwa drei Jahre alt gewesen sein. In der Linie 75 hielten sich beide, Sylvie und er, an der Hand. «Sag mal, kleiner Mann», so wandte sich die Dame an Lester, «du hast aber Glück mit einer so jungen Oma.» Sylvie hatte das Für und Wider gegeneinander abgewogen: eine junge Oma, eine alte Mutter. Lester hatte nicht protestiert. Er hatte nicht versucht, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Immer höflich, so unglaublich höflich. Sylvie hatte gedacht, dass vielleicht auch er es lieber so gehabt hätte. Mit seiner jungen Oma durch die Stadt zu gondeln.

    Natürlich belog Sylvie die Verwaltung nicht. Auf den Formularen, die für die Schule oder die Stadtverwaltung auszufüllen waren, blieb sie bei der Wahrheit. Nur bei informellen Begegnungen, in der Grünanlage, im Theater, gegenüber Unbekannten, die sie nie wiedersehen würde, griff sie auf diese Fassung ihres Verwandtschaftsverhältnisses zurück. Sie bezeichnete Lester nicht als «meinen Sohn», sie sagte «mein Kleiner» oder «mein Junge», manchmal sogar «mein Großkind». Dabei brachte sie ein kaum wahrnehmbares Stocken zwischen Adjektiv und Nomen unter: «Groß», Zweiunddreißigstelpause, «Kind».

    Das vermittelte ihr das Gefühl, weniger Verantwortung zu tragen. Sie konnte sich damit zufriedengeben, ihn zu beobachten, statt sich mit seiner Erziehung abzumühen. Aber die Beobachtung wurde immer schwieriger. Sie fürchtete, indiskret zu sein, und vor allem hatte sie, obwohl sie ihn ständig oder beinahe ständig im Auge behielt und er nichts Besonderes vor ihr zu verbergen schien, doch das Gefühl, ihn aus dem Blick zu verlieren. Entfernte er sich von ihr? Oder sie sich von ihm? Ein Teenager eben. Diese Teenager. Furchtbar. Sie nahmen Drogen, sie tranken, sie starben, sie verunstalteten sich, saßen plötzlich im Rollstuhl, erstachen ihre besten Freunde mit einem Messer oder erschossen sie, opferten sich auf, hörten ganz auf zu essen, sprangen aus dem Fenster oder von einer Klippe. Teenager.

    In ihrer Jugend auf dem Land war das anders gewesen. Es gab nicht einmal das Wort. Niemand sprach von Teenagern. Auf der einen Seite standen die Kinder, auf der anderen die Erwachsenen. Zwischen diesen beiden Gruppen erstreckte sich eine namenlose Zone, die damit auch keine spezifischen Probleme barg. Es war trotzdem doch idiotisch, so darüber zu denken, überlegte Sylvie und schimpfte mit sich, wie es so ihre Gewohnheit war. Idiotisch, zu meinen, dass damals, nur weil man das Wort «Teenager» nicht aussprach, keine Teenager existiert hätten, dass sie nicht litten und kein Leiden verursachten. Dennoch war an dieser Sichtweise etwas durch und durch Wahres, so schien ihr. Sie entsprach ganz einfach der Erinnerung, die sie an die Vergangenheit bewahrte. An ihre Vergangenheit. An das Leben mit ihrem Vater in den Bergen, an ihren Körper, ihre Knie, ihre Beine, die gerade waren, bevor sie ihre Form veränderten, bevor sie kurvig wurden, an ihren Bauch, der flach und nicht von ihrem Oberkörper zu unterscheiden gewesen war, bis sich zwischen Becken und Brustkorb eine Taille herausbildete. Diese Veränderungen fanden statt. Man sprach nicht darüber. Von heute auf morgen hörten die Älteren auf, einen anzuschreien. Diese Älteren hörten auch auf, einem die Haare zu zerzausen, einem in die Wange zu kneifen oder einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Fast gleichzeitig verlor man das, was schlecht war, wie auch das, was gut gewesen war. Einen Übergang gab es nicht. Man schloss zu den oberen Rängen auf. Niemand hatte einen vorgewarnt.

    Sie erinnert sich auch an den Hexenkessel, oder Kochtopf. Hexenkessel war das treffende Wort, der richtige Begriff. Wegen des Bezuges auf die Hexen, den Teufel, das Böse ganz allgemein. Etwas brüllend Heißes im Inneren, das mit einem schweren Deckel verschlossen wurde. Das permanente Hin und Her der Zellen. Das Blut schien gegen seinen eigenen Strom zu schwimmen und den Hals, die Wangen zu überfluten, wenn es gar nicht passte. Stiche

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