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Der Sohn des Kardinals
Der Sohn des Kardinals
Der Sohn des Kardinals
eBook417 Seiten5 Stunden

Der Sohn des Kardinals

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Über dieses E-Book

Als sich im 19. Jahrhundert die Bewegung "Junges Italien" bildet, begeistert sich auch der Student Arthur Burton für die Idee einer freien Republik und glaubt, seinen geliebten Lehrer Pater Montanelli dafür gewinnen zu können. Doch er wird verraten. Dreizehn Jahre später: Ein geheimnisvoller Mann stößt zu der Gruppe der Rebellen. Gemma, die einstige große Liebe des Arthur Burton, ahnt, wer dieser Mann ist, doch als sie Gewißheit erlangt, ist es zu spät.
SpracheDeutsch
HerausgeberNeues Leben
Erscheinungsdatum20. Dez. 2018
ISBN9783355500531
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    Buchvorschau

    Der Sohn des Kardinals - Ethel Lilian Voynich

    Titel der englischen Originalausgabe:

    »The Gadfly«

    Ins Deutsche übertragen von Alice Wagner

    Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

    Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

    dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg

    zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

    Verlag Neues Leben – eine Marke der

    Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

    ISBN E-Book: 978-3-355-50053-1

    1. Auflage dieser Ausgabe 2018

    © 2005 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

    Umschlagentwurf: Buchgut, Berlin,

    www.eulenspiegel.com

    Erster Teil

    1

    Arthur saß in der Bibliothek des Priesterseminars von Pisa und sah einen Stoß handschriftlicher Predigten durch. Es war ein heißer Juniabend, und die Läden an den weitgeöffneten Fenstern waren halb geschlossen, um den Raum kühl zu erhalten. Der Direktor, Pater Kanonikus Montanelli, hielt einen Augenblick im Schreiben inne und warf einen liebevollen Blick auf den dunklen, über die Schriften gebeugten Kopf.

    »Kannst du sie nicht finden, Carino? Es tut nichts; ich muß die Stelle eben noch einmal schreiben. Vielleicht ist die Predigt zerrissen worden, und ich habe dich die ganze Zeit vergebens bemüht.«

    Montanellis Stimme war sehr leise, doch volltönend und von einer silbernen Klarheit, die seiner Sprechweise einen besonderen Reiz verlieh. Er hatte das modulationsfähige Organ eines geborenen Redners. Wenn er mit Arthur sprach, nahm seine Stimme stets einen liebkosenden Klang an.

    »Nein, Padre, ich muß sie finden; ich bin überzeugt, daß Ihr sie hierhergelegt habt. Wenn Ihr es noch einmal schreibt, wird es niemals dasselbe sein.«

    Montanelli fuhr in seinem Werk fort. Ein schläfriger Käfer summte träge vor dem Fenster, und der langgezogene, melancholische Ruf des Obstverkäufers hallte durch die Straße: »Fragola! Fragola!«¹

    »›Über die Heilung des Aussätzigen‹, da ist sie.« Arthur durchquerte das Zimmer mit jenem leisen Katzenschritt, der seine Angehörigen zu Hause stets zur Verzweiflung brachte. Er war ein schlanker, zierlicher Junge, der eher einem Italiener glich, wie man sie auf den Porträts des sechzehnten Jahrhunderts findet, als einem jungen Engländer des Mittelstandes aus den dreißiger Jahren. Von den langgeschwungenen Augenbrauen und dem empfindsamen Mund bis zu den kleinen Händen und Füßen schien alles an ihm zu zierlich, zu zart. Wenn er ruhig saß, konnte man ihn gut und gern für ein hübsches junges Mädchen in Männertracht halten; aber sobald er sich bewegte, erweckte seine geschmeidige Behendigkeit den Eindruck eines gezähmten Panthers ohne Krallen.

    »Hast du sie wirklich gefunden? Was sollte ich ohne dich anfangen, Arthur? Ich würde meine Sachen dauernd verlieren. Nein, jetzt will ich nicht mehr schreiben. Komm hinaus in den Garten, ich will dir bei deiner Arbeit helfen. Welches ist der Absatz, den du nicht verstehen kannst?«

    Sie gingen hinaus in den stillen, schattigen Klostergarten. Das Seminar war in dem Gebäude eines ehemaligen Dominikanerklosters untergebracht; vor zweihundert Jahren war der quadratische Hofraum ein Schmuckstück gewesen; zwischen den glattgeschnittenen Buchsbaumeinfassungen hatten gestutzte Rosmarin- und Lavendelbüsche dicht ge­drängt gestanden. Die weißgekleideten Mönche, die sie gepflegt hatten, waren längst zur ewigen Ruhe gebettet und vergessen; doch die wohlriechenden Kräuter blühten immer noch an schönen Mittsommerabenden, obwohl niemand mehr ihre Blüten zu Arzneizwecken pflückte. Büschel wilder Petersilie und Akelei wuchsen zwischen den Fliesen der Gehsteige, und der Brunnen in der Mitte des Hofraumes war Farnen und kriechendem Mauerpfeffer überlassen. Die Rosen waren verwildert, und ihre wuchernden Triebe zogen sich über die Pfade. In den ­Buchsbaumhecken flammte großblumiger roter Mohn, hohe Fingerhutstauden neigten sich über ein Gewirr von Gräsern, und die Ranken des alten ungepflegten Weinstocks, der keine Frucht mehr trug, hingen von den Zweigen eines vernachlässigten Mispelbaumes herab, dessen dichtbelaubte Krone sich langsam und mit trauriger Beharrlichkeit hin und her wiegte.

    In einem Winkel wuchs eine riesige Sommermagnolie – eine einzige turmhohe Masse von dunklem Laub, da und dort mit milchweißen Blüten gesprenkelt. An dem Stamm lehnte eine rohe Holzbank; Montanelli nahm darauf Platz. Arthur studierte Philosophie an der Universität, und da er in einem der Lehrbücher auf Schwierigkeiten gestoßen war, hatte er sich an den Pater um eine Erklärung der fraglichen Stelle gewandt. Montanelli war für ihn eine Art Enzyklopädie, obgleich der Junge nie ein Schüler des Seminars gewesen war.

    »Es ist besser, ich gehe jetzt«, sagte er, als die Stelle geklärt war; »es sei denn, Ihr braucht mich noch.«

    »Ich habe keine Lust mehr zu arbeiten, aber ich möchte gern, daß du noch ein Weilchen hierbleibst, wenn du Zeit hast.«

    »O ja!« Er lehnte sich an den Baumstamm und blickte durch die dunklen Zweige hinauf zu den ersten mattschimmernden Sternen am klaren Himmel. Seine träumerischen, verschleierten Augen – tiefblau unter den schwarzen Wimpern – waren ein Erbteil seiner keltischen Mutter aus Cornwall, und Montanelli wandte den Kopf ab, um ihnen nicht zu begegnen. »Du siehst erschöpft aus, Carino«, sagte er.

    »Nicht meine Schuld.« Arthurs Stimme hatte einen müden Klang, und der Pater bemerkte es sofort.

    »Du hättest nicht so früh mit dem Studium an der Universität beginnen sollen; du warst übermüdet von der Krankenpflege und den Nachtwachen. Ich hätte darauf bestehen sollen, daß du dich erst gründlich erholst, bevor du Livorno verlassen hast.«

    »Oh, Padre, wozu darüber reden? Ich konnte nicht in jenem elenden Hause bleiben nach Mutters Tod. Julia hätte mich verrückt gemacht!«

    Julia war die Frau seines ältesten Stiefbruders und ein Dorn in seinem Fleische.

    »Ich wollte ja nicht, daß du bei deinen Verwandten bleiben solltest«, antwortete Montanelli sanft. »Ich bin überzeugt, daß es das Schlimmste gewesen wäre, was man dir hätte zumuten können. Mein Wunsch war es, daß du die Einladung des befreundeten englischen Arztes annehmen solltest. Wenn du einen Monat in seinem Hause verbracht hättest, wärst du in besserer Verfassung für das Studium gewesen.«

    »Nein, Padre, bestimmt nicht! Die Warren sind sehr gute und nette Menschen, aber sie verstehen mich nicht, und sie haben Mitleid mit mir – ich sehe es ihren Gesichtern an. Sie würden versuchen, mich zu trösten und über Mutter zu sprechen. Gemma natürlich nicht; sie wußte immer schon, was sie nicht sagen durfte, sogar als wir noch ganz klein waren, aber die anderen würden es tun. Und es ist nicht nur das ...«

    »Was ist es denn, mein Sohn?«

    Arthur rupfte einige Blüten von dem überhängenden Stengel eines Fingerhutes ab und zerdrückte sie mißmutig in seiner Hand.

    »Ich kann die Stadt nicht ertragen«, begann er nach kurzer Pause. »Da sind die Geschäfte, in denen Mutter mir Spielsachen kaufte, als ich noch ein kleiner Kerl war, und der Strandweg, den ich mit ihr entlanggegangen bin, bis sie zu krank dazu war. Wohin ich mich auch immer wende, überall ist es dasselbe; jede Marktfrau kommt mir mit einem Blumenstrauß entgegen – als ob ich ihn jetzt noch brauchte! Und dann ist dort der Friedhof – ich mußte fort; der Anblick ihres Grabes machte mich krank.«

    Er brach ab und zerpflückte die Blütenglocken des Fingerhutes. Ein so langes und tiefes Schweigen folgte, daß er verwundert aufblickte, weil der Pater nichts sagte. Es wurde dunkel unter den Zweigen der Magnolie, und alles schien verschwommen und undeutlich; aber es war noch hell genug, daß er die geisterhafte Blässe auf Montanellis Gesicht sehen konnte. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine Rechte umklammerte die Kante der Bank. Arthur blickte zur Seite mit einem Gefühl ehrfürchtigen Staunens. Es war, als habe er unversehens geheiligten Boden betreten.

    Mein Gott! dachte er, wie klein und selbstsüchtig bin ich doch im Vergleich zu ihm! Wenn es sein eigener Kummer wäre, könnte er nicht stärker bewegt sein.

    Endlich hob Montanelli den Kopf und blickte um sich.

    »Ich will dich nicht drängen, nach Livorno zurückzukehren; jedenfalls nicht jetzt«, sagte er mit seiner zärtlichsten Stimme; »aber du mußt mir versprechen, dich gründlich auszuruhen, sobald die Sommerferien beginnen. Ich glaube, es wäre am besten, wenn du deinen Urlaub recht weit weg von Livorno verbrächtest. Ich möchte nicht, daß du deine Gesundheit ruinierst.«

    »Wo fahrt Ihr hin, Padre, wenn das Seminar geschlossen wird?«

    »Ich bringe die Schüler in die Berge, wie üblich, und werde sie dort beaufsichtigen. Aber Mitte August kommt der Subdirektor von seinen Ferien zurück. Ich will versuchen in die Alpen zu fahren – eine Luftveränderung täte mir gut. Willst du mit mir kommen? Ich könnte dich zu einigen längeren Alpentouren mitnehmen, und dir würde es sicher Freude machen, die Alpenmoose und -flechten zu studieren. Aber vielleicht findest du es langweilig, mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen zu müssen?«

    »Padre!« Arthur faltete freudig erregt seine Hände. »Ich weiß nicht, was ich dafür geben würde, mit Euch zu kommen. Aber ich bin nicht sicher ...« Er brach ab.

    »Du glaubst, daß Mr. Burton es nicht erlauben wird?«

    »Es wird ihm natürlich nicht recht sein, aber er kann mir da wohl kaum hineinreden. Ich bin jetzt achtzehn und darf tun und lassen, was mir beliebt. Schließlich ist er ja nur mein Stiefbruder; ich glaube nicht, daß ich ihm zu Gehorsam verpflichtet bin. Er war immer unfreundlich zu Mutter.«

    »Aber wenn er ernstlich dagegen sein sollte, wäre es meiner Ansicht nach doch nicht ratsam, sich ihm zu widersetzen; deine Stellung in der Familie könnte leiden, wenn ...«

    »Keine Spur!« unterbrach Arthur ihn leidenschaftlich. »Sie haben mich schon immer gehaßt und werden mich weiter hassen – ganz gleich, was ich tue. Übrigens, wie kann James ernstlich etwas dagegen einwenden, daß ich mit Euch – meinem Beichtvater wegfahre?«

    »Vergiß nicht, daß er Protestant ist. Es wäre immerhin besser, du schriebst ihm, und wir wollen abwarten, wie er darüber denkt. Aber du mußt nicht ungeduldig sein, mein Sohn; und es kommt sehr darauf an, was du tust, ganz gleich, ob die Menschen dich nun lieben oder hassen.«

    Der Verweis wurde so sanft erteilt, daß Arthur kaum errötete. »Ja, ich weiß«, antwortete er seufzend, »aber es ist so schwer.«

    »Ich habe es sehr bedauert, daß du am Dienstag nicht zu mir kommen konntest«, sagte Montanelli, auf ein neues Thema übergehend. »Der Bischof von Arezzo war hier, und es wäre mir lieb gewesen, wenn du ihn kennengelernt hättest.«

    »Ich hatte einem Studenten versprochen, einer Versammlung in seiner Wohnung beizuwohnen, und sie rechneten mit meinem Kommen.«

    »Was für eine Versammlung?«

    Arthur schien die Frage in Verlegenheit zu bringen. »Es – es war k-keine der üblichen Versammlungen«, sagte er mit einem leichten, nervösen Stottern. »Ein Student aus Genua war da, und er hielt eine Ansprache – eine Art V-Vortrag.«

    »Über welches Thema?«

    Arthur zögerte. »Ihr werdet mich doch nicht nach seinem Namen fragen, Padre, nicht wahr? Denn ich habe versprochen ...«

    »Ich will dir überhaupt keine Fragen stellen, und wenn du dich zur Ge­heimhaltung verpflichtet hast, darfst du es mir natürlich nicht sagen; aber ich meine doch, du könntest mir jetzt endlich mehr Vertrauen schenken.«

    »Aber natürlich, Padre, ich tue es ja auch. Er sprach über uns – und über das, was wir dem Volk schuldig sind – und uns selbst; und darüber, was wir tun sollen, um zu helfen.«

    »Wem zu helfen?«

    »Den Contadini² und ...«

    »Und?«

    »Und Italien.«

    Ein langes Schweigen folgte.

    »Sage mir, Arthur«, fragte Montanelli in sehr ernstem Ton und wandte sich ihm zu, »seit wann beschäftigst du dich mit solchen Gedanken?«

    »Seit vergangenem Winter.«

    »Schon vor dem Tode deiner Mutter? Wußte sie denn davon?«

    »N-nein. Ich – ich machte mir damals nichts daraus.«

    »Und jetzt – machst du dir jetzt etwas daraus?«

    Arthur riß eine weitere Handvoll Blütenglocken vom Stengel.

    »Es war so, Padre«, begann er, den Blick auf den Boden geheftet. »Als ich mich im vorigen Herbst für das Antrittsexamen vorbereitete, lernte ich eine Menge Studenten kennen; erinnert Ihr Euch? Nun, und einige von ihnen sprachen mit mir über diese Dinge und liehen mir Bücher. Aber ich machte mir nicht viel daraus, ich hatte es stets eilig, nach Hause zur Mutter zu kommen; Julias Geschwätz allein hätte schon genügt, sie umzubringen. Später, im Winter, als sie schwer krank wurde, dachte ich gar nicht mehr an die Studenten und an ihre Bücher, und dann kam ich überhaupt nicht mehr nach Pisa. Ich hätte mit Mutter darüber gesprochen, aber ich hatte es völlig vergessen. Dann merkte ich, daß sie bald sterben würde. Ihr wißt, ich war fast ununterbrochen bei ihr bis zu ihrem Ende; oft saß ich die Nächte auf, und Gemma Warren kam alle Tage, um mich abzulösen, damit ich mich schlafen legen konnte. Nun, in diesen langen Nächten grübelte ich über die Bücher nach und über das, was die Studenten gesagt hatten – und fragte mich, ob sie wohl recht hatten und – was – Unser Herr dazu gesagt hätte.«

    »Hast du ihn gefragt?« Montanellis Stimme klang nicht ganz sicher.

    »Viele Male, Padre. Manchmal habe ich zu ihm gebetet, mir ein Zeichen zu geben, was ich tun soll, oder mich mit Mutter zusammen sterben zu lassen. Aber ich erhielt keine Antwort.«

    »Und du hast zu mir nie ein Wort darüber gesagt, Arthur, ich hätte doch erwartet, du würdest mir mehr vertrauen.«

    »Padre, Ihr wißt, ich vertraue Euch! Aber es gibt gewisse Dinge, über die man mit niemand sprechen kann. Es schien mir, als könnte mir keiner helfen – nicht einmal Mutter; ich mußte die Antwort von Gott selbst erhalten.«

    Montanelli wandte sich weg und starrte auf die dunklen Magnolienzweige. In dem Zwielicht wirkte sein Gesicht so schattenhaft wie das eines Gespenstes zwischen dem Gezweig.

    »Und dann?« fragte er langsam.

    »Und dann starb sie. Ihr wißt doch, ich habe die letzten drei Nächte bei ihr gewacht.«

    Er brach ab und schwieg einen Augenblick, aber Montanelli rührte sich nicht.

    »In den beiden Tagen vor ihrer Beerdigung«, fuhr Arthur mit gesenkter Stimme fort, »war es mir nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann, nach der Trauerfeier, war ich krank; entsinnt Ihr Euch, ich konnte nicht zur Beichte kommen.«

    »Ja, ich erinnere mich daran.«

    »In jener Nacht stand ich auf und ging in Mutters Zimmer. Es war ganz leer; bis auf das große Kruzifix im Alkoven. Und da dachte ich, Gott würde mir vielleicht helfen; ich kniete nieder und wartete – die ganze Nacht. Und am Morgen, als ich zu mir kam – Padre, es hat keinen Zweck, ich kann es nicht erklären ... ich kann Euch nicht sagen, was ich sah – ich weiß es selber kaum. Aber ich weiß, daß Gott mir eine Antwort gegeben hat, und ich wage nicht, ihm den Gehorsam zu verweigern.«

    Einen Augenblick saßen sie schweigend in der Dunkelheit. Dann legte Montanelli seine Hand auf Arthurs Schulter.

    »Mein Sohn«, sagte er. »Möge Gott mich davor bewahren zu sagen, Er habe nicht zu dir gesprochen. Aber bedenke, in welchem Zustand du warst, als dies geschah, und verwechsle nicht Fieberphantasien, aus Krankheit und Schmerz geboren, mit Seinem feierlichen Ruf. Und wenn es in der Tat Sein Wille gewesen ist, dir im Schatten des Todes eine Antwort zu erteilen, so achte darauf, daß du Seinem Wort keinen falschen Sinn unterlegst. Was ist es, was du in deinem Herzen beschlossen hast zu tun?«

    Arthur stand auf und antwortete langsam, als wiederhole er ein Glaubensbekenntnis: »Mein Leben Italien zu weihen, indem ich mithelfe, es aus Sklaverei und Unglück zu befreien und die Österreicher zu vertreiben, damit es eine freie Republik wird, über die kein anderer König regiert als Christus.«

    »Arthur, überlege dir einen Augenblick, was du sprichst! Du bist nicht einmal Italiener!«

    »Das hat nichts zu bedeuten; ich bin, was ich bin. Ich habe diese Vision gehabt – und ich gehöre dazu.«

    Wieder herrschte Schweigen.

    »Du sprachst eben davon, was Christus gesagt haben würde«, begann Montanelli langsam; aber Arthur unterbrach ihn: »Christus hat gesagt: ›Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.‹«

    Montanelli stützte sich mit einem Arm auf einen Ast und beschattete seine Augen mit der Hand.

    »Setz dich einen Augenblick her, mein Sohn«, sagte er schließlich.

    Arthur setzte sich, und der Pater umschloß seine beiden Hände mit einem festen und sicheren Druck.

    »Ich kann heute abend nicht mit dir streiten«, begann er; »das kam zu plötzlich über mich – ich habe nicht gedacht –, ich muß Zeit haben, darüber nachzudenken. Später können wir das eingehender besprechen. Aber im Augenblick möchte ich, daß du daran denkst. Wenn dir dabei etwas zustößt, wenn du – stirbst, brichst du mir das Herz.«

    »Padre ...«

    »Nein; laß mich ausreden. Ich sagte dir einmal, daß ich keinen auf der Welt habe, nur dich. Ich glaube, daß du nicht ganz verstehst, was das bedeutet. Es ist schwer, wenn man so jung ist. In deinem Alter hätt ich es auch nicht verstanden, Arthur. Du bist für mich – wie ein Sohn. Begreifst du? Du bist das Teuerste, was ich besitze. Ich würde mein Leben hingeben, um dich vor einem falschen Schritt zu bewahren oder davor, dein Leben zu ruinieren. Aber ich kann nichts tun. Ich verlange nicht, daß du mir etwas versprichst; ich bitte nur, daß du daran denkst, was ich dir sagte, und vorsichtig bist. Überlege es dir genau, ehe du einen unabänderlichen Entschluß faßt, um meinetwillen, wenn schon nicht um deiner seligen Mutter willen.«

    »Ich will es mir überlegen – und, Padre, betet für mich und für Italien.«

    Er kniete schweigend nieder, und schweigend legte Montanelli die Hand auf seinen gesenkten Scheitel. Im nächsten Augenblick erhob sich Arthur, küßte dem Pater die Hand und ging leise durch das taufeuchte Gras davon. Montanelli blieb allein unter der Magnolie und blickte gerade vor sich hin in die Dunkelheit.

    Die Rache des Herrn ist über mich gekommen, dachte er, wie sie über David gekommen ist. Ich, der ich Sein Heiligtum geschändet und den Leib des Herrn in entweihte Hände genommen habe – Er hat viel Geduld mit mir gehabt, doch nun ist es soweit. »Denn du hast es heimlich getan, ich aber will dies tun vor ganz Israel und an der Sonne: der Sohn, der dir geboren ist, wird sterben.«

    1 Erdbeeren

    2 Bauern

    2

    Der Gedanke, daß sein junger Stiefbruder mit Montanelli in der Schweiz umherklettern sollte, gefiel Mr. James Burton keineswegs. Die harmlose Botanisiertour mit einem ältlichen Theologieprofessor jedoch schlankweg zu verbieten ging nicht gut an; Arthur, der den Grund für solches Verbot nicht kennen konnte, müßte dies lächerlich tyrannisch finden. Er würde es sofort religiösen oder nationalen Vorurteilen zu­schreiben; die Burtons aber bildeten sich auf ihre Aufgeklärtheit und Toleranz sehr viel ein. Sie waren allesamt solide Protestanten und Konservative gewesen, seit »Burton & Söhne, Schiffahrtei« ihr Geschäft vor mehr denn einem Jahrhundert in London und Livorno gegründet hatten. Aber sie vertraten die Ansicht, daß ein Engländer gerecht zu sein habe, sogar Katholiken gegenüber; und als das Familienoberhaupt das Leben als Witwer allzu langweilig fand und die hübsche katholische Gouvernante seiner jüngeren Kinder heiratete, beugten sich seine beiden älteren Söhne James und Thomas – so übel sie das Vorhandensein einer Stiefmutter, die kaum älter war als sie, auch aufnahmen – verdrießlich und resigniert dem Willen der Vorsehung.

    Seit dem Tode ihres Vaters war die ohnehin schon schwierige Lage noch verwickelter geworden; doch die beiden Brüder hatten den ehrlichen Versuch gemacht, Gladys bei ihren Lebzeiten vor Julias erbarmungsloser Zunge zu schützen und Arthur gegenüber ihre Pflicht zu erfüllen, so gut sie es verstanden. Sie gaben nicht vor, den Jungen zu lieben, und ihre Großzügigkeit kam vor allem darin zum Ausdruck, daß sie ihn geradezu verschwenderisch mit Taschengeld versorgten und ihn im übrigen seiner Wege gehen ließen.

    So erhielt Arthur auf seinen Brief hin einen Scheck, um seine Ausgaben damit zu decken, und die in kühlen Worten gehaltene Erlaubnis, über seine Ferien nach eigenem Belieben zu verfügen. Er gab die Hälfte des ihm verbliebenen Geldes für Bücher über Botanik und für Pflanzenpressen aus und trat mit dem Pater seine erste Alpenwanderung an.

    Montanelli war in einer Hochstimmung, wie Arthur sie an ihm schon lange nicht mehr erlebt hatte. Nach dem ersten Schock bei der Unterredung im Garten hatte er sein inneres Gleichgewicht allmählich wiedergewonnen und betrachtete die Angelegenheit nun erheblich ruhiger. Arthur war sehr jung und unerfahren; sein Entschluß konnte nicht unumstößlich sein. Sicher war es noch Zeit, ihn durch sanftes Zureden und Vernunftgründe von dem gefährlichen Pfad zurückzureißen, den er ja kaum erst betreten hatte.

    Sie hatten vorgehabt, einige Tage in Genf zu bleiben, aber gleich beim ersten Blick auf die blendendweißen Straßen und staubigen, von Touristen überfüllten Promenaden zeigte sich ein mißmutiger Zug auf Arthurs Gesicht. Montanelli beobachtete ihn leicht belustigt.

    »Es gefällt dir nicht, Carino?«

    »Ich weiß selbst nicht recht. Es ist so ganz verschieden von dem, was ich erwartet habe. Ja, der See ist wunderschön, und mir gefällt die Linie der Berge drüben.« Sie standen auf der Rousseauinsel, und er deutete auf die strengen Umrisse des langgestreckten Savoyer Massivs. »Aber die Stadt sieht so steif und ordentlich aus – irgendwie protestantisch; sie macht einen so selbstzufriedenen Eindruck. Nein, Genf gefällt mir nicht, es erinnert mich an Julia.«

    Montanelli lachte. »Armer Junge, so ein Pech! Nun, wir sind ja zu unserem eigenen Vergnügen hier, und so besteht kein Grund, länger zu verweilen. Was meinst du, wollen wir eine Segelfahrt auf dem See machen und morgen früh in die Berge aufbrechen?«

    »Aber, Padre, Ihr wolltet doch ein paar Tage hierbleiben?«

    »Mein lieber Junge, ich habe das alles schon Dutzende von Malen gesehen. Meine Ferien bestehen darin, dir Freude zu machen. Wohin möchtest du fahren?«

    »Wenn es Euch wirklich gleich ist, dann möchte ich den Fluß bis zu seiner Quelle verfolgen.«

    »Die Rhone?«

    »Nein, die Arve; sie fließt so schnell dahin.«

    »Dann fahren wir nach Chamonix.«

    Sie verbrachten den Nachmittag damit, sich in einem kleinen Segelboot treiben zu lassen. Der herrliche See machte auf Arthur viel weniger Eindruck als die graue und trübe Arve. Er war am Mittelmeer aufgewachsen und an blaues Wellengekräusel gewöhnt; aber er hatte eine geradezu leidenschaftliche Vorliebe für rasch fließende Gewässer, und das eilige Dahinschießen des Gletscherbaches entzückte ihn über die Maßen. »Der See hat etwas so ungeheuer Ernstes ...«, sagte er.

    Früh am nächsten Morgen brachen sie nach Chamonix auf. Arthur war, solange sie durch die fruchtbare Tallandschaft fuhren, in Hochstimmung; aber als sie auf die gewundene Straße in der Nähe von Cluses abbogen und die hohen, ausgezackten Berge sie von allen Seiten einschlossen, wurde er ernst und schweigsam. Von St. Martin aus gingen sie langsam zu Fuß das Tal hinauf und übernachteten in Sennhütten, die am Wege lagen, oder in winzigen Bergdörfern, um dann ihre Wanderung ganz nach Belieben fortzusetzen. Arthur war besonders empfänglich für landschaftliche Schönheiten, und beim Anblick des ersten Wasserfalls, an dem sie vorbeikamen, geriet er in eine solche Begeisterung, daß es eine wahre Freude war; aber als sie den Schneegipfeln näher kamen, wandelte sich sein Entzücken in eine träumerisch-gehobene Stimmung, die Montanelli an ihm noch nicht kannte. Es schien, als bestünde eine Art mystischer Verbundenheit zwischen ihm und den Bergen. Er konnte stundenlang regungslos in den dunklen, geheimnisvollen, vom Echo erfüllten Fichtenwäldern liegen und zwischen den hohen Stämmen in die sonnenbeschienene Welt der gleißenden Gipfel und steinigen Felsgrate hinausblicken. Montanelli beobachtete ihn mit einer Art von wehmütigem Neid.

    »Ich wünschte, du könntest mir zeigen, was du siehst, Carino«, sagte er eines Tages, als er von seinem Buch aufblickte und Arthur still neben sich liegen sah. Sie waren von der Landstraße abgebogen, um in einem ruhigen, am Wasserfall von Diosaz gelegenen Dorf zu übernachten, und da die Sonne bereits tief am wolkenlosen Himmel stand, hatten sie einen Aussichtspunkt auf einem mit Fichtenwäldern bestandenen Felsen erstiegen, um das Alpenglühen auf der Kuppe und den Spitzen des Montblanc-Massivs zu betrachten. Arthur hob den Kopf, in seinen Augen war geheimnisvolles Staunen.

    »Was ich sehe, Padre? Ich sehe ein großes weißes Wesen in einem blauen Raum, der keinen Anfang und kein Ende hat. Ich sehe es warten durch die Jahrhunderte, auf das Kommen von Gottes Geist. Ich sehe es verschwommen wie durch Glas.«

    Montanelli seufzte.

    »Früher habe ich auch solche Dinge gesehen.«

    »Seht Ihr sie jetzt nicht mehr?«

    »Nein. Und ich werde sie auch nie mehr sehen. Sie sind da, ich weiß es; aber ich habe keine Augen mehr dafür. Ich sehe ganz andere Dinge.«

    »Was seht Ihr?«

    »Was ich sehe, Carino? Wenn ich zu den Höhen hinaufblicke, sehe ich einen blauen Himmel und einen Schneegipfel – das ist alles. Aber dort unten sieht es anders aus.«

    Er deutete in das Tal zu ihren Füßen. Arthur kniete nieder und beugte sich über den äußersten Rand des Abgrundes. Die hohen Fichten – düster in dem heraufsteigenden Schatten des Abends – standen wie Wachen längs der schmalen Ufer, zwischen die der Fluß eingezwängt war. In diesem Augenblick versank die Sonne, rot wie glühende Kohle, hinter einer ausgezackten Bergspitze, und alles Leben und Licht zog sich vom Antlitz der Landschaft zurück. Sofort überfiel etwas Dunkles und Drohendes das Tal – eine mürrische, schreckliche Macht, im Besitz von gespenstischen Waffen. Die senkrechten Felsen der kahlen westlichen Berge schienen wie Zähne eines Ungeheuers, das auf ein Opfer lauert, um es zu packen und in das Innere des tiefen Tals hinabzuzerren, wo schwarz die ächzenden Wälder standen. Die Fichten glichen Reihen von Messerklingen, die wisperten: Fallt auf uns herab, und in der zunehmenden Dunkelheit brüllte und heulte der Gießbach und hämmerte gegen die felsigen Mauern seines Gefängnisses mit der Raserei ewiger Verzweiflung.

    »Padre!« Arthur erhob sich schaudernd und trat von dem Abgrund zurück. »Das ist ja die Hölle.«

    »Nein, mein Sohn«, antwortete Montanelli sanft, »es ist nur wie eine menschliche Seele.«

    »Die Seelen derer, die Tag für Tag auf den Straßen an dir vorübergehen.«

    Arthur blickte schaudernd auf die Schatten hinab. Ein dünner weißer Nebelschleier schwebte zwischen den Tannen, hin und her wehend über dem verzweifelten Tosen des Gießbaches wie ein elender Geist, der keinen Trost zu spenden vermag.

    »Seht Ihr!« sagte Arthur plötzlich. »Die Menschen, die in der Finsternis wallen, haben ein großes Licht gesehen.«

    Im Osten leuchteten die Schneegipfel im Alpenglühen. Nachdem das rote Licht auf den Bergspitzen erloschen war, wandte sich Montanelli um und legte die Hand auf Arthurs Schulter, um ihn zum Aufstehen zu veranlassen.

    »Komm jetzt, Carino; die Helligkeit ist fort. Wir werden uns im Dunkeln verirren, wenn wir länger hierbleiben.«

    Arthur wandte sich von dem bleichen Antlitz des hohen Berggipfels ab, der Zwielicht schimmerte. »Er sieht aus wie eine Leiche.«

    Sie stiegen zwischen den schwarzen Bäumen vorsichtig hinab zur Sennhütte, in der sie die Nacht zu verbringen gedachten.

    Als Montanelli das Zimmer betrat, in dem Arthur ihn an der Abendtafel erwartete, sah er, daß der Junge die gespenstischen Visionen der Dunkelheit abgeschüttelt hatte und wie umgewandelt war.

    »Oh, Padre, kommt und seht Euch diesen drolligen Hund an! Er kann auf seinen Hinterbeinen tanzen.«

    Arthur war ebenso hingerissen von dem Hund und seinen Talenten wie vorhin von dem Alpenglühen. Die Sennerin, rotwangig, mit weißer Schürze, stand lächelnd da, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah zu, wie er mit dem Tier die Kunststücke durchprobierte. »Man sieht, daß er keine Sorgen hat, wenn er sich so benehmen kann«, sagte sie in ihrer heimischen Mundart zu ihrer Tochter. »Und was für ein hübscher Kerl!«

    Arthur errötete wie ein Schulbub, und die Frau, die merkte, daß er ihre Worte verstanden hatte, verließ, über seine Verlegenheit lachend, das Zimmer. Während des Abendessens sprach er über nichts anderes als über die Ausflüge, Bergbesteigungen und Botanisierexpeditionen, die er zu unternehmen gedachte. Seine Traumvisionen waren augenscheinlich weder seiner Stimmung noch seinem Appetit abträglich gewesen.

    Als Montanelli am nächsten Morgen aufwachte, war Arthur bereits fort. Er war vor Tagesanbruch losgegangen, um Gaspard zu helfen, die Ziegen in die Berge zu treiben.

    Das Frühstück stand jedoch kaum auf dem Tisch, als er ins Zimmer hereingestürzt kam, ohne Hut, ein winziges Bauernmädchen auf den Schultern und einen großen Feldblumenstrauß in der Hand.

    Montanelli sah lächelnd auf. Welch ein seltsamer Kontrast zu dem ernsten und schweigsamen Arthur von Pisa oder Livorno!

    »Wo warst du denn, du Tollkopf? Hast du dich ohne Frühstück in den Bergen herumgetrieben?«

    »Oh, Padre, es war ganz famos! Die Berge sehen bei Sonnenaufgang einfach herrlich aus; und es ist alles naß vom Tau! Seht nur!«

    Er hob einen Fuß hoch, um den nassen, schmutzigen Stiefel zu zeigen.

    »Wir hatten Brot und Käse mitgenommen, und oben auf der Weide gab es Ziegenmilch; oh, es war furchtbar schmutzig da! Aber nun bin ich wieder hungrig; und für diesen kleinen Menschen möchte ich auch etwas haben. Annette, willst du Honig?«

    Er setzte sich hin, nahm das Kind auf die Knie und half ihm die Blumen ordnen.

    »Nein, nein!« Montanelli erhob Einspruch. »Ich will nicht, daß du dich erkältest. Geh rasch das nasse Zeug ausziehen. Komm zu mir, Annette. Wo hast du sie aufgelesen?«

    »Oben im Dorf. Ihr Vater ist der Mann, den wir gestern gesehen haben – er flickt die Schuhe der ganzen Gemeinde. Hat sie nicht hübsche Augen? Sie hat eine Schildkröte in der Tasche, die sie Caroline nennt.«

    Als Arthur sich frische Socken angezogen hatte und zum Frühstück herunterkam, saß die Kleine auf den Knien des Paters und plapperte eifrig; sie hielt ihm ihre Schildkröte verkehrt, den Kopf nach unten, in ihrer molligen Hand hin, damit »Monsieur« die zappelnden Füßchen sehen konnte.

    »Sieh mal, Monsieur«, sagte sie ernsthaft in ihrer schwerverständlichen Mundart: »Sieh mal, das sind Carolines Stiefel!«

    Montanelli spielte mit der Kleinen, strich ihr über das Haar, bewunderte ihre geliebte Schildkröte und erzählte ihr herrliche Geschichten.

    Als die Sennerin kam, um das Geschirr abzuräumen, starrte sie Annette erstaunt an, die gerade die Taschen des ernsten Herrn im priesterlichen Rock umstülpte.

    »Gott lehrt die Kleinen, wer ein guter Mensch ist«, sagte sie. »Annette fürchtet sich stets vor Fremden; und siehe da, vor Hochwürden hat sie gar keine Scheu. Ist das nicht wunderbar! Knie nieder, Annette, und bitte den guten Monsieur um seinen Segen, ehe er geht; es wird dir Glück bringen.«

    »Ich wußte nicht, daß ihr so gut mit Kindern spielen könnt, Padre«, sagte Arthur eine Stunde später, als sie über das sonnenbeschienene Weideland gingen. »Das Kind hat die ganze Zeit den Blick nicht von Euch gewandt. Wißt Ihr, ich glaube ...«

    »Ja?«

    »Ich wollte nur sagen – es scheint mir geradezu ein Jammer, daß die Kirche es den Priestern verbietet zu heiraten. Ich begreife nicht recht, warum. Seht ihr, Kindererziehung ist eine so ernste Sache, und es bedeutet soviel für die Kleinen, wenn sie von Anfang an unter einem guten Einfluß stehen, und ich hätte gedacht,

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