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Pfeffer und Salz
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eBook891 Seiten12 Stunden

Pfeffer und Salz

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Über dieses E-Book

Während Cindy sich der Zubereitung des Mittagsmahls zu widmen begann, schlich ich mit Ingeborg zur Begutachtung des Schadens ins Restaurant. Der Anblick erinnerte an Kriegsbilder zerstörter Städte und ließ mich in der Hoffnung auf einen zweiten Marshall-Plan zurück. Um dem Grauen zu entgehen, verschloss ich die Augen vor dem Schreckensbild und stellte mir das Pfeffer und Salz nach dem Wiederaufbau vor.
SpracheDeutsch
HerausgeberScratch Verlag
Erscheinungsdatum1. Dez. 2019
ISBN9783940928221
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    Buchvorschau

    Pfeffer und Salz - Klaus Michel

    Mahls

    Prolog

    Nahm ich die Mienen der Ärzte als Indikator für den Grad meiner Genesung, so galt die Krise als überstanden, ich war in die Welt zurückgekehrt. Überarbeitung und Stress hatten den Herzinfarkt ausgelöst. In dem Bemühen, mein Restaurantimperium, das aus dem Gourmettempel Pfeffer und Salz sowie dem Edelrestaurant Thymian bestand, durch weitere Etablissements zu krönen, hatte ich die eigenen Kräfte überschätzt. Allmählich erlangte ich die Erkenntnis, welche Folgen ein Leben im Eiltempo nach sich zog. Entschleunigung lautete hinfort die Devise, Rückzug in eine lebenswertere Welt.

    Die durch den Krankenhausaufenthalt erzwungene Ruhe bot Anlass und Motivation, den Weg des letzten Jahres einer Überprüfung zu unterziehen.

    Kapitel 1

    Rausschmiss

    Der neunzehnte September 2013 stellte für mein Leben einen zentralen Einschnitt dar, der hinfort über mein zukünftiges Schicksal entscheiden sollte. In der Zeit zwischen drei und fünf Uhr nachmittags fällte ich einem Donnerschlag gleich den endgültigen Entschluss. Trotz monatelangen Ringens um den wegweisenden Schritt überraschte die beherzte Entscheidung, nach neunzehn Jahren China zu verlassen, selbst mich. Dabei glich die dazu führende Entwicklung vielmehr einem brodelnden Vulkan, der über eine lange Zeit hinweg Druck akkumuliert, um dann eruptiv, in einem feurigen Spektakel, Lava in die Luft zu speien, als demonstriere er ein Exempel seines Zorns.

    In der darauffolgenden Nacht wälzte ich mich entrückt auf dem viel zu weichen Hotelbett herum, während ich die letzten Stationen meines Lebens einer Kriegsreportage gleich noch einmal vor meinem inneren Auge Revue passieren ließ. Die ahnungsvolle Hoffnung auf den Beginn eines zukunftsweisenden Lebensabschnitts wirkte wie Balsam auf eine schwärende Wunde und weckte Aufbruchstimmung in mir.

    Neunzehn Jahre lebte ich in diesem Land, arbeitete hart, zahlte pünktlich Steuern und ging im Stillen stets von der Annahme aus, eines Tages auch meinen Lebensabend hier zu beschließen, in unserem Haus in Peking mit der Holzterrasse über dem Goldfischteich. Doch das hauptstädtische Domizil, der Garten, der Weiher und all die dort verlebten heiteren Stunden, waren jäh zu Vergangenheitsbildern verblasst, als blickte ich auf eine allmählich am Horizont verschwindende Insel zurück. Seit Mai 2011 erstreckte sich mein Wirken bereits auf südchinesisches Terrain. In meinem ehemaligen Refugium im Norden erfreuten sich inzwischen Nachmieter an der komplett eingerichteten Küche und der Ruhe des Gartenidylls.

    Obgleich damals kein einziges Indiz auf einen noch drastischeren Ortswechsel hinzuweisen schien, stellte möglicherweise der Umzug in den Süden den ersten Schritt zur heutigen Entscheidung dar. Obwohl das von mir geführte Unternehmen das Sklavendasein fürstlich entlohnte, hatte ich mich Ende 2008 aus der Lohnsklaverei befreit. Die ständigen Querschüsse und Intrigen seitens des deutschen Mutterhauses hatten die - womöglich beabsichtigte - zermürbende Wirkung gezeigt und den brennenden Wunsch nach Selbstbestimmung entfacht. Zumindest hatte die Tätigkeit mein Bankkonto prall gefüllt. Danach verlief mein Leben in beschaulicheren Bahnen, in Ausgeglichenheit und Harmonie, zudem gesundheitsfördernder als zuvor. Stress kannte ich nur noch indirekt als ein Wort, das in den Klagen früherer Kollegen zuweilen erklang. Ich übte mich in sportlichen Künsten und trainierte etliche überflüssige Pfunde ab. Jugendliche Schlankheit und der viel propagierte Waschbrettbauch blieben indessen weiterhin ein unerreichbarer Traum. Stand doch die Eitelkeit meist hinter kulinarischen Genüssen zurück.

    Als Chef eines Beratungsunternehmens, dessen Personal aus mir und an manchen Tagen zusätzlich aus meiner chinesischen Ehefrau, Cindy, bestand, besaß ich alle Freiheit der Welt. Die selbstbestimmte Auswahl der Aufträge garantierte eine geruhsame Existenz, auch wenn mir mangelnde Nachfrage häufig die Qual der Wahl zu ersparen drohte. Gleichwohl genossen wir die Souveränität über unser Leben, und mit der Zeit belebte sich sogar das Geschäft.

    Diese paradiesische Lebensqualität hielt mich jedoch nicht von der Beschäftigung mit existenzbestimmenden Fragen ab. Eine innere Stimme säuselte mir ständig ins Ohr: Welche Aufgaben warten noch auf dich?

    Was treibt einen Menschen, in dem speziellen Falle mich, als vorgeblich vernunftbegabtes Wesen dazu, just zu dem Zeitpunkt, an dem er ein lange angestrebtes Ziel erreicht, mit dem Feuer zu spielen, das bekanntlich Existenzen zu vernichten vermag? Dieser Einwand bezog sich auf meinen zuvor schon bisweilen an den Tag gelegten Drang, stets dann zu unbekannten Ufern zu navigieren, hatte ich die alten soeben mit Deichen geschützt. Offensichtlich trug ich ein bisher unerforschtes Übermutsgen in der ererbten DNS. Nachdem das Geschäft endlich florierte, begann ich unablässig, nach Haaren in der Suppe zu fahnden: Heute erschien mir das immerwährende Reisen strapaziös. Am nächsten Tag störte ich mich an dem Fakt, dass mancher Kunde die Empfehlung eines Beraters zwar suchte, den Rat jedoch meist unbeachtet ließ. Und plötzlich gab ich mich zum Abschluss eines Projekts nicht mehr mit der Ausstellung einer Rechnung zufrieden. In meiner Naivität nahm ich an, erst dann als erfolgreich zu gelten, wenn die Umsetzung meiner Ratschläge umgehend erfolgte. Wie blauäugig ich mich doch erwies!

    Da ich mich jählings zu Entscheidungen berufen fühlte und den weisen Rat an den Kunden als niedere Dienstleistung zu schmähen begann, zog mich ein bislang unvermuteter Ehrgeiz machtvoll auf den Chefsessel eines Unternehmens zurück. Offenkundig blieb mir damals sehenden Auges verborgen, welche Kalamitäten ein solcher Sessel barg, hockte man erst darauf. Im Grunde hätte ich mir mehr Voraussicht zugetraut. Schließlich hatte ich zuvor auf etlichen gethront. Zudem musste ich zuerst wieder jemanden finden, der mir einen anzubieten versprach. Natürlich mit Schreibtisch, Firmenwagen und dem von mir geforderten Rundumsorglos-Paket.

    Nach intensiver Suche wurde ich zum Glück oder Unglück - die Frage stellte sich erst hinterher - tatsächlich abermals fündig. Und dieser vermeintliche Erfolg schlug mich offensichtlich mit totaler Blindheit und Naivität. Ich akzeptierte Konditionen, die jeder vernünftige Mensch fraglos brüsk von sich weisen würde. Natürlich konnte ich nicht sämtliche Fallstricke erahnen, welche die Aufgabe mir in Fülle bescherte. Ein paar grundsätzliche Vorsichtsmaßnahmen hätten mir freilich manch Ungemach erspart, das letztlich den Abschied erzwang. Im Nachhinein fand ich überraschenderweise heraus: Als vorgeblich erfahrener Businessmann stellte ich mich wie ein blutiger Anfänger an. Wenige Jahre zuvor hatte ich noch verächtlich von Lohnsklaverei gesprochen, jetzt schmiedete ich mit eigenen Händen die Kette, die mich in deutlich umfassendere Unterwerfung zwang. Der in rosigen Farben erträumte Neubeginn erwies sich als Flop, noch bevor er recht begann.

    Das versprochene Gehalt wirkte selbst in chinesischer Währung berechnet moderat. Dafür winkte bei erfolgreicher Arbeit ein Bonus, den ich in eitler Selbstüberschätzung als verlässliches Einkommen missverstand. Überdies verachtete ich die Anhäufung materieller Güter als unwürdiges Streben nach Besitz. Entfaltung der Persönlichkeit in unternehmerischer Gestaltung eines Betriebs bildete den Reiz, der mich verblendeten Irren aus dem Norden nach Kanton zog.

    Mein größter Fehler bestand allerdings darin, einen lokalen Arbeitsvertrag zu akzeptieren. In den langen Jahren, die ich als Geschäftsführer die Geschicke der mir anvertrauten Unternehmen gelenkt hatte, hatte mein Mandat stets auf einem juristisch fundierten Anstellungsvertrag beruht, dessen arbeitsrechtliche Grundlagen ich zumindest in groben Zügen verstand. Und deutsches Recht ändert sich im Gegensatz zum chinesischen niemals über Nacht. Warum also, um alles in der Welt, unterschrieb ich einen solchen Vertrag? Mit einem bundesdeutschen Unternehmen, wohlgemerkt. Dass der Urlaubsanspruch dabei von dreißig auf zwanzig Arbeitstage schrumpfte, schrieb ich einzig der Sorge des Arbeitgebers um sich steigernde Effektivität der örtlichen Niederlassung zu. Mit der Unterschrift unter das Dokument unterwarf ich mich dem chinesischen Arbeitsrecht und folglich der lokalen Bürokratie. Der stellte ich damit quasi einen Blankoscheck aus, der sie frei über meine Zukunft bestimmen ließ.

    Was mich damals tatsächlich zum Schritt zurück in die Industrieproduktion drängte, vermag ich aus heutiger Sicht nicht mehr nachzuvollziehen. Verlockend erschien allenfalls der Tapetenwechsel: raus aus dem grauen Peking und ab nach Kanton, der südchinesischen Metropole am Perlenfluss. Auch die Nähe zu Hongkong tangierte meine Entscheidung möglicherweise. Die Grenze lag eine knappe Fahrstunde mit dem Auto entfernt. Dort endete allerdings die Reise auf einem maßlos überteuerten Parkplatz in unmittelbarer Nachbarschaft zur Grenzstation. Eine Bahnfahrt wiederum erforderte das Anstehen in langen Schlangen und das Passieren Dutzender nervenaufreibender Kontrollen. Addierte man die vergeudete Zeit, erwies sich ein Flug von Peking nach Hongkong als der schnellere und in jedem Fall komfortablere Weg. Ausgerechnet Zugfahrten auf dieser Strecke bescherte mein selbst verschuldetes Schicksal mir allerdings dutzendfach.

    Zum ersten Mai 2011 trat ich die so verlockend erscheinende Stelle an. Zwei Wochen zuvor hatten wir trotz Zeitdrucks ein hübsches Haus zur Miete aufgespürt, das die Obergrenze des vertraglich gewährten Wohnungsbudgets nur knapp überschritt. Damit residierten wir auf einer Insel in vermeintlich beschaulicher Lage nur zehn Minuten von meinem Arbeitsplatz entfernt.

    Üppiges Grün und das allgegenwärtige Blütenmeer waren dem subtropischen Klima geschuldet, das ich indes alsbald innigst zu hassen begann. Niemand hatte mich vor der schwülen Hitze gewarnt, hatte den mindestens neun Monate währenden Schweißfilm auf der Haut erwähnt, der sich auch bei wiederholtem Duschen nur kurzzeitig entfernen ließ. Die Fenster, die vorgeblich kühlenden Durchzug versprachen, gewährten stattdessen selbst den kantonesischen Stechmücken freies Durchflugsrecht. Gegen die feuchtheiße Luft, die stetig in zähem Sog durch sämtliche Spalten und Risse in die Räume quoll, boten die überall installierten Klimaanlagen nur unzureichend Linderung. Und die ruhten nur während der sogenannten kalten Jahreszeit, die ich mich weder als kalt noch als Jahreszeit zu bezeichnen hinreißen ließ. Der Kantoner Winter währt, so hält eine boshafte, nichtsdestominder realistische chinesische Wetterweisheit fest, von Montag bis Freitag, im günstigsten Fall einige Tage mehr.

    Immerhin bezahlte die Firma den Umzug, selbst für unsere sieben Katzen – gewiss die einzigen tierischen Wesen, die je in China in einer First-Class-Kabine reisten. Trotz dicken Fells schienen sie die schwüle Hitze besser zu ertragen als ich.

    Bereits in den ersten Tagen nach unserer Ankunft entsandte mir die örtliche Bürokratie in Form einer verweigerten Arbeitserlaubnis ihren freundlichen Willkommensgruß. Die Sinnhaftigkeit chinesischer Vorschriften und Gesetze bei derartigen Vorgängen verschließt sich nicht nur ausländischem logischen Empfinden. Von realitätsfernen Beamten verfasst, tragen sie dem Leben der Menschen unzureichend Rechnung. Insofern sie nur vage Formulierungen enthalten, erscheinen sie auch Eingeweihten völlig undurchsichtig und absurd. Zudem sorgen ständige Änderungen dafür, dass selbst der gesetzestreueste Bürger sich immer nur an eine veraltete Version halten kann. Das bietet der aufgeblähten Bürokratie Gelegenheit, jedes, wahrlich jedes, noch so vernünftig scheinende Ansinnen einer brüsken Ablehnung zu befinden. Ich hatte bis dahin bereits in einigen Städten Chinas als Manager gewirkt und bildete mir ein, ich fände mich auch im südchinesischen Behördendschungel zurecht. Hatte ich doch festgestellt, wie die Zahlung einer angemessenen „Gebühr" selbst die fest verschlossenste Pforte zu öffnen vermag. Ein an geeigneter Stelle vergessener Geldschein in Kombination mit einem realistischen Anliegen sollte auch Kantoner Beamten eine Entscheidung in meinem Sinne erleichtern. Mit derart naiven Vorstellungen betrat ich das mir bisher unvertraute südchinesische Parkett. Während der wohlplatzierte Schein stets seinen Weg in eine tiefe Tasche fand, blieb die erwartete Wirkung hingegen aus.

    Das erste Problem stellte, wie gesagt, die Arbeitserlaubnis dar. Diese hatte ich mir vor fünfzehn Jahren in einem langwierigen Prozess - ohne Zusatzgebühr! - zu sichern gewusst. Hinfort schrieb ich das Büchlein, das mich als Ausländer berechtigte, meine Arbeitskraft dem Wohl des sozialistischen Aufbaus zu widmen, bei jedem Umzug auf den jeweiligen Wohnort um. In Kanton insistierte die zuständige Beamtenschar, sie erachte das Pekinger Dokument, aus ungenannten Gründen, als irrelevant, womit sie mir zugleich den Status als arbeitenden Bürger samt Arbeitsvisum entzog. Großzügigerweise erwiesen sie mir die Gnade, mich nicht umgehend ins Ausland zu deportieren, sondern gaben mir Gelegenheit für den passenden Nachweis der Umstände meines Aufenthalts vor Ort.

    Selbst bei genauester Untersuchung des Dokuments vermochte ich keinerlei Hinweis darauf zu entdecken, dass es nur in Peking Gültigkeit besaß. „Volksrepublik China" stand auf der ersten Seite, und meine Frage, ob Kanton sich noch immer als diesem Land zugehörig betrachte, trug mir auf dem Amt nur böse Blicke ein.

    Blieb mir eine Chance, mich dem, was sich dem naiven Beobachter als Behördenwillkür erschloss, in Wahrheit jedoch einem glasharten Kalkül gehorchte, zu entziehen? Die Absicht der Bürokraten gab schließlich keine unlösbaren Rätsel auf: Je steiniger sie den Eintritt ins Reich der Mitte gestalteten, desto notwendiger bot sich die Einschaltung diverser Agenten an, die mir gegen eine stattliche Gebühr auf dem Weg durch den Behördendschungel hilfreich die eine oder andere Liane reichen konnten. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lieferten all die Helfer einen Großteil des so gewonnenen Betrags an eben jene Beamtenschar ab, die hinter den vielen Schaltern auf den zahllosen Ämtern saß und mir so lange den entscheidenden Stempel versagte, bis ich meine Kooperation mittels Übergabe weiterer Scheine bewies.

    Der Erste schleuste mich durch ein spezielles Krankenhaus, dessen Ärzte mich auf Herz und Nieren untersuchten. Damit schlossen sie aus, dass mir die heimtückische Einschleppung kapitalistischer Krankheiten aus dem Ausland gelang. Auch der Hinweis, mit Einreisestempel im Pass hinlänglich belegt, das Musterland des Sozialismus vorher keineswegs verlassen zu haben, rief allenfalls verächtliches Schnauben hervor. Schließlich sprach ich hier mit Medizinern, deren Sorge meiner Gesundheit galt und keinem fremdländischen Reisedokument. Ausländer blieb Ausländer, und die fielen bekanntlich von draußen in das geliebte Heimatland ein. Die Gesundheitsuntersuchung stellte indessen noch die müheloseste Etappe dar und kostete mich einzig einen vollen Tag, wobei ich in diesem Fall sogar den Nutzen des Agenten anerkannte: Ohne ihn hätte ich die zahllosen Stationen der Odyssee durch das Gebäude niemals geschafft.

    Rückblickend vermag ich mich im Einzelnen nicht mehr zu entsinnen, welche sonstigen Schritte sich als notwendig erwiesen, um meinen Status als arbeitender Ausländer zu restaurieren. Jedenfalls zog der Prozess sich endlos hin, während die Arbeitserlaubnis noch immer in weiter Ferne lag. Nicht zu schweigen von dem erhofften Visastempel im Pass.

    Und das lief in der Tat bald aus. Da man mir kein Arbeitsvisum zugestand, blieb nur der Weg nach Hongkong, der mir die Ausstellung eines Businessvisums versprach. Glücklicherweise hatten wir vor dem Umzug noch in Peking eine deutsche Einreiseerlaubnis für Cindy besorgt. Da ihre zahlreichen Reisen nach Deutschland, durch Stempel im Pass hinlänglich dokumentiert, sie als willige Heimkehrerin auswiesen, erhielt sie problemlos ein dreijähriges Verwandtenvisum, als Verwandter fungierte ich. Das kostete uns, außer den Stunden zum Schlangestehen, keinen einzigen Cent. Im Hinblick auf die zukünftige Nähe zu Hongkong und Macao hatte sie sich in Peking auch eine Eintrittserlaubnis für diese beiden Orte erkauft. Visum wurde das Dokument schon aus dem Grunde nicht genannt, bildeten die Städte doch inzwischen einen integralen Bestandteil des heiligen chinesischen Reichs. Dafür forderte der Staat indessen sechshundert Yuan, die ihr die zweimalige Einreise zu gewähren versprachen. Damit begleitete Cindy mich auf meinem ersten Trip in die ehemals britische Kronkolonie Ende Mai.

    Der früheste Zug verließ Kanton morgens um acht und fuhr um die Mittagszeit in den Hong-Hom-Bahnhof, Nachfolger der berühmten Kowloon-Station, ein. Nach Absolvieren der notwendigen Einreiseformalitäten brachte uns ein Taxi zur Visastelle, einem Ableger des chinesischen Außenministeriums. Die erreichten wir pünktlich um zwei Uhr nachmittags, jener Zeit, zu der sich dort das Tor für die Nachmittagstermine zu öffnen begann. Die Antragsformulare hatte ich zuvor aus dem Internet heruntergeladen und in häuslicher Ruhe ausgefüllt. Erfreulicherweise herrschte hier Effizienz statt sozialistischen Amtsschimmel-Schlendrians. Vor dem Eintritt in das Gebäude wurde die Vollständigkeit der Papiere kontrolliert. Als die offiziell als festgestellt galt, gewährte man mir Zutritt zum zweiten Stock, wo eine reizende Chinesin die Richtigkeit der Angaben prüfte.

    Sodann suchte ich mir einen Schalter, an dem die Schlange nur die Wartezeit einer knappen Stunde versprach, beglich die verlangte Gebühr und erhielt ein Papier, das mich zur Abholung des Visums am nächsten Nachmittag legitimierte. Pünktlich um zwei hielt ich das Dokument in der Hand. Mit viel Glück schafften wir es bis um drei zu besagter Hong-Hom-Station, wo ich Tickets für den Zug um halb fünf erwarb. Um neun feierten wir zu Hause den Besitz eines Ein-Monatsvisums mit einem Glas Wein.

    Obwohl eine wachsende Gruppe diverser Agenten bereits einen beträchtlichen Teil ihres Lebensunterhalts aus meinen Honoraren bestritt, beklagte ich Ende Juni immer noch das Fehlen eines Arbeitserlaubnisdokuments. Das machte einen weiteren Ausflug nach Hongkong erforderlich. Dieses Mal fuhr ich allein und beantragte, in Vorausahnung potenzieller Probleme, gleich zwei Visa mit der Gültigkeit einer Monatsfrist. Immerhin gewährte die Bürokratie eine solche Möglichkeit. Ende Juli verbuchten die Agenten meine „Gebühren" bereits als feste Einnahmequelle, die ihnen ein Leben in Luxus verhieß. Die Arbeitserlaubnis lag indessen weiterhin so fern wie zuvor.

    Anfang August erfuhr ich von einem der kostspieligen Agenten, er sähe alsbald eine Arbeitserlaubnis mitsamt entsprechendem Visum voraus. Für diese frohe Botschaft hatte er bisher mehrere tausend Yuan kassiert. Indessen türmten die hiesigen Bürokraten eine weitere Hürde vor mir auf. Als Ausländer kam ich definitionsgemäß aus einem fremden Land, und da ich den Prozess der Beantragung erneut startete, verlangte die Behörde von mir, eine Einreise aus dem Heimatland, die wiederum durch ein in Deutschland ausgestelltes chinesisches Visum zu bestätigen sei. Ein Businessvisum, wohlgemerkt. Die Tatsache, dass ich den Antrag nur deshalb vor Ort stellte, weil mein – wiewohl gültiges – Pekinger Dokument keine Anerkennung fand, taten sie als persönliches Versäumnis ab.

    Ohne die zufällig zu diesem Zeitpunkt eintreffende Einladung unserer Firmenzentrale, mir im August eine Schulung in Deutschland zu gewähren, die eine Heim- und Rückreise erforderte, drängte mich schon damals der aufwallende Trotz zu der demonstrativen Tat, das Handtuch zu werfen und zu verkünden: „Jungs, jetzt reicht‘s!" Den abermaligen Durchhalteentschluss sollte ich noch bitter bereuen. Was hätte ich mir alles erspart!

    Zunächst sorgte in Deutschland eine hilfreiche Sekretärin dafür, dass ich das verlangte Businessvisum erhielt. Dazu stellte ich mir als General Manager persönlich eine Einladung aus. Mitte September besaß ich somit auch die lange ersehnte Arbeitserlaubnis plus Arbeitsvisumsstempel im Pass.

    Inzwischen hatte ich das Unternehmen in Kanton und unser Mutterhaus genauer kennengelernt und sah meine Fiktion eines hocheffektiven Managements vor weitere Hindernisse gestellt. Laut Definition personifizierte die deutsche Zentrale die unternehmerische Kompetenz, die sich durch Einmischung selbst in die geringsten Belange der Niederlassungen manifestierte. Dass die Vorgaben der dortigen Experten häufig den Weg zu uns nicht fanden, stand auf einem anderen Blatt. Und wenn ein Produkt nicht funktionierte, trug ohnehin der Geschäftsführer die Verantwortung und damit definitionsgemäß auch die Schuld. Allein die Entfernung zu China erwies sich bei der Kommunikation als erschwerendes Element. Überdies bestand stets die Gefahr, dass der versprochene Lösungsansatz in Deutschland in Vergessenheit geriet, und den Kunden auf den Weg zu den Konkurrenten zwang.

    Auch die Selbstbedienungsmentalität der Angestellten stellte mich vor ein ernsthaftes Problem. Der verbotene Griff ins Regal blieb mir keineswegs verborgen und überforderte meine abendländisch geprägte Toleranz. Schon seit Jahren versorgten sie sich gewohnheitsmäßig mit Endprodukten und Rohmaterial. Dessen Verkauf besserte nicht nur ihr Einkommen auf, sondern förderte auch ungehemmten Konsum, der sich in nächtlichen Sauforgien niederschlug und mir am folgenden Morgen unwillige Mitarbeiter hinterließ. Chinesisches Arbeitsrecht erlaubt die Kündigung auch eines offensichtlichen Diebes nur dann, wenn es ihn mit dem Beutegut in der Hand in flagranti zu ertappen gelingt. Und selbst in diesem Fall galt ein Rausschmiss keinesfalls notwendigerweise als vom Gesetz gedeckt. Mehrere Verfahren vor dem Arbeitsgericht bewiesen: Ein Richter neigte eher dazu, den kleptomanischen Arbeiter zu belohnen, als er einem ausländischen Kapitalisten zu seinem verbürgten Recht verhalf. Um wen es sich bei meinen Gangstern handelte und wie sie ihr kriminelles Handwerk betrieben, fand ich nach wenigen Tagen heraus. Solange es mir misslang, sie mittels einer hohen Abfindung zu einer Kündigung zu verlocken, zwang mich das Gesetz zu einer Weiterbeschäftigung und zur Duldung des illegalen Vertriebs des Betriebseigentums.

    Diebstahl und Betrug hatte ich zwar auch in Peking erlebt, allerdings in weit geringerem Maß. Dort genügte jedoch die Einschaltung der Polizei. Die setzte den Übeltäter umgehend fest und führte ihn seiner gerechten Strafe zu. So wandte ich mich in Kanton ebenfalls an die Ordnungsmacht. Und mit welchem Erfolg? Ein hoher Polizeikader lachte mir frech ins Gesicht und verlangte dreißigtausend Yuan für eine Intervention, und zwar in bar. In höchster Verzweiflung zog ich das Angebot ernsthaft in Betracht. Doch welche Alternative würde verbleiben, falls der Gauner das Geld ergriff und die Zusage vergaß? Eine Anzeige bei seinen Kollegen brachte allenfalls den Spott des zutiefst mafiösen Polizeiapparats über mein unschuldiges Ausländerhaupt.

    Trotz Wagenladungen Sands im Getriebe des Unternehmens boomte das Geschäft, und damit stand mir der schriftlich zugesicherte Bonus zu. Den zahlte mein fürsorgender Arbeitgeber allerdings erst im Juni des darauffolgenden Jahres aus. Und zu diesem Zeitpunkt schickte die chinesische Wirtschaft sich schon wieder an einzubrechen, so dass ich Ende 2012 nur einen Teil der Erfolgsbeteiligung erhielt, die wiederum erst Mitte 2013 mein Konto zierte. Da stand der Entschluss, das entwürdigende Zwischenspiel in Kanton zu beenden, bereits fest.

    Die örtlichen Behörden ersannen 2013 eine weitere Regelung, die den Fremden das Leben in China zu vermiesen versprach. Bisher wurde ein Teil meines Gehalts in Euro gezahlt und nach Deutschland transferiert. Die Devisen benötigte ich für die Kranken- und Lebensversicherung. Nun aber teilte die Regierung uns ohne Vorwarnung mit, ein ausländisches Unternehmen sei mit sofortiger Wirkung gemäß Paragraf Soundso nicht mehr zu solchen Devisentransfers befugt. Mit anderen Worten, man erwartete von mir, jeden Monat stundenlang auf der Bank in einer endlosen Schlange anzustehen, um einen Teil des im Schweiße meines Angesichts verdienten Gehalts zu einem vorher festgelegten Kurs in Euro zu wechseln und nach Deutschland zu transferieren. Die entsprechenden Kriterien für die Vorzugsbehandlung, insbesondere die Höhe des Wechselkurses, verblieben dabei in Dunkelheit. Ich hegte den Verdacht, nur ein Kotau verhelfe mir zu dem vorgeschriebenen Stempel auf dem erforderlichen Dokument. Allerdings verweigerte ich einen Eigenversuch.

    Alternativ stand die Einschaltung eines weiteren Agenten zur Wahl. Die Höhe von dessen Gebühren und die Frage, wen er mit welchem Betrag zu schmieren gedachte, weigerte ich mich, in Erfahrung zu bringen. Zudem vertraten die Chefs die Überzeugung, die Begleichung der Kosten für derartigen Aufwand falle mir als Arbeitnehmer persönlich zu. Es handele sich letztendlich um mein Gehalt. Als sich schließlich offenbarte, dass auch das deutsche Mutterhaus als Agent in Frage kam, fand eine solche Lösung dort nur widerwillig Gehör. Glücklicherweise fand die Regelung am Ende keine Anwendung in der Praxis des täglichen Geldverkehrs. Vermutlich hatten sich andere Ämter beschwert, dass man auf jene Weise von dem Geldsegen der Ausländer ausgeschlossen blieb.

    Hatte ich anlässlich des Umstands, der mich zum Bittsteller degradierte, bereits ernsthaft mit dem Gedanken an Abschied gespielt, überzeugten die Behörden im Spätsommer mich endgültig von dem Sachverhalt, dass sich auch meine in China erprobte Geduld mit der Bürokratie als endlich und erschöpflich erwies, die mit meinem damaligen Arbeitgeber im Übrigen ebenso. Im September fand in Deutschland eine Messe statt, deren Besuch für uns Geschäftsführer aus fernen Landen als Pflichtprogramm im Kalender stand. Außerdem galt laut deutscher Zentrale vor und nach der Veranstaltung eine Teilnahme an verschiedenen Strategiesitzungen als obligat. In Ermangelung eines Vorwands, der mir Abwesenheit versprach, buchte ich rechtzeitig Flüge ins geliebte Heimatland, wobei sich die Liebe ausschließlich auf die Zugehörigkeit zu der örtlichen Bevölkerung bezog. Und weil das jährliche Visum jetzt im September verfiel, bat ich meine Mitarbeiter um einen Start des Erneuerungsmarathons bereits im August.

    Da ich der Visumfrage inzwischen höchste Priorität einzuräumen begann, handelten sie exakt nach behördlicher Vorgabe, verpflichteten und bezahlten einen Agenten und füllten Dutzende von Anträgen aus. Dann teilte man mir eines Tages mit, ich habe ein Lebensalter von sechzig Jahren erreicht, eine Information, die für mich keinerlei Neuigkeitswert besaß.

    Das Überschreiten der magischen Altersgrenze bot indessen den Finstermännern auf den Ämtern Gelegenheit zur Erhebung weiterer obskurer Gebühren. In China zogen männliche Angestellte sich in diesem Alter aufs Altenteil zurück. Die Ausnahmen von der Regel blieben allseits unerwähnt. Allein in unserer Kantoner Niederlassung beschäftigten wir mindestens drei Greise, deren Geburtsdatum die behördlich festgelegte Grenze überschritt. Wenn ein Chinese sich in Rente begab, galt im Sinne der Gleichberechtigung das Angebot für Ausländer ebenso. Die Nachricht trug wenig zu meiner Erheiterung bei. Allerdings ging ich intuitiv von der Möglichkeit aus, dass sich das Problem auf monetäre Weise lösen ließ. Eine Woche später versicherte man mir in schriftlicher Form, ein gewöhnlicher Visumagent sei zur Erledigung eines solchen Auftrags unbefugt. Die Angelegenheit erfordere die zusätzliche Einschaltung eines speziellen Agenten, dessen Vergütung der Bedeutung der Aufgabe entsprechend sich auf einem höheren Niveau bewege.

    Ende August diskutierte ich mit Cindy bereits ernsthaft Alternativen. Zwar gewann sie, im Gegensatz zu mir, unserer südchinesischen Wahlheimat auch positive Seiten ab, doch ihre Einschätzung der Regierung deckte sich mit der meinigen hinlänglich exakt. Bei jedwedem Urlaub in Deutschland schwärmte sie demonstrativ vom Wetter - vom deutschen Wetter, wohlgemerkt -, lobte das Land im Allgemeinen und seine Einwohner im Besonderen. Zusätzlich verharrte sie, als deutlicher Wink in meine Richtung, bei Stadtbummeln ostentativ vor jedem Maklerbüro, um ausführlich die Preise der angebotenen Immobilien zu studieren. Daher rief sie bei mir keinerlei Verwunderung hervor, als ihre Alternative Übersiedlung nach Deutschland hieß.

    Auch ich hatte bereits mit dieser Möglichkeit sympathisiert, gab jedoch zu bedenken, bezahlte Arbeit gelte in meiner alten Heimat als rares Gut. Wer suchte dort einen sechzigjährigen Chinaspezialisten, dem zudem, Mülltrennung und Öffnungszeiten der Geschäfte eingedenk, mittlerweile das Leben in Deutschland wie ein Buch mit sieben Siegeln erschien?

    Cindys Pläne erwiesen sich indessen als weit fortgeschrittener als gedacht. Sie rechnete mir den Erlös unseres Pekinger Hauses vor. Und mit dem, was auf diversen Konten und Fonds in Europa ruhte, sollten wir über die Runden kommen. Auch der Einwand, meine spätere Rente erweise sich allenfalls als marginal, bremste ihre Begeisterung nur minimal.

    In der darauffolgenden Woche versetzten die behördlichen Instanzen der lange schon getrübten Liebe zu China den endgültigen Todesstoß. Nachdem der Spezialagent sein Honorar eingesteckt hatte, stellte er fest, der Fall berge eine Fülle von Unsicherheitsfaktoren. Unerwarteterweise sprach er von der Notwendigkeit, mich behördlich zum „Experten" zu erklären. Meine Rückfrage, ob ein Geschäftsführer nicht bereits als solcher zu betrachten sei, verneinte er vehement. Er schlug die Einschaltung eines zusätzlichen Agenten vor, der einer Erlangung des Expertenstatus angeblich dienlich sei. Und dessen Honorar wiederum überschritt natürlich das seinige und die Vergütung der Kollegen um einen mehrstelligen Betrag.

    „Danke!, erwiderte ich. „Ich erwäge das großzügige Angebot. Doch da stand der Entschluss bereits fest: nicht mit mir! Diese Abzocke förderte ich auf keinen Fall länger mit meinem Gehalt. Bestand das gesamte Land nur noch aus geldgierigen Bürokraten? Da die Wirtschaft lahmte, pumpte die Regierung erneut Mittel zur Belebung der Konjunktur in den Markt. Und wo blieb das Geld? Es versickerte in den tiefen Taschen korrupter Funktionäre. Lass China vor die Hunde gehen. Ohne mich, dachte ich und ließ den verblüfften Mann grußlos zurück.

    Eine übereilte Flucht kam allerdings kaum in Frage, stellten wir abends am Esstisch fest. Schon praktische Erwägungen hinderten uns an der Realisierung des Wunschs, augenblicklich von dannen zu ziehen. Was sollte aus den Möbeln werden, meinen Büchern, den sieben Katzen? Das Wohlbefinden der verehrten Tierchen erforderte besondere Berücksichtigung, die uns auch in Deutschland eine angemessene Bleibe anempfahl. Und dort besaß ich außer einem Bankkonto nichts.

    Am folgenden Tag überließen wir die Agenten und die Personalabteilung sich selbst. Ich fuhr mit Cindy allein zum Amt. Wir drangen sogar bis zu einem der Verantwortlichen vor. Schon das verbuchte ich als Erfolg der Mission. In aller Regel ließ sich der Chef nur im Ausnahmefall auf den alltäglichen Publikumsverkehr ein. Nach der Schilderung unseres Problems war er unverzüglich mit Ratschlägen bei der Hand. Offensichtlich hielt er für jedes Behördenproblem die gleiche Lösung parat. Als er endlich auf den Agenten für den Expertenstatus zu sprechen kam, unterbrach ich die endlose Tirade, die weitere Investitionen in den lokalen Beamtenapparat nahelegte: Wenn ich als General Manager eines deutschen Unternehmens mit zwanzig Jahren Chinaerfahrung nicht als Experte zu betrachten sei, vermöge mich kein Vermittler dieser Welt in einen solchen Status zu erheben.

    „Dann kehre ich mit all meinem Expertentum umgehend in die Heimat zurück und erzähle den Leuten dort, wie kooperativ die Regierung sich hier gegenüber Ausländern verhält."

    Damit überschritt ich eine Grenze. Ich beleidigte das System. Doch glücklicherweise verstand er den Kern der Aussage in anderem Sinn. Seiner Meinung nach zog es mich beharrlich in die Heimat zurück, und für dieses Begehren brachte er Verständnis auf. Außerdem gelang es Cindy, ihm die Notwendigkeit einer Vorbereitungszeit vor Augen zu führen. Zeit, in Deutschland eine Bleibe zu finden und einen Umzug zu organisieren. Weiterhin betonte ich, lasse ich das mir anvertraute Unternehmen über Nacht im Stich, füge das der lokalen Wirtschaft ernstlichen Schaden zu.

    Und mit geballter Überredungskunst fanden wir ein Lösungsmodell: Die Erteilung einer Arbeitserlaubnis, die nur auf ein halbes Jahr befristet war, gestattete mir die Verlängerung des Sichtvermerks im Pass. Da keine Zeit für die Erneuerung des jetzigen blieb, bot sich einzig ein Flug in die Heimat an, der mir im günstigsten Fall die Ausstellung eines Businessvisums versprach. Ob und wie das Dokument sich in ein Arbeitsvisum verwandeln ließ, stellte ein Problem für die Zukunft dar, das sich wiederum durch die Einschaltung eines Agenten bewältigen ließ.

    Die Erörterung der Formalien gestaltete sich als ein enervierender Prozess, den nur ein gelegentlicher Hinweis auf die Kosten unterbrach. Da Cindy hiermit die Verhandlungsführung übernahm, begab ich mich vor die Pforten des Amts und überließ den beiden in aller Ruhe und ohne Zeugen die Festlegung der finanziellen Details. Umsonst wurde mir diese Gunst gewiss nicht zuteil. Als die Verhandlung endlich ein Ende fand, erklärte mir meine Frau: die Abwicklung, sprich die Übergabe des Geldes, erfordere die Einschaltung eines weiteren Agenten, dessen Einsatz sich indessen auf die Anlage des Vermögens bezog, die mir als einzige Möglichkeit einen fortgesetzten Aufenthalt im sozialistischen Arbeiterparadies erlauben würde.

    „Vermutlich ein Verwandter des Kerls", zischte ich, als wir wieder im Auto saßen.

    Als das Altersproblem sich zum ersten Mal gestellt hatte, hatte ich in groben Zügen meinen Chef über die Implikationen informiert. Wir gingen damals von der Annahme aus, dass sich die Angelegenheit durch die Einschaltung eines Agenten richten ließ. Weshalb ich nach der soeben abgeschlossenen Verhandlungsrunde keine Veranlassung sah, die Details der Vereinbarung dem Mutterhaus und dessen Controllern zur Genehmigung zu unterbreiten, stand doch in einer Woche ein Termin mit meinem obersten Boss auf dem Tagesplan. Das Treffen diente dem Ziel, ihm zu vermitteln, dass ein deutscher Arbeitsvertrag das Problem zwar nicht vollkommen umging, ein solcher eine Lösung jedoch wesentlich zu vereinfachen versprach. Außerdem hatte ich inzwischen erfahren, welche Konsequenzen eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis nach sich zog. Sie verbot erstens einen Firmenwechsel, der meiner Intention ohnehin widersprach. Zweitens untersagte ein derartiges Papier einen Transfer des Gehalts auf ein ausländisches Konto. Da mir der Arbeitsvertrag jedoch eine Bezahlung in der Heimat zugestand, mussten wir eine Vorgehensweise finden, die der veränderten Lage Rechnung trug. In mir keimte bereits eine Idee, die beim Chef zwar nur widerwillig Zustimmung finden würde, doch dessen Gemütslage räumte ich nur eine untergeordnete Bedeutung ein. Was hatte ich schließlich zu verlieren?

    In der folgenden Woche ging mir prompt die versprochene befristete Arbeitserlaubnis zu. Die bestand in nichts anderem als dem vertrauten schwarzen Büchlein, in dem ich eine weitere Seite abgestempelt fand. Das Dokument bot den gleichen Anblick wie in den Jahren zuvor. Nur ein winziges zusätzliches Stempelchen zeugte von der Restriktion.

    Am elften September, genau zwei Tage, bevor meine Aufenthaltserlaubnis abzulaufen drohte, flog ich in die Heimat zurück. Zunächst suchte ich unsere Firmenzentrale in der Nähe von Frankfurt auf. Dort unterrichtete ich erstens den direkten Chef und bat zweitens seine Sekretärin, meinen Pass aufs chinesische Konsulat zur Beantragung eines Businessvisums zu expedieren. Erwartungsgemäß fiel ersterem, einem Ingenieur, keine Lösung ein. Doch für den übernächsten Tag hatte ich einen Termin mit dem obersten Boss vereinbart. Und der residierte in Köln.

    Bei der ersten Besprechung wusste er bereits Bescheid und sah mich an, als verderbe ihm mein bloßer Anblick den Tag. In der festen Überzeugung, vor einer heftigen Auseinandersetzung zu stehen, schwiegen wir uns eine Weile mit finsteren Blicken an, führten dabei einen einführenden mentalen Dialog:

    Wegen einer solchen Kleinigkeit das Handtuch zu werfen, empfinde ich als Widerspruch zur Firmenkultur.

    Erwarten Sie etwa von mir, dass ich Arbeitskraft und Kreativität umsonst zur Verfügung stelle?

    Prima Idee! Auf diese Weise erfüllten wir endlich unser Kostensenkungsprogramm.

    Das im Unternehmen bekanntlich über der Motivation der Mitarbeiter steht …

    Ich verlange von Ihnen eine Lösung. Schließlich gelten Sie als der China-Spezialist.

    … und der hat schon vor zwei Jahren prophezeit, ein lokaler Arbeitsvertrag würde sich in einer Krisensituation als Schnapsidee erweisen.

    Zweifellos verstand er inzwischen, dass sich mit einem deutschen Anstellungsvertrag das Problem anstandslos einer für alle Seiten gerechten Lösung zuführen ließ. Dass ihm jedoch ein Fehler unterlaufen war, würde die gottgleiche Position, in der er sich in der Firma sah, untergraben. Deshalb zählte er erneut Argumente auf, die meiner Argumentationskette vermeintlich zuwiderliefen. Diese hatte ich mir bereits bei meinem Einstellungsgespräch angehört und in meiner damaligen Unschuld akzeptiert. Ich erklärte ihm, in den fünfzehn Jahren, die ich mit deutschen Verträgen für deutsche Firmen in China gewirkt hatte, habe kein einziges Unternehmen darin jemals ein Problem erkannt. Da das Kind jedoch schon in den Brunnen gefallen sei, erachte ich jede weitere Diskussion als müßigen Zeitvertreib, der uns einen Blick auf die Zukunft, meine sowie die seines angeblichen Weltunternehmens, verstellte. Offensichtlich wünschte auch er, die alten Sünden ruhen zu sehen, und begehrte vielmehr zu erfahren, wie weiter zu verfahren sei.

    „Was heißt hier weiter verfahren?, fragte ich erstaunt und reichlich empört. „Ich werde meine Sachen packen und nach Deutschland ziehen.

    „Ich widersetze mich energisch diesem Schritt!", unterbrach er mich brüsk.

    „Die chinesische Bürokratie zwingt mich dazu, erklärte ich sachlich. „Selbst um zurückzufliegen, benötige ich ein erneuertes Visum, das mir indessen keine Erwerbstätigkeit in China erlaubt.

    „Sie lassen das Ihnen anvertraute Unternehmen im Stich", beharrte er zornig, wie ein kleiner Junge, dem Mami sein Lieblingsspielzeug wegzunehmen droht.

    Das Gespräch entwickelte, wie ich konstatierte, eine unerwartete Dynamik, die einen offenen Streit erwarten ließ. Zunächst lenkte ich seine Aufmerksamkeit auf die offensichtliche Tatsache hin, dass Gefühlsausbrüche uns einer Klärung der Lage kaum näherzubringen versprachen. Offenbar sprach nur sporadisch jemand Klartext mit ihm; jedenfalls schluckte er schwer, gab dann aber zu, dass eine Lösung zu finden sei, indem er beinahe flehentlich erneut um Ideen bat.

    „Ich sehe nur eine Möglichkeit, erklärte ich in einem vorübergehenden Gefühl der Überlegenheit. „Sie suchen umgehend einen Nachfolger für mich. In der Zwischenzeit setze ich all mein Bemühen darauf, das Unternehmen vor Schaden zu bewahren, wobei mein großzügiges Angebot einigen Bedingungen unterliegt.

    An diesem Punkt verfiel er in beredtes Schweigen, ein Fakt, der in die Firmengeschichte einzugehen versprach, sich indessen als weise und der Situation angemessen erwies. Ich trug ihm meine Vorstellungen vor. Da eine Bezahlung in China nicht mehr in Frage kam, schlug ich eine Verpflichtung und eine Vergütung in Deutschland als Berater vor. Unverfroren, wie ich inzwischen durch die chinesischen Agenten geschult aufzutreten pflegte, legte ich ihm die geforderten Honorarsätze vor.

    „Das ist bei Weitem zu viel", begehrte er auf.

    Ich erwiderte nur kalt, eine Ablehnung eröffne mir die Chance der sofortigen Niederlegung meines Amts.

    Seinen Hinweis, eine derartige Entscheidung erfordere eine vorhergehende Diskussion mit dem Anteilseignergremium, nahm ich gewogen auf und erklärte: „Das verstehe ich. Aber Sie wissen, ab sofort tickt die Uhr."

    Er wusste ebenso wie ich, die gegenwärtige Expansionsphase stellte den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt für mein Ausscheiden dar. Inzwischen hatten wir in China so viele Ideen angestoßen, Projekte, die eine umgehende Realisierung erforderten. Ich beteuerte, auch mir liege an einer Ausweitung eines Markts, der enorme Profite versprach. Aber, und das müsse er verstehen, ab sofort gelte für mich die höchste Priorität meiner eigenen Zukunft, die ich hinfort nicht mehr in Kanton sah.

    Das erste Gespräch fand am Montag statt. Am Dienstag teilte er mir mit, der Hauptanteilseigner habe sich prinzipiell mit meinen Forderungen einverstanden erklärt. Allerdings benötige er einen formalen Beschluss des Aufsichtsrats, der in dieser Woche leider nicht herbeizuführen sei.

    „Kein Problem, entgegnete ich, „dann schließen wir einen kurzen Vertrag, der besagt, dass die Vereinbarung nur nach Zustimmung des Aufsichtsgremiums Gültigkeit erlangt. Da ich noch mindestens eine Woche in Deutschland verweile, bleibt uns genügend Zeit.

    Am Mittwoch – bei der dritten Besprechung – legte er mir einen Vertragsentwurf vor, der die Verhandlungen platzen zu lassen drohte, ein seitenlanges Dokument, das mir Aufgaben und Verantwortungen aufzulasten versuchte, deren Erfüllung sich als unmöglich erwies. Die geforderten Honorarsätze akzeptierte er zwar, indessen blieb das Unternehmen jederzeit zu einer Kürzung legitimiert, sobald ich dieser oder jener Forderung nicht entsprach. Während ein überbordender Zorn mich überkam, erwog ich die Wirkung des dramatischen Akts, der mich das Papier ostentativ vor seinen Augen zerreißen ließ, und auf die Frage, was mir daran missfiel, schnaubte ich wütend: „Das gesamte Konzept."

    Am Mittwochabend, während Besprechung Nummer vier, unternahmen wir einen erneuten Versuch. Der Vertrag, den ich jetzt in Händen hielt, bewies zum ersten Mal ein Mindestmaß an menschlicher Vernunft. Aber immer noch enthielt er die für diesen Konzern typischen Phrasen. Das controllergetriebene Kontingent, das unablässig hinter den Kulissen wirkte, versuchte zwanghaft, sich ständig gegen jegliche denkbare Unbill zu verwahren, als lauerten vor den Toren nur Gangster und Diebe, die es in Schach zu halten galt. Meinen Ärger mit Mühe unterdrückend erklärte ich, er kenne mich bereits seit über zwei Jahren und wisse gewiss, dass ich mich auch in der verbleibenden Zeit für das Unternehmen einsetzen werde. Sätze wie: der Auftragnehmer verpflichtet sich im Falle von … betrachte ich als persönliche Beleidigung. Ohne eine Antwort abzuwarten, packte ich einen Stift und nahm in dem Dokument rigoros Streichungen vor.

    „Aber jetzt steht hier nur noch, Sie setzen sich für das Unternehmen ein, bis ein Nachfolger gefunden ist", beklagte er, als er den Text überflog.

    „Nein, nicht einmal das beinhaltet der Vertrag, gab ich zu. „Ich verpflichte mich, bis Ende des Jahres einen Nachfolger einzuarbeiten und vielleicht - nur vielleicht - im Januar noch für kurze Zeit zur Verfügung zu stehen. Wenn Sie bis dahin niemanden finden, kann ich das nur bedauernd zur Kenntnis nehmen. Ich führe das Unternehmen nun seit zwei Jahren. Während dieser Zeit dürfte Ihnen mein Engagement kaum entgangen sein. Auch mir gilt es als Anliegen, dass das, was wir angeschoben haben, endlich Früchte trägt.

    Am Donnerstag, den neunzehnten September, unterschrieben wir in Verhandlung Nummer fünf einen Vertrag. Zwar unter Zähneknirschen, schließlich ließen wir dabei beide Federn, ich konnte indes mit der Vereinbarung leben. Damit schien mein Schicksal zementiert.

    Hatte ich gehofft, doch noch eine Lösung zu finden, die mir zu einem fortgesetzten Aufenthalt in China verhalf? Nein! Ja! Gegebenenfalls! Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Immerhin hatte ich mich mehr als die Hälfte meines Lebens mit diesem Land befasst und hier annähernd zwanzig Jahre gewirkt. Es war mir in mancher Hinsicht zur Heimat geworden, zumindest geografisch. Was ich hasste, war das System, die Regierung und im Zuge der immer weiter grassierenden Korruption der Verfall jeglicher Moral.

    Nein, dieses Land weigerte ich mich, als Heimat anzusehen, selbst den Ausdruck Wahlheimat wies ich strikt von mir. Ich würde nach Deutschland übersiedeln. Jetzt war es amtlich. Dennoch, nach so vielen Jahren im Ausland - langsam begann ich, das Wort China aus meinem Wortschatz zu verbannen -, sprach ich im Geiste eher von einer Auswanderung. Hinfort nahm ich mein Schicksal selbst in die Hand.

    Kapitel 2

    Nestsuche

    Während ich wieder einmal nachts in erregter Anspannung wachte und vor meinem geistigen Auge die jüngste Vergangenheit Revue passieren ließ, schmiedete ich Pläne, ängstlich um die unmittelbare Zukunft besorgt; und - ja, ich gestehe - ich erwog sogar in einem Moment der Beklommenheit selbstkritisch die Möglichkeit, einen Fehler zu begehen. Solch defätistisches Grübeln erstickte ich jedoch im Keim. Künftig galt es, den Blick auf morgen zu richten und entschlossen voranzugehen. Zwar blieb die exakte Richtung noch in Dunkelheit gehüllt, doch verhieß mir das Schicksal gewiss eine erhellende Inspiration.

    Natürlich hatte ich bereits mit Cindy diskutiert, welche Region als zukünftige Heimat in Frage kam. Sie kannte Deutschland, wenn auch nur von Urlaubsreisen. Dennoch vertrat sie eine klare Meinung, wohin es sie keineswegs zog. Hamburg und der gesamte Norden galten für sie vornehmlich aus klimatischen Gründen als tabu. Dort lebten zwar Freunde, die wir oft besuchten, doch bei jedem Schritt vor die Tür schlüpften sie in den ortsüblichen Friesennerz. Bei Sonnenschein hingegen erschien mir die Hansestadt als ein reizvoller Ort, namentlich der Alster gewann ich selbst bei Regen positive Aspekte ab. Nicht so meine Frau. Hamburg - und für sie umfasste der Terminus ein weites Gebiet, das im Norden bis zu den nordfriesischen Inseln reichte und im Süden das oberhessische Bergland umschloss, - bewertete sie als unattraktiv.

    Für Bayern hingegen empfand Cindy eine wachsende Sympathie. Sie liebte die Berge und die grünen Wiesen. Auch wenn sie mit der Region vor allem einen entspannenden Urlaub verband, den wir vor Jahren am Tegernsee verlebt hatten. Auch mir behagten die Gegend und der kernige Dialekt, doch schien mir das Land eher für Freizeit und Erholung geschaffen. Dort zu wohnen, mit einem solch befremdlichen Gedanken freundete ich mich nur widerwillig an. Hatte ich doch schon immer die Meinung vertreten: Wer im Ausland lebe, dem erscheine Deutschland als exotisches Reiseland; und Bayern, die Sprache, die Berge sowie all die Wiesen, Kühe, Weißwurst und Radi verkörperten für mich den Inbegriff von Exotik im Heimatland. Einen Ort, um Wurzeln zu schlagen, stellte ich mir anders vor.

    Geboren war ich in Mannheim - vor, wie mir inzwischen schien, hunderten von Jahren. Dort lebten noch einige Freunde und Verwandte von mir. Doch zumindest in einem stimmte ich mit meiner Frau überein: Wohnen in einer Stadt blieb genauso ausgeschlossen wie der Verbleib im chinesischen Mutterland. Uns schwebte eher ein ländliches Leben vor. Für mich der Ruhe wegen, für Cindy, damit ihre Katzen nicht unter die Räder kamen. Als ob auf dem Land kein Auto die Idylle störte! Worüber wir nur andeutungsweise diskutierten, war die Frage, wie in Zukunft unser Lebensunterhalt zu bestreiten sei. Sie hatte natürlich recht, das über Jahre gehortete Vermögen übertraf das einer Kirchenmaus. Je nachdem, welchen Preis wir für die Immobilie in Peking erzielten, konnte der Traum vom Leben eines Millionärs doch noch in Erfüllung gehen, zumindest annähernd und vor Abzug der Agentenkommission.

    Zudem stimmten wir überein: Eine Mietwohnung stand außer Frage. Wir benötigten ein Haus! Allerdings schränkten die Immobilienpreise in Deutschland diese Zukunftsträume gewaltig ein. Je nachdem, für welche Größe und Lage wir uns entschieden, verblieb hoffentlich ein Rest. Nur, um den Lebensunterhalt davon zu bestreiten, erwiese der sich auf Dauer als zu gering. Auch dieser Umstand sprach für eine ländliche Region. Dort galten nach Hörensagen Immobilien noch als halbwegs erschwingliche Investition, und mit ein wenig Glück erfüllte ich mir damit einen langgehegten Lebenswunsch. Möglicherweise redeten wir statt von einem Traum besser von einer Idee, womöglich von einer Schnapsidee, obgleich ich die schon seit Langem in mir trug.

    Dieser Lebenstraum, der mich seit Jahren erfüllte, galt der Gründung eines Restaurants, das sich allerdings von allen bekannten Formen landläufiger Gastronomie diametral unterscheiden sollte. Ich plante, eine absolute Marktlücke zu erschließen. Das bildete ich mir zumindest ein, zusammen mit tausenden anderen Betreibern ähnlicher Etablissements.

    Die Idee war vor vielen Jahren, noch in Peking, entstanden und stellte ursprünglich nur eine spielerische Überlegung dar. Damals sah ich mich keineswegs als Kneipier. Ein deutscher Freund haderte in jener Zeit mit dem Dasein als subalternes Firmensubjekt, dem Unternehmen, das ihm Beschäftigung und Auskommen bot, dem daraus resultierenden einförmigen Leben sowie dem kargen Salär, das vermeintlich einzig dem Geiz seines Arbeitgebers Ausdruck verlieh. Da seine chinesische Frau angeblich Erfahrungen in der Gastronomie besaß, rankten die Träume des Paars um eine zukünftige Existenz hinter der Theke eines eigenen Etablissements. Viele Jahre hielt ich die Idee für eine Flucht aus der Wirklichkeit. Die Vorstellungen, die sie mir beschrieben, schienen nur rudimentär durchdacht. Das Essen durfte einerseits nicht zu teuer sein, sonst mieden angeblich die einheimischen Gäste das Lokal. Für Ausländer musste dagegen unbedingt Pizza auf der Karte stehen. Unter Umständen benötigte man zudem regionale Kost. Die Schilderungen hallten mir noch deutlich im Ohr. Von einem konkreten Konzept weit entfernt und, das sei zu beider Entlastung festgestellt, meist spät abends nach einer Flasche Wein spontan artikuliert.

    Nach Monaten der Unentschlossenheit brach das Paar dann plötzlich in hektische Aktivitäten aus, suchte geeignete Räumlichkeiten und führte wochenlange Verhandlungen um einen Mietpreis, der ihre Kalkulation stets bei Weitem überstieg, die in unschöner Regelmäßigkeit allzeit im Sande verliefen. Wie viele Kneipen sahen wir uns gemeinsam an, wie viele der Konzepte zerriss ich in der Luft? In einer romantischen Pekinger Nebenstraße planten sie die Eröffnung eines Pizzarestaurants, obwohl im Umkreis von fünfhundert Metern in jedem zweiten Lokal Pizza auf der Karte stand. Zwar besaß die Gegend eindeutig Potenziale. Hier tobte Nacht für Nacht das Leben der Society. Doch schien mir die simple Kopie bestehender Strategien kaum Garant für geschäftlichen Erfolg in einem ohnehin umkämpften Markt. Ich riet dagegen zu einer Bar, die neben Austern und Champagner erlesene Häppchen aufzutischen verstand. Leute, die für Luxus Geld erübrigten, lebten in der Hauptstadt genug. Es fehlte nur die Verlockung eines entsprechenden Angebots. Aber das Paar ließ sich für den Vorschlag nicht erwärmen und beharrte auf deutsch-italienischer Kost.

    Durch die Freundschaft mit den beiden blieb ich über viele Jahre in das Thema Restaurantplanung involviert. Ideen dieser Art gedeihen bekanntlich stetig und nachhaltig im Kopf, bis der zarte Keim die Krume der Muttererde durchbricht.

    Ein zusätzliches Argument, das mir die Gastronomie als Grundlage einer Lebensplanung erscheinen ließ, leitete sich aus dem eigenen Appetit auf Gerichte aus der Heimat ab. Speziell in den ersten Jahren in China fand ich dort kaum westliche Restaurants; und die wenigen existierenden boten Speisen an, die mein Geschick als Hobbykoch bei Weitem übertraf. Noch in Deutschland hatte ich von Zeit zu Zeit selbst Regie an der Küchenzeile geführt, und wenn ein Mann die Kochkunst zelebriert, gilt das Ziel bekanntlich niemals der profanen Stillung bloßen Hungergefühls, sondern der Erfüllung ausgefallener Gaumenfreuden, der die gesamte Familie mit Ehrfurcht erliegt. An diese Tradition knüpfte ich in China wieder an und bekämpfte das kulinarische Heimweh am heimischen Herd. Und siehe da, unsere chinesischen Freunde fanden an meinen Kreationen Geschmack und drängten auf den nächsten Empfang.

    Jahre später, als in Peking vernünftige westliche Restaurants wie Pilze aus dem Boden schossen, hatte ich meinerseits schon viel zu große Freude am Kochen gefunden, um unseren rasant angewachsenen Freundeskreis, statt in den neu entstandenen Lokalen, bei uns zu Hause zu bewirten. Damit sah ich mich zur Herstellung edlerer Speisen gedrängt, die selbst in den besseren Etablissements auf der Karte fehlten. Kreativität war gefragt. Unter den Freunden fanden sich zwar keine Restaurantkritiker, die meisten galten eher als Gourmands denn als Gourmets, doch sollte sich ihr beständiges Lob nicht ausschließlich auf die freie Verköstigung beziehen, näherte ich mich zielstrebig dem ersten Stern. Allerdings vermute ich immer noch, ihr Lob ließ sich nur schwer von der Tatsache trennen, dass bei mir der Genuss in keinerlei Rechnung zu münden drohte. Weiterhin schloss mein Service Wein und Aperitifs ebenso mit ein wie die anschließenden Digestifs. Ein edles Menü fordert eben eine abrundende Krönung, die neben der Beförderung der Konversation am Esstisch in gleicher Weise der Verdauung dient. Wie oft schlief ich ermattet auf dem Sofa ein, während die Freunde gesättigt und zufrieden meine Schnapsvorräte plünderten?

    Ein zusätzlicher Aspekt weckte Hoffnung auf den Erfolg eines gastronomischen Experiments - eines vorerst geplanten, sollte ich korrigieren; denn das Projekt harrte bisher des Konsenses meiner Frau. Vor Jahren hatte Cindy noch eine Existenz als Fleischfresserin gefristet. Ihre Fähigkeit, mit fünfundvierzig Kilo Körpergewicht pfundweise Gebratenes zu verschlingen, um danach kein einziges Gramm mehr auf die Waage zu bringen, betrachtete jedermann als unbegreifliches Phänomen. Ich vermute, sie vertilgte in dieser Phase hinreichend Fleisch für ihr gesamtes Leben und jede nachfolgende Reinkarnation. Sodann entwickelte sie unversehens eine Tendenz zum Vegetariertum. Die Verwandlung vollzog sich just zu der Zeit, als die Katzen bei uns Einzug hielten und sich, solange eine Gegenmaßnahme unterblieb, ungehemmt zu vermehren pflegten. Mitleid mit der Kreatur diagnostizierte ich. Wobei Cindy jeglichen sonst üblichen missionarischen Eifer vermissen ließ; sie brachte keinerlei vegetarisch-motivierte Einwände vor, wenn ich weiterhin meine Steaks in der Küche briet.

    Dennoch spitzte die Lage sich zu und führte unsere gegenseitige Toleranz an eine Grenze, die durchaus Potenzial für einen Ehestreit bot. Ein saftiges Rindersteak in der Pfanne oder auf dem Grill in eine Köstlichkeit zu verwandeln, während sie schonungsvoll Gemüse dämpfte, beschwor zwar keine Gefahren für das häusliche Glück herauf, doch für eine einzige Person einen kompletten Braten zuzubereiten, empfand ich als verschwenderisch, besonders in Kanton, wo nur wenige Freunde ihren Appetit auf westliche Speisen bei uns stillten. Schließlich entdeckte sie zudem ausgerechnet das Veganertum. Daraus resultierte, dass fortan nicht nur Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte aus der Küche verschwanden, sondern des Weiteren jegliches tierische Produkt, wie Milch, Eier, Käse, Joghurt und all die Vielfalt feiner Ingredienzien, die meiner Meinung nach einer gesunden Ernährung erst die kulinarische Basis schufen. Aber wie gesagt, Cindy entfaltete nur in Ausnahmefällen missionarischen Geist und schritt niemals ein, wenn ich mich weiterhin fleischlichen Gelüsten verschrieb - sofern die sich aufs Essen bezogen.

    Allerdings hatte sich bei uns über die Jahre die Tradition eingespielt, dass am Wochenende ich die Regie in der Küche übernahm. Damit stand ich vor der Herausforderung, mit ausschließlich veganen Zutaten Köstlichkeiten hervorzuzaubern, deren Geschmacksfülle selbst einem knusprigen Schweinebraten gleichzukommen verstand. Eine Aufgabe, die mir zuweilen als unlösbar erschien. Zunächst experimentierte ich mit Tofu, der nur über wenig Eigengeschmack verfügt, allerdings die Eigenschaft besitzt, jedes nur denkbare Aroma aufzunehmen, wenn man ihn mit den jeweils geeignet erscheinenden Geschmacksmolekülen in Kontakt zu bringen weiß. Dieses, auch Bohnenkäse genannte Produkt vermochte beispielsweise durch gemeinsames Schmoren mit einem Rinderfilet einen opulenten, wunderbar harmonischen Fleischgeschmack anzunehmen, der mit frischen Kräutern gewürzt zu kulinarischen Gipfeln zu führen vermag. Doch ein solches geschmackssteigerndes Patent widersprach leider jeglichem veganen Prinzip.

    Also wandte ich dem Tofu bald den Rücken zu und konzentrierte mich auf andere, eher erfolgversprechende Komponenten wie Gemüse, Pilze und Früchte, die ich unter Verwendung fremdländischer Kräuter manch geschmacklicher Veränderung unterzog. Zudem experimentierte ich mit zahllosen Variationen von Polenta, Gnocchi, Maisbällchen, Bohnenküchlein, Reiscrêpes und immer exotischeren Ingredienzien. Und siehe da, auch ohne Fleisch und Fisch zauberte ich die leckersten Mahlzeiten auf den Tisch. Wenn ich mangels Alternativen hin und wieder verschämt ein Ei oder ein wenig Käse unter die Kreationen mischte, drückte Cindy oft ein Auge zu. Offensichtlich entschädigte der Geschmack für die kleinen Sünden, die sie mit dem Verzehr solcher Stoffe beging.

    Ich entwickelte mich in der Folge zwar nicht zum glaubensfesten Vegetarier oder gar Veganer, lernte jedoch, dass auch ohne Fleischgenuss eine Überlebenschance bestand und der ausschließliche Verzehr von Gemüse weder Krankheiten beförderte noch Mangelerscheinungen nach sich zog.

    Zudem entdeckte Cindy während eines Deutschlandurlaubs eine aufkommende Vegetarierwelle auch in diesem Land. Allerdings vorrangig in den Städten und selbst dort eher in kleinen Bistros. Auch in Hotelrestaurants tauchte zuweilen ein vegetarisches Gericht auf der Karte auf. Die sogenannten bürgerlichen Speiselokale ignorierten jedoch den Trend, obwohl er zweifellos existierte, wie unsere fleischfressenden deutschen Freunde versicherten. Jeder wies in seinem Bekanntenkreis inzwischen das eine oder andere Exemplar der Gattung Homo Vegetarius auf. Kurz, die Strategie für das zukünftige Überleben in Germanistan zielte auf die Eröffnung eines Vegetariertempels ab, der den Landsleuten hinlänglich bewies, dass auch fleischlose Gastronomie sich auf hohem Niveau zelebrieren ließ.

    Allerdings gelte ich erstens als Realist und vertrete zweitens trotz mancher Anfeindung im chinesischen Exil strikte Toleranz. So gestand ich meinem vegetarischen Edelrestaurant entweder für die gänzlich Unbelehrbaren oder für spontaneistische Wechselesser einige Fleischgerichte zu. Aber bitte keine Standardkost wie Schnitzel und Pommes oder Currywurst! Und selbst das Fleisch hatte sich dem gehobenen Ambiente unterzuordnen, und das keineswegs nur mittels umschreibender französischer Benennungen, sondern durch den ultimativen Kick in der Zubereitung des Mahls. Mir schwebten Köstlichkeiten vor - wie Entenbrust, mit Johannisbeergelee kandiert, oder Fisch, karibisch gegart, Wacholderbraten oder ein Krabbencocktail in einer Kokos-Ananassauce. Solche Gerichte lösten doch gewiss auch auf deutschen Gaumen Begeisterung aus und sicherten meinen Wunsch nach einer geregelten Alterspension.

    Nur ein winziges Problem stand der Idee entgegen: Die Vegetarier, auch die potenziellen, schienen das Leben in der Stadt vorzuziehen; uns hingegen zog es aufs Land. Zwar bot sich eine Ansiedelung auf dem Dorf in Kombination mit einer Arbeitsstätte in der City als theoretischer Ansatz an, doch schwebte mir eher ein gemütlichbeschauliches Landleben vor, das nur schwer mit einem hektischen Pendlerdasein in Einklang zu bringen schien. Meine Suche galt einem Ort, der mir ein trautes Heim versprach - namentlich in unmittelbarer Nähe des Restaurants und bevorzugt am Waldesrand mit Blick auf die Natur. Einen romantischen See vor der Tür akzeptierte ich als zusätzliches Kaufargument. Welch wunderbarer Traum!

    Und der harrte einer Verwirklichung, riss ich mich aus den müßigen Gedanken am Frühstückstisch, den ich an diesem Tag allein belegte. Die deutschen Kollegen eilten bereits zum Messestand. Ich hatte schon vor Monaten, lange bevor sich mein zukünftiger Status auch nur erahnen ließ, für diesen Freitag den Rückflug nach China gebucht, weshalb ich als entschuldigt galt. Die Rückkehr nach Fernost durfte allerdings erst erfolgen, wenn die Haus- und Restaurantsuche einen erfolgreichen Abschluss fand, daher ließ ich den Flug stornieren.

    Zuerst mietete ich am Bahnhof einen Wagen, dann fuhr ich gemächlich gen Süden. Ursprünglich schwebte mir ein Treffen mit den Mannheimer Freunden vor, doch die verfolgten für diesen Abend bereits andere Pläne, und so verschoben wir das Wiedersehen auf einen späteren Termin. Deshalb stellte der Rhein das heutige Ziel der Reise dar, Bacharach genauer gesagt. Dort plante ich, meinen alten Schulfreund Wolfgang zu besuchen.

    Nach einem Kaffee in seiner Wohnung, die er sich mit einer für ihn viel zu jungen Freundin teilte, schlenderten wir auf einem Spaziergang durch die Stadt - eher ein Dorf. Mit Cindy hatte ich den Ort schon einmal besucht. Allerdings im Winter, und bereits damals hatte das Dörfchen den Geruch des Untergangs verströmt. Jetzt, im September, hauchten die letzten Touristen in diesem Jahr dem Städtchen einen Rest Geschäftigkeit ein und brachten möglicherweise auch ein wenig Kapital, das den Hotels, Restaurants und Kneipen bis zum Frühling ein Überleben zu garantieren versprach, in den Ort. Wie unter einem inneren Zwang sah ich mich bei unserem Spaziergang nach „Zu verkaufen"-Schildern um. Beim vorangehenden Besuch hatte der gesamte Ort den Eindruck erweckt, als stünde er günstig zur Veräußerung. Auch heute suchte man hier das blühende Leben am romantischen Fluss vergebens. Die fehlende gemütvolle Stimmung ging indessen zum Großteil auf das Konto der Bundesbahn. Zwischen der zugegebenermaßen idyllischen, malerisch überdachten Promenade auf der historischen Stadtmauer um den Ortskern herum und dem von dort sichtbaren schönsten Teil des Mittelrheins verlief in kaum zwanzig Meter Entfernung eine viel befahrene Trasse der Bahn. Der stete Durchfluss von Güterzügen, ICEs und zwei Nahverkehrsverbünden, der jede Konversation um gefühlte drei Minuten unterbrach, ebbte einzig in den Nachtstunden kurzzeitig ab und hatte somit etlichen Hotels, die auf der Stadtmauer mit dem Rheinblick warben, den Lebensnerv durchtrennt. Zwar luden einige wenige unerschütterliche Terrassenrestaurants und Kaffees noch immer zum Verweilen ein, doch so ein in nächster Nähe vorbeiratternder Güterzug versperrte nicht nur die Aussicht auf den Fluss, sondern erstickte auch jegliches romantische Gefühl im Keim, womit Bacharach dem Ort meiner Träume diametral widersprach.

    Am Abend verlor ich mich mit Wolfgang und einer Flasche Whisky in Erinnerungen an unsere glorreiche Jugendzeit. Nur zaghaft und eher nebenbei deutete ich ihm meine verwegenen Zukunftspläne an, erntete dafür aber nur den frechen Spruch: Wer nichts wird, wird Wirt. Danke für dein Einfühlungsvermögen, lieber Freund.

    Am folgenden Tag erreichte ich noch vor der Mittagszeit die Stätte meiner Geburt. In einer Lage, die mir berechtigte Hoffnung auf einen Parkplatz versprach, nahm ich mir ein Zimmer in einem kleinen Hotel und machte mich voller Tatendrang zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Unterwegs erwarb ich das komplette journalistische Angebot der Region und hielt, wie tags zuvor, Ausschau nach Verkaufsangebots-Schildern im Straßenbild. Zu Mittag aß ich in einem vegetarischen Restaurant, das sich zu spät als Thaiküche entpuppte. Während das Essen leider die typische Schärfe vermissen ließ, versuchte es stattdessen mit exotischen Zutaten zu punkten. Allerdings konzentrierte ich mich bei der Nahrungsaufnahme ohnehin weniger auf das Speisenangebot als auf den Immobilienteil des Presseangebots und strich einige vielversprechende Annoncen an.

    Siegesgewiss stieg ich in den Wagen und machte mich mit Hilfe eines Stadtplans auf den Weg. Im Land der Väter, zumal in meiner Heimatstadt, schien mir der Verzicht auf ein Navigationsgerät nur naheliegend.

    Das erste Objekt fand ich in einem sichtlich heruntergekommenen Außenbezirk - handelte es sich dabei tatsächlich um meine einst geliebte Heimatstadt? - zwischen einem Gewerbe- und einem Wohngebiet. Sämtliche Faktoren: Lage, Ambiente und zu erwartende Klientel, wies den Ort für meine Pläne als gänzlich ungeeignet aus.

    Das nächste lag etwas außerhalb. Bei der Anfahrt schöpfte ich bereits Hoffnung, das letzte Stück der reparaturbedürftigen Straße führe mich direkt ans Herz von Mutter Natur. Doch unweit dahinter lag eine Nebenstrecke der Bahn und danach eine Schnellstraße, die ein Industriegebiet mit der City verband. Das angebotene Objekt fungierte als Vereinslokal des örtlichen Schützenvereins, zusammen mit einem Schießstand und, wer weiß, womöglich auch reichlich vor Ort gelagerter Waffen und Munition, das mir eindeutig zu martialisch erschien. Wer suchte einen derart abgelegenen Flecken Erde in der Suche nach kulinarischen Köstlichkeiten auf?

    Bei Nummer drei hielt ich zum genaueren Augenschein nicht einmal den Mietwagen an. Es handelte sich um eine überdimensionierte Würstchenbude. Der hatte die Nachbarschaft zu einer dort errichteten McDonald’s-Filiale offenbar den Garaus gemacht.

    Auch dem letzten Objekt auf der Liste ermangelte es an Überzeugungskraft. Die innerstädtische Lage in Schwetzingen versprach zwar im Gegensatz zu Mannheim grundsätzlich mehr Ruhe, doch von Natur fand sich an der vermeintlichen Stätte der Gastlichkeit leider weit und breit keine Spur, außer einer einsamen Eiche im Hof, unter der sich im Sommer eine Nahrungsaufnahme erbot. Der Garten bildete denn auch ein Element, das mich für einen Augenblick innehalten ließ. Dennoch stellte ich unschwer fest, dass das Lokal der Mehrzahl der Suchkriterien widersprach.

    Zurück im Hotel nahm ich mir die Gelben Seiten vor und suchte Telefonnummern von Immobilienmaklern heraus. Da sich offensichtlich keiner auf vegane Restaurants im ländlichen Raum spezialisierte, notierte ich Nummern von Maklern, deren Büros an vegetarischkulinarisch zukunftsträchtigen Orten lagen. Ortskenntnis und gastronomischen Sachverstand setzte ich dabei voraus. Ein Anruf konnte ohnehin erst am Montag erfolgen.

    Danach machte ich mich zum Treffen mit den Freunden auf den Weg. Erwartungsgemäß hörte ich auch hier wieder den diffamierenden Spruch vom Wirt, der mein Streben als Verzweiflungstat erscheinen ließ. Immerhin schloss der Mannheimer Bekanntenkreis eine vernünftige Unterhaltung über Restaurants und Speisen, selbst aus der vegetarischen Rubrik, nicht gänzlich aus. Zumindest standen sie dem Thema offener gegenüber als Wolfgang, der als Jazzmusiker einer Zunft angehörte, von deren Mitgliedern man spöttisch sagte, dass, wenn man einen fragt, ob er bereits gegessen habe, er antwortet: „Oh ja, schon oft!" In den Mienen der Freunde vermeinte ich immerhin, verhaltene Zustimmung zu meinen Plänen zu erkennen. Oder resultierte das Gefühl aus Mitleid mit einem Trottel, der sich zu derartigen Ideen verstieg, möglicherweise auch der zunehmend einsetzenden Wirkung des Weins?

    Am nächsten Tag leitete ich eine Blindsuche ein. Stellte unser Ziel denn nicht die ländliche Idylle dar? Dann nahm ich die Spurensuche in solchen Regionen auf. Ich lenkte den Wagen Richtung Weinheim und von dort in den Odenwald hinein. Bei jeder Dorfkneipe ging ich vom Gas. Die fanden sich zwar in jedem Kaff in beträchtlicher Zahl allerdings in der Regel an der Hauptstraße aufgereiht, wodurch es den Lokalitäten an jeglicher Romantik gebrach. Wo fand sich das Restaurant, das meine Träume beflügelte, mir die glorreiche gastronomische Zukunft verhieß? Gebot sich eine Fahrt über Feld- und Waldwege, einzig in der Hoffnung, ein verzweifelter Wirt halte mich an und biete mir seine Wiesen-, Jägerstube, oder wie sonst hier die Kneipen hießen, zum Spottpreis an?

    Zwar existierten auch Gasthöfe abseits der Straße und einige sogar außerhalb eines Dorfs. Dann wiesen meist Schilder am Straßenrand auf die Lokalitäten hin. Ich neigte jedes Mal dazu abzubiegen, um das Objekt eines eingehenden Studiums zu unterziehen. Allerdings bezweifelte ich, dass eine direkte Bitte an den Wirt, mir die Kneipe zu übereignen, sich als erfolgversprechende Strategie erweisen würde.

    Zwei Stunden später trieb einsetzende Hoffnungslosigkeit mich zu einem solchen Versuch. Außerdem forderte der Hunger Verzweiflungstaten heraus. Also bog ich auf einen Parkplatz neben der Landstraße ab. Das Gebäude, das meine Aufmerksamkeit erregte, wirkte wie ein Überbleibsel aus der Vergangenheit und hatte offensichtlich einst als Bauernhaus oder Gutshof gedient. Lage und Haus sprachen einen Nerv in mir an, und der nächste Waldrand lag kaum einhundert Meter entfernt. Als ich jedoch die Gaststube betrat, ereilte mich die niederschmetternde Erkenntnis: Hier blieb mir ein Zugang zur Gastronomie verwehrt.

    Traditionell Unmengen an Fleischmassen vertilgende Gourmands füllten als Gäste den Raum, und selbst im Nebenzimmer ergatterte ich eben noch einen Platz am Katzentisch. Alle stopften Braten, dazu Berge von Kartoffeln und Knödeln in den Mund. Einige fielen schon über den sahnetriefenden Nachtisch her. Zumindest am Sonntag dürfte das Lokal die reine Goldgrube sein. Wenn der Wirt nicht an Fleischüberkonsum-bedingter Gehirnerweichung litt, dachte er keineswegs an einen Verkauf. Das Essen erwies sich als schmackhafte, der bäuerlichen Tradition verpflichtete Kost, jedoch von vegetarischen, oder gar veganen Tendenzen, meilenweit entfernt. Selbst das Gemüse hatte der Koch mit Speck und Sahnesauce, was den Kaloriengehalt betraf, in ein kulinarisches Monster zu verwandeln vermocht. Cindy hätte sich die Haare gerauft.

    Mit dem Verzehr ließ ich mir Zeit, was mir angesichts der schweren Zutaten dringend angeraten schien. Als sich der Saal allmählich leerte, schritt ich zur Theke, bestellte einen Kaffee und bot Bezahlung an. Dabei bemühte ich mich, mit dem Mann, der die Gläser spülte und sich damit als Wirt identifizierte, in ein Gespräch zu kommen. Mittels der

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