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House of Companions: Schicksal
House of Companions: Schicksal
House of Companions: Schicksal
eBook412 Seiten5 Stunden

House of Companions: Schicksal

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Über dieses E-Book

Stell dir vor, dein Name brennt sich vor deiner Geburt auf deinem Körper ein. Stell dir vor, der Beruf, in dem du arbeiten wirst, steht schon fest, bevor du überhaupt selbst denken kannst. Stell dir vor, dein Schicksal ist vorbestimmt, bevor du das erste Mal deine Mutter siehst.

Katinka ist die Tochter eines Jägers und lebt außerhalb der Stadt Valliant. Schon seit ihrer Geburt steht fest, dass sie eine Geliebte wird: Die angesehene Frau eines hochrangigen Gesellschaftsmitglieds. An ihrem 15. Geburtstag wird sie in das Haus der Geliebten gebracht und tritt dort ihre Ausbildung an. Mit ihren Freunden Evangelista und Raphael schließt sie einen Pakt: Für die Dauer der Ausbildung halten sie einander den Rücken frei und bewahren die Geheimnisse des jeweils anderen. Doch schon an ihrem ersten Tag erfährt Katinka von einem schrecklichen Geheimnis, das diesen Pakt auf eine harte Probe stellt. Kann sie es riskieren, ihre Freunde in Gefahr zu bringen oder vertraut sie auf ihre Freundschaft?
SpracheDeutsch
HerausgeberTalawah Verlag
Erscheinungsdatum10. Dez. 2019
ISBN9783947550401
House of Companions: Schicksal

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    Buchvorschau

    House of Companions - Ann-Kathrin Karschnick

    lassen.

    In Valliant gab es viele Menschen, doch nur sehr wenige lebten im Frostwald außerhalb der Stadt. Sie arbeiteten als Jäger, Förster oder als Bauern auf den Feldern. Es war ein einfaches Leben, eines, mit dem ich mich schon vor langer Zeit angefreundet hatte. Es war das Leben einer Jägerstochter. Doch mein Schicksal war ein anderes. Eines, das durch das Körperteil bestimmt wurde, auf dem mein Name bei meiner Geburt stand.

    Mein Name war Katinka und er war knapp unter meinem Bauch in meine Haut gebrannt. Ich würde eine Geliebte werden.

    Die Namensgeber hatten es so entschieden. Sie allein legten fest, wer welchen Beruf erlernte und welchen Namen ein Kind in Valliant und Umgebung erhielt. Nun, genau genommen war es das Verfahren der Gendefinition, das diese Zukunft für ein jedes Neugeborenes festlegte. Schon im Mutterleib wurden die Gene eines Fötus durch dieses Verfahren untersucht. Es war ein Automatismus. Sobald die Schwangerschaft festgestellt wurde, erhielt man die nötige Therapie.

    Stellte das Verfahren fest, dass jemand gut anpacken konnte, wurde der Name des Kindes auf den Rücken gebrannt, und am Tage seiner Geburt stand sein Schicksal fest.

    Und es gab die Geliebten. So wie mich. Der Name stand im Schambereich der Jungen und Mädchen. Es war eine hoch angesehene Stellung, denn Geliebte waren die öffentlichen Vertrauten von wichtigen Politikern, den Namensgebern oder aber angesehenen Wissenschaftlern. Ich hatte schon früh erfahren, dass es mein Schicksal sein würde, einem oder mehreren Männern zur Seite zu stehen, um ihnen Beistand in schweren Zeiten zu leisten, einen Rat zu erteilen oder ihre Vertraute zu sein, wenn sie es am meisten benötigten.

    Diese Ordnung bestand seit Generationen und hatte eine Gesellschaft des Wohlstands aufgebaut. Eine, in der ich aufgewachsen war und zu der ich endlich meinen Teil beitragen konnte.

    Ab morgen.

    Denn morgen war mein 15. Geburtstag. Ich würde den Wald verlassen und meine Ausbildung im Haus der Geliebten in Valliant beginnen.

    Ein Tag, den ich schon seit Jahren ebenso freudig erwartete, wie ihn fürchtete. Es war der Tag, an dem ich meine Eltern und den Wald zurücklassen würde. In den wenigsten Fällen kehrten die Kinder zu ihren Familien zurück. Flemming, mein bester Freund aus Kindertagen, war bereits vor zwei Jahren zu den Wissenschaftlern gegangen. Jetzt blieb mir nur noch mein kleiner Bruder Tristan, mit dem ich mich beschäftigen konnte. Er war sieben Jahre jünger als ich und nicht halb so amüsant wie Flemming. Deswegen verbrachte ich die meiste Zeit allein im Wald. Der Wald wollte nicht mit mir spielen, der Wald jammerte nicht, wenn ich ihm beim Klettern die Rinde abschürfte, der Wald redete nicht ununterbrochen davon, wie das Leben in der Stadt wohl wäre.

    Der Wald war einfach nur mein Freund. Er hielt mich in seiner grünblättrigen Umarmung, gab mir Schutz vor der stechenden Sonne im Sommer und zeigte mir immer neue Tiere, mit denen ich um die Wette laufen konnte. Der Frostwald war seit zwei Jahren mein bester Freund, auch wenn Tristan das nicht wahrhaben wollte.

    Auch in diesem Augenblick lag ich unter einer gigantischen Eiche auf einer Lichtung. Um mich herum blühten die Schneeglöckchen, zeigten mir die ersten Ausläufer des Frühlings. Das Gras strich an meinen nackten Beinen entlang, als der Wind hindurchjagte, als wollte er mir sagen: Gewöhn dich schon mal an die Berührung. Ab morgen wirst du es häufiger spüren.

    Ich dankte dem Wind dafür, dass er mich daran erinnerte. Schon seit zwei Stunden lag ich auf dem Rücken und beobachtete die Vögel, die über mir ein Nest bauten. Sie flogen ohne Unterlass hin und her, schleppten Zweige und Blätter heran, um sich ein Zuhause zu bauen.

    Das würde mir ebenfalls bevorstehen. Ein neues Zuhause aufzubauen. Eines, in dem ich Freunde und meine Berufung finden würde. Eines, in dem ich keinen Gedanken mehr an meine Vergangenheit, meine Kindheit verschwenden durfte.

    Das war das einzige, was mich wirklich daran störte, fortzugehen. Meine Eltern zurückzulassen war etwas, das ich mir nie hatte vorstellen können. Seit beinahe 15 Jahren lebte ich tagein, tagaus mit ihnen.

    Ich strich über die Blüten einer sich öffnenden Blüte. Sie reckte sich mir entgegen, so wie meine Mutter mir immer die Hand gereicht hatte, wenn ich gestürzt war. Das Gras unter meinem Rücken hielt mich so fest wie mein Vater, wenn er mir eine seiner Geschichten erzählte.

    Alles in diesem Wald erinnerte mich daran, dass ich nicht gehen sollte, und gleichzeitig vertrieb er mich, weil er genau wusste, was passieren würde, wenn ich es nicht tat.

    Die Namensgeber würden ihre Bediensteten losschicken, um mich abzuholen. Sie würden mich zum Haus der Geliebten geleiten, damit ich meinen ersten Tag nicht verpasste.

    Wie neidisch war ich gewesen, als zwei Frauen Flemming damals abgeholt und zu ihrem Wagen begleitet hatten. Keiner aus dem Frostwald hatte sich das Ereignis entgehen lassen. Flemming war seit fast zehn Jahren das erste Kind gewesen, das abgeholt worden war.

    Ich hatte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange gegeben, ihm gewunken und eine heimliche Träne weggewischt, als er eingestiegen war. Die Scheiben waren verdunkelt gewesen, sodass ich ihn nicht mehr hatte sehen können, als die Tür sich geschlossen hatte. Das lag bereits zwei Jahre und vier Monate zurück. Kein Brief, keine Nachricht, kein Besuch.

    Flemming war tief in seine Aufgabe eingetaucht. Ebenso wie es mir bevorstand. Ein freudiges Kribbeln glitt durch meinen Bauch, als ich daran dachte, was mich im Haus der Geliebten erwartete.

    Vor fast fünf Jahren, an meinem zehnten Geburtstag, war es mir für einen Tag erlaubt worden, das Haus zu besuchen. Ich war vom obersten Geliebten untersucht und meine Reinheit festgestellt worden. Danach hatte ich mir das beeindruckende Haus anschauen dürfen. Eine Frau namens Dalkea hatte mich herumgeführt und mir alle Räume im Erdgeschoss gezeigt. Ich hatte mit den Neulingen gespeist, mich mit ihnen unterhalten und Fragen stellen dürfen.

    Viele von ihnen waren vom Haus der Geliebten ebenso fasziniert gewesen wie ich, hatten sich ihr Leben lang darauf gefreut, nicht einen Hauch des Zweifels gezeigt.

    Ein wenig bewunderte ich sie noch heute für diese felsenfeste Überzeugung, denn auch wenn ich mich auf das Haus der Geliebten freute, war es nicht mein innigster Wunsch, dort für immer zu leben. Ich wollte die Welt erkunden, wollte wissen, was jenseits des Frostwaldes lag, und am Ende jeder Reise wieder zu meinen Eltern zurückkehren. Valliant war eine gigantische Stadt mit Wolkenkratzern und Unternehmen, mit gesicherter Versorgung. Sie stand unter dem Schutz der Namensgeber. Keiner der Einwohner musste Hunger leiden, jeder erhielt Kleidung und die Gesellschaft lebte friedlich.

    Und doch fragte ich mich, ob es nicht noch mehr außerhalb der Grenzen von Valliant gab.

    Als ich meine Mutter einmal gefragt hatte, warum an den Grenzstraßen die Bauchnamen patrouillierten, die Krieger von Valliant, hatte sie nur gesagt: Zu unserer Sicherheit.

    Einige Wochen später hatte ich sie gefragt, warum wir denn Schutz bräuchten, wenn es doch niemanden mehr gäbe außer uns und unserer Stadt.

    Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und mir die rotblonden, kurzgeschnittenen Locken aus dem Gesicht gestrichen. „Du wirst einmal eine neugierige Geliebte werden. Ich möchte nicht der Mann sein, der dich auswählt." Sie hatte mir dann zugezwinkert und war wieder an die Arbeit gegangen. Die Frage hatte sie mir nie beantwortet. Meine Mutter war ein Rückenname. Sie arbeitete gemeinsam mit meinem Vater als Jägerin. Wobei ihre Aufgabe meist darin bestand, die Tiere auszuweiden und im Anschluss auf dem Markt zu verkaufen.

    Eine Wolke zog über den frühlingsblauen Himmel und erinnerte mich daran, dass auch ich Aufgaben im Haushalt zu erledigen hatte. Auch wenn es mein letzter Tag als Kind war, musste ich meiner Mutter helfen, die erlegten Tiere meines Vaters auszunehmen.

    Ich erhob mich und schlenderte von Baum zu Baum. Von jedem einzelnen verabschiedete ich mich, bedankte mich für die traumhafte Kindheit und entschuldigte mich für alles, was ich dem Baum jeweils angetan hatte.

    Von einigen Sträuchern pflückte ich noch Beeren. Mutter liebte Beeren. Vielleicht konnte ich sie damit milde stimmen. Immerhin hatte ich sie mehrere Stunden mit der Arbeit alleingelassen.

    Während ich den Strauch aberntete, dachte ich an den kommenden Sommer. Es hieß, dass er einer der heißesten seit Aufzeichnung der Wetterdaten werden würde.

    Das milde Klima während des Winters und Herbstes in Valliant sorgte dafür, dass die Pflanzen im beginnenden Frühling austrieben und den heißen Sommer über pausierten.

    Ich klappte mein weißes Hemd nach oben und sammelte darin die Beeren. Auf dem Weg durch das Unterholz naschte ich schon einige der saftigen Früchte.

    Einer Familie Waschbären, die am nahegelegenen Fluss lebten, warf ich eine Handvoll hin. Sofort machten sich die Tiere darüber her. Die Tiere des Frostwaldes kannten mich seit meiner Geburt und wussten, dass ich ihnen nichts tun würde. Ich seufzte. Mir würde die Nähe zur Natur fehlen. Wenigstens gab es im Haus der Geliebten einen weitläufigen Garten. Meist wurde er von den männlichen Geliebten benutzt, um dort Sport zu betreiben, aber auch die Frauen durften darin spazieren gehen und an den Sportstunden teilnehmen.

    Ich wusste jetzt schon, dass ich mich häufig dort aufhalten würde. Es war nicht der Frostwald, aber wenigstens grün.

    Am Waldrand tauchte unser Haus auf. Eine einfache Holzhütte mit vier Räumen. Das fließende Wasser in unserer weitläufigen Siedlung war ein Luxus, den sich meine Eltern kurz nach meiner Geburt geleistet hatten. Bis dahin, so sagte Mutter immer, hatten sie den Brunnen oder den Fluss genutzt. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie anstrengend es gewesen sein musste, für jedes Gericht, jedes Putzen und jede Wäsche erst Wasser zu holen.

    Direkt hinter der Hütte tobte Tristan. Kaum erkannte er mich, rannte er wie ein Blitz auf mich zu. Sein Name war auf seinen rechten Unterschenkel gebrannt. Er würde als Läufer oder Bote für die Wissenschaftler arbeiten. Seine einzige Aufgabe bis dahin lautete, immer schneller zu werden. Denn je schneller einer der Beinnamen war, desto angesehener war er in seinem Beruf.

    „Katinka, du hast das Mittagessen verpasst", prustete er mir entgegen, bevor er vor mir zum Stehen kam. Er ergriff meine Hand und zog mich weg vom Wald und weiter in Richtung unserer Hütte. Mutter stand davor und hängte ein paar Kaninchenfelle auf, die sie vermutlich eben gerade abgezogen hatte.

    „Im Wald vergisst man die Zeit", antwortete ich geistesabwesend. Mir wurde bewusst, dass ich auch meinen kleinen Bruder heute zum letzten Mal für lange Zeit sah. Er war nervig, er mischte sich in alles ein und ich konnte nur vor ihm fliehen, wenn ich mich davonschlich, aber er war mein Bruder. Er gehörte ebenso zu mir wie meine Mutter und mein Vater. Wir waren eine Familie.

    Ich presste die Lippen zusammen bei dem Gedanken daran, morgen um diese Zeit bereits nicht mehr mit ihnen speisen zu können. Warum hatte ich nur die Stunden im Wald zugebracht, statt sie mit ihnen zu verbringen?

    „Tristan, lass deine Schwester los. Sie ist alt genug, um selbstständig zu laufen. Mutter hob die Wanne mit den Fellen an und ging ein paar Schritte beiseite, um die nächste Leine zu benutzen. „Und du, Katinka, komm her. Wir haben noch einiges zu tun bis morgen.

    Ich trat an ihre Seite, ließ die Beeren neben ihre Wanne purzeln, stieß Tristan von mir, damit er wieder spielen gehen konnte, und hob eines der Felle an, sodass Mutter es befestigen konnte. Wir arbeiteten stumm und im Einklang nebeneinander. Es war die Art von Routine, die sich ergab, wenn man jahrelang zusammenarbeitete.

    Als Tristan hinter der Hütte verschwunden war und alle Felle hingen, drehte Mutter sich zu mir. Ihre graublauen Augen wirkten auf einmal wie ein Fels, der schon seit Jahrhunderten den Gezeiten standhielt und nun das erste Mal merkte, dass auch die Gezeiten geduldig darin waren, Teile von ihm abzutragen.

    Sie griff nach meiner Hand und führte mich zu der Bank direkt vor dem Haus. Vater hatte sie vor Jahren zusammen mit einem Holzfäller aus der Nachbarschaft gebaut. Ich liebte die Bank, ihre verspielten Formen und Schnörkel an den Kanten. Vater hatte damals den Kopf eines Bären in monatelanger Kleinstarbeit in die Rückenlehne eingearbeitet. Man konnte sein weit aufgerissenes Maul und jede einzelne Fellsträhne erkennen. Beinahe so, als ob er einen echten Bären im Holz gefangen hätte. Wenn ich auf der Bank saß, konnte ich außerdem mit dem Zeigefinger über die Lehne fahren und den Fellzeichnungen und dem Geweih eines Hirsches folgen. Sie bildeten den Abschluss der Lehne und waren nicht weniger detailreich als der Bärenkopf.

    „Was ist denn?, fragte ich. Dabei wusste ich längst, dass Mutter eine Art von Traurigkeit überfallen hatte. Sie verbarg sich in den Lachfalten in ihren Augenwinkeln, in dem Zucken ihrer Mundwinkel und in den wenigen Momenten, die sie den Kopf hängen ließ. „Warum bist du so traurig? Die Frage hatte ich bisher nicht zu stellen gewagt, denn ich war mir sicher, dass sie sie nicht beantwortet hätte. Nun aber waren wir unter uns.

    „Katinka, du verlässt uns. Glaubst du nicht, dass mich das traurig stimmt?", antwortete sie und ergriff meine Hand.

    Ich presste meine Lippen zusammen, reagierte nicht. Wenn Mutter eine Frage mit einer Frage beantwortete, hatte sie ihre Antwort meistens noch nicht beendet.

    Sie griff mit einer Hand unter ihre Schürze und zog ein Päckchen hervor. Es passte in ihre Handfläche und war mit einem weißen Geschenkpapier eingeschlagen. Darauf stand in wunderschöner Handschrift mein Name.

    „Aber mein Geburtstag ist doch erst morgen", wunderte ich mich. Meine Familie war nicht arm, aber wir hatten auch kein Geld, um uns zwischendurch Geschenke zu machen.

    Mutter legte das Paket in meine Hände. „Ich will auch nicht, dass du es heute öffnest. Sie schloss meine Hände darum. Das Papier war seidig weich und streichelte meine Haut. „Wenn du morgen in das Haus der Geliebten gehst, wirst du deine neue Familie kennenlernen. Du wirst viele neue Dinge erfahren und sicher auch das ein oder andere Mal an uns denken. Deine alte Familie.

    Ich öffnete meinen Mund, wollte protestieren, ihr sagen, dass ich sie nie als meine alte Familie ansehen würde. Doch sie hob eine Hand und brachte mich damit zum Schweigen. „Ich weiß, dass es so ist, also versuch es mir gar nicht erst auszureden. Sie tätschelte wieder meinen Handrücken. „Dieses Päckchen ist für den Moment, in dem du dir wünschst, wieder bei uns zu sein, und es nicht sein kannst. Der Moment, in dem der Wunsch nach uns am stärksten ist und du ihm doch nicht nachgeben darfst. Oder wenn du glaubst, du kannst nicht mehr weitermachen und musst es doch.

    „Ich verstehe das nicht, Mutter. Mir ist es vorherbestimmt, eine Geliebte zu sein. Es ist mein Schicksal. Wieso sollte ich mit etwas hadern, was das Verfahren schon seit dem Tag meines Entstehens in mir sieht?"

    „Weil du meine Tochter bist, Katinka. Und auch wenn ich wünschte, ich wäre das ein oder andere Mal etwas strenger zu dir gewesen, hast du einen eigenen Kopf entwickelt. Du bist ein Wildfang und das weißt du. Mutter schmunzelte und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Die Wahrscheinlichkeit, dass du Heimweh nach dem Frostwald bekommen wirst, ist also grenzenlos hoch.

    Meine Finger waren immer noch fest um das kleine Päckchen geschlossen. Es war wie ein kleiner Anker. Ich konnte mich daran festhalten. „In Ordnung. Bei diesen Worten lächelte ich sie an. „Aber du weißt schon, dass ich fürchterlich neugierig bin, oder? Ich mochte es nicht, wenn meine Mutter traurig war. Ein Lächeln half ihr normalerweise immer aus dieser Traurigkeit heraus, doch diesmal blieb ihre Miene unbewegt und brach nicht auf. Sie packte erneut meine Finger und fesselte meinen Blick an ihren.

    „Versprich mir, dass du es erst öffnest, wenn du wirklich nicht mehr weißt, was du tun sollst. Wenn dich die Zweifel überrollen und wie ein Berg auf dir liegen. Erst dann darfst du es öffnen, hast du verstanden?"

    „Ist alles in Ordnung, Mutter? Ich zog meine Augenbrauen zusammen, spürte, wie sie sich fast über meiner Nasenwurzel trafen. „Du bist so ernst.

    „Versprich es mir!", forderte sie erneut und noch intensiver als zuvor.

    Ich nickte, löste meine Finger von ihren und verstaute das Päckchen in der Tasche meiner Weste. „Ich verspreche es dir."

    Erleichterung zeigte sich im Gesicht meiner Mutter und befreite ihre Züge von der Traurigkeit. „Danke."

    Dieses eine Wort brachte mich mehr durcheinander als alles, was ich in den letzten Wochen an ihr beobachtet hatte. Die Traurigkeit hatte ich akzeptiert, auch die Momente, in denen sie mich ansah, als ob sie mich im Wald verstecken wollte. Aber die Erleichterung in diesem einen Wort war mehr, als ich verarbeiten konnte. Warum hatte sie solch eine Angst davor, dass ich meine Familie vermissen könnte?

    Ich erwachte mit einem aufgeregten Kribbeln im Bauch. Der Art von Kribbeln, die einen sofort aus dem Bett trieb. Es gab kein Halten mehr. Die Neugierde auf den Tag war zu groß, um ihn im Bett zu verbringen. Sie schmeckte nach frischen Pfannkuchen, die es immer zu meinem Geburtstag gab, roch nach den Blumen, die Mutter zum freudigen Tag frisch gepflückt und auf den Tisch gestellt hatte.

    Diese Neugierde war jedoch nichts gegen jene, die mich noch erwartete. Im Laufe des Tages würden die Helfer der Namensgeber eintreffen und mich mitnehmen. Da ich nicht die einzige war, die an diesem Tag Geburtstag hatte, mussten die Helfer eine gewisse Liste abarbeiten, ehe sie zu mir kamen. Niemand konnte sagen, ob er als erster oder als letzter eingesammelt werden würde. Der Sohn vom Förster war seinerzeit noch vor Sonnenaufgang abgeholt worden, während Flemming den Großteil des Tages mit mir verbracht hatte, ehe der Transporter ihn in die Stadt begleitet hatte.

    Noch im Nachthemd rannte ich vom Schlafzimmer in die Küche. Dort saßen Mutter und Vater bereits am Tisch und lächelten mir entgegen.

    „Das Geburtstagskind hat sich aus den Federn getraut. Mein Vater brachte den Spruch jedes Mal, wenn mein Geburtstag anstand. Ich wusste genau, was als nächstes kam, und sprach es in Gedanken mit. „Es wird im Alter nicht besser mit dem Schlafen, also gewöhn dich schon mal daran.

    Ich lief zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ebenso meiner Mutter. „Guten Morgen."

    „Heute ist ein großer Tag!" Vater erhob sich und kam auf mich zu. Seine beinahe zwei Meter große, bärtige Gestalt hatte früher einigen Kindern aus der Nachbarschaft Angst eingeflößt, dabei war er der sanfteste Mensch, den ich kannte. Trotz seiner Größe schlich er wie eine Raubkatze durch den Wald, begegnete den Tieren stets mit Respekt und verhielt sich genauso den Menschen gegenüber.

    „Hast du deine Sachen schon gepackt?", fragte er und schmunzelte.

    „Schon vor Wochen. Das weißt du doch. Du hast mir die Taschen besorgt, in denen ich alles verstauen konnte."

    „Dann solltest du vielleicht überlegen, noch eine neue Tasche zu organisieren oder etwas von deinen eingepackten Klamotten wieder auszupacken." Er griff hinter den Kamin, der neben der Sitzecke der Küche stand, und brachte ein großes Paket zum Vorschein.

    Noch ein Geschenk?, fragte ich mich.

    Verwirrt blickte ich zu Mutter, doch sie schüttelte nur den Kopf. Anscheinend wusste Vater nichts von dem kleinen Päckchen vom Vortag. Es würde unser kleines Geheimnis bleiben.

    Ich konzentrierte mich wieder auf das Paket, das er mir hinhielt. Es war nicht leicht, aber auch nicht schwer genug für etwas Technisches. Ich schüttelte es einmal. Keine Geräusche zu hören.

    „Darf ich es auspacken?" Ich stellte die Frage jedes Mal und kannte die Antwort daher schon.

    „Erst wird gefrühstückt. Ohne ordentliche Nahrung im Körper kann man einen Tag nicht angehen", sagte Mutter und schob mir einen Teller mit Pfannkuchen, geschmierten Broten und etwas Obst hin.

    Ich verzog den Mund. „Ich bin inzwischen alt genug, um zu verstehen, dass ihr mir nur beizubringen versucht, nicht so neugierig zu sein. Ich warf mich auf meinen Stuhl und griff nach der ersten Brothälfte. „Und ihr solltet inzwischen verstanden haben, dass ich das vermutlich nie ablegen werde. Ich zwinkerte Mutter und Vater zu, während sie sich zu mir setzten. Auch Tristan kam aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer angeschlichen und schleppte sich zu einem Stuhl. Er war der schnellste Achtjährige, den ich kannte, aber morgens war er so behäbig wie ein Stein.

    „Guten Morgen, Bruderherz", begrüßte ich ihn überschwänglich.

    Er dankte es mir mit einem Grunzen und einem Blick aus seinen winzigen, blaugrauen Augen. Während ich mehr von dem Aussehen meines Vaters geerbt hatte, wirkte Tristan meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

    „Was glaubt ihr, wann ich abgeholt werde?", fragte ich an Mutter und Vater gewandt.

    „Das kann keiner vorhersehen, antwortete Vater und griff ebenfalls nach einer der Obstschalen. „Du solltest auf jeden Fall nicht mehr in den Wald gehen, sondern hier in der Nähe bleiben.

    „Ich habe mich gestern schon vom Wald verabschiedet", murmelte ich mit einem Bissen Brot im Mund.

    Wir unterhielten uns eine Weile beim Frühstück über die Transporter, die es in der Stadt gab, und ihre Einsatzmöglichkeiten dort, während sie hier am Waldrand fast unsinnig erschienen. Vater hegte seit Jahren den Wunsch, einen eigenen Wagen zu haben, damit wir nicht immer mit dem Karren in die Stadt fahren oder uns ein Fahrzeug leihen mussten. Der Bus, der bei uns hielt, war keine Alternative, da er nur morgens und abends jeweils einmal fuhr. Außerdem hatten Mutter und ich es versucht, aber mit dem Fleisch und den Fellen in unseren Kisten hatten wir einfach zu viel Platz eingenommen. Meist lieh Vater sich deswegen den Wagen des Baumfällers, damit wir selbst bestimmen konnten, wann wir fuhren.

    Erst als das Frühstück beendet war, erwachten Tristans menschliche Interaktionsfähigkeiten zum Leben. Als ob er mit dem Essen erst einmal seine Akkus aufgefüllt hatte.

    „Wenn die Namensgeber dich abholen, habe ich dann das Zimmer für mich allein?", fragte er.

    „Nein, du kommst zu Paddy in den Stall, damit Mutter endlich ihr Nähzimmer bekommt", erwiderte ich und zerstrubbelte ihm die hellblonden Haare. Sie waren schulterlang und glatt, während meine wie Unkraut in alle Richtungen abstanden. Die Frauen im Haus der Geliebten hatten es bewundernd betrachtet, aber ich fand daran nichts Bewundernswertes. Im Gegenteil. Sie waren schwer zu bändigen, gaben mir ständig das Gefühl, Kletten auf dem Kopf zu tragen, und heizten sich im Sonnenlicht stärker auf als Vaters kupferdurchsetzter, dunkelbrauner Bart.

    „Natürlich ist es dann dein Zimmer, intervenierte Mutter, ehe Tristan etwas erwidern konnte. „Du kommst nicht zum Pferd. Paddy braucht schließlich auch seine Ruhe.

    Ich lachte laut los, als Tristan verstand, was Mutter gerade angedeutet hatte.

    „Ich bin doch gar nicht laut. Meine Worte sind nur zu schnell für eure Ohren. Ihr müsst halt langsamer zuhören, dann werden sie leiser." Tristan griff nach einem Apfel und biss hinein.

    „Geh du lieber Vater beim Wetzen der Pfeile helfen, wenn du so schnell bist." Ich wusste genau, dass er die Arbeit mit seinen Händen nicht mochte und lieber lief. Schon mit einem halben Jahr hatte er sich überall hinaufgezogen und war ein paar Schritte marschiert, wenn wir nicht aufgepasst hatten. Inzwischen konnte ihn kaum jemand aufhalten, wenn er laufen wollte. Aber auch wenn er mal für ein paar Stunden im Wald verschwand, kam er stets wieder mit den Worten, dass der Frostwald ihn nicht mögen würde. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, es trotzdem immer wieder zu versuchen.

    „Ich wetze gar nichts, höchstens davon." Er sprang auf, den Apfel immer noch in der Hand, und wollte gerade verschwinden, als Vater ihn am Kragen packte.

    „Hast du nicht etwas vergessen?", fragte er und drehte Tristan so, dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

    Tristan stöhnte, stellte sich dann aber mit ausgestreckter Hand vor mich. „Herzlichen Glückwunsch, Katinka. Ich hoffe, du genießt deinen Tag und bleibst weiterhin so wie du bist."

    Ich packte meinen kleinen Bruder und drückte ihn fest an mich, sodass er nicht entkommen konnte. „Danke, du kleiner Rabauke. Geh dir die Zähne putzen, und danach hilfst du heute Vater, verstanden?"

    Tristan wehrte sich gegen meinen Griff. „Lass mich los! Ich bin kein kleines Kind mehr, das man einfach so knuddeln kann."

    „Solange ich dich noch zu fassen kriege, bist du genau das", erwiderte ich und ließ ihn los. Nicht jedoch, ohne meine Finger noch einmal durch seine Haare fahren zu lassen. Diese Haare würden mir fehlen. Mein Bruder würde mir fehlen. Ein Hauch von Melancholie überkam mich. Mit wem sollte ich mich denn streiten, wenn ich erst einmal im Haus der Geliebten war? Ich bezweifelte, dass es dort jemanden geben würde, den ich so ärgern konnte wie Tristan.

    „Na los, pack dein Geschenk endlich aus. Tristan löste sich endgültig aus meinem Griff und sprang zu dem Paket. „Ich will wissen, was du bekommst.

    Ich drehte mich zu Mutter und Vater. „Und ihr macht euch Sorgen darüber, dass ich zu neugierig sein könnte. Mit dem Kopf deutete ich auf Tristan. „Es ist nicht einmal sein eigener Geburtstag und er will wissen, was in dem Geschenk ist.

    „Er ist ein Kind. Mutter lächelte. „Sobald er erst einmal ein Läufer oder Bote ist, wird sich das legen. Seine Gene sagen, dass er die Neugierde ablegen wird. Immerhin wird er ein Läufer und die dürfen nicht neugierig sein, wenn sie als Boten arbeiten.

    Ich legte den Kopf schief. Wieso war sie sich sicher, dass seine Gene ihn noch verändern würden, meine aber nicht? Hielt sie mich für schwächer als Tristan? Glaubte sie nicht, dass ich meine Neugierde loswerden konnte?

    Ich verzog den Mund, während ich langsam nach dem Paket griff. Mutter sollte nicht die Enttäuschung sehen, die ich empfand, weil sie so von mir dachte. Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich sie mit meiner Gendefinition als Geliebte glücklich und stolz machen würde. Aber je näher mein Geburtstag gekommen war, desto weniger schien sie darüber erfreut gewesen zu sein.

    Tristan sprang wie ein Floh um mich herum und klatschte in die Hände.

    „Los, aufmachen, aufmachen", jubilierte er immer wieder.

    Nur um ihn zu ärgern, öffnete ich erst eine Schleife, dann eine zweite. So langsam, dass selbst ein Waschbär schneller gewesen wäre. Tristan stöhnte und streckte seine Hände aus, wollte mir helfen, doch ich stieß ihn beiseite. „Ich genieße es. Immerhin ist es mein letztes Geburtstagsgeschenk."

    Erst als ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie wahr die Aussage war. Mit meinem fünfzehnten Geburtstag erhielt ich mein letztes Geschenk zur Feier meiner Geburt. Ab heute hatte ich keinen Geburtstag mehr, weil sich mein Schicksal, das sich seit dem damaligen Tage anbahnte, nun erfüllte. Es hatte keinen Sinn mehr, diesen Tag zu feiern. Meine Hand schwebte über dem Stofflaken, welches das Paket umgab.

    „Es ist das letzte Mal", murmelte ich.

    Tristan stieß mir mit seiner Faust gegen die Schulter. „Mach es nicht so spannend!"

    „Schon gut." Ich zog an dem Tuch und hob den Deckel des Kartons an, der darunter zum Vorschein kam. Im Innern des Pakets lag ein wunderschönes Kleid in hellem Grün. Ich griff nach den Trägern und hob es aus dem Paket. Darunter kam ein zweites Kleid zum Vorschein, diesmal luftiger, aber aus einem ähnlichen Stoff gemacht wie das erste.

    Der Stoff war weich und seidig, fühlte sich nicht schwer an, sondern gab mir das Gefühl, eine Wolke anzufassen.

    „Das ist wunderschön!, hauchte ich und berührte die in dezenten Grüntönen gehaltenen Stickereien. Ich schüttelte immer wieder den Kopf. „Das ist wirklich für mich?

    „Zwei Kleider? Das ist ja langweilig", murrte Tristan und lehnte sich gegen den Kamin, der jetzt im Frühling außer Betrieb war.

    „Ganz und gar nicht langweilig, erwiderte ich mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. „Das ist unglaublich. Wer hat die gemacht? Fragend sah ich zu Mutter und Vater.

    „Ein Laden in der Stadt. Mutter lächelte und lehnte sich gegen Vater. „Wir dachten uns, wenn du schon ins Haus der Geliebten gehst, dann sollst du auch aussehen wie eine Dame der Gesellschaft.

    Wieder konnte ich nur den Kopf schütteln.

    „Diese Kleider müssen ein Vermögen gekostet haben!", murmelte ich und wusste, dass ich recht hatte.

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