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Der Jesuit aus Lusitanien
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eBook330 Seiten4 Stunden

Der Jesuit aus Lusitanien

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Über dieses E-Book

Der Jesuit Antonio Vieira, 1608 in Portugal geboren, ist eine der schillerndsten Gestalten des 17. Jahrhunderts. Wortgewaltiger Prediger, Beichtvater zweier Königinnen, graue Eminenz hinter der Diplomatie des Herrscherhauses der Braganza im Kampf um die Unabhängigkeit Portugals, entschlossener Kämpfer für die Freiheit der Indios und Afrikaner in der portugiesischen Kolonie Brasilien und schließlich - Gefangener der Inquisition. Um seine charismatische Persönlichkeit rankten sich viele Gerüchte, seine unbestechliche Diagnostik gesellschaftlicher Missstände und die magische Kraft seiner Predigersprache haben bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Gloria Kaiser hat sich rund 20 Jahre mit Antonio Vieras Leben und Denken beschäftigt und steckt in diesem Roman einfühlsam die Eckpunkte seines 90-jährigen Lebens ab, in dem alle großen menschlichen Leidenschaften Platz fanden: Triumph und Demut, Verzweiflung und Todesangst, Hoffnung und eine leidenschaftliche Fernliebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum1. Dez. 2019
ISBN9783904123129
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    Buchvorschau

    Der Jesuit aus Lusitanien - Gloria Kaiser

    Vieira.

    1

    Die Berufung

    Kindheit, Familie, 1608–1614

    Die Philosophen sagen, schon in früher Kindheit seien sowohl die Richtung als auch die Freuden und Bürden eines Lebens zu sehen. Worüber ein Mensch sich freue, worunter er leide, wofür er bereit sei, alle Beschwernisse auf sich zu nehmen, um eine Lebenssehnsucht erfüllt zu erleben – alles sei schon im Kindesalter zu sehen.

    Das sagen die Philosophen, und in der Person von Antonio Vieira liegen sie vollkommen richtig.

    Antonio Vieira, der Mann des Wortes, o Imperador da língua portuguesa, wurde in Lissabon geboren, am 6. Februar 1608.

    Sein Vater Ravasco war Gerichtsschreiber, dem durch die Heirat mit Maria Azevedo ein Karrieresprung gelang; er wurde Jurist, zuständig für kleine Vergehen wie die Bestrafung von Zollbetrug, und er war zuständig für die Wahrung der öffentlichen Ordnung gingen Männer und Frauen auf der richtigen, getrennten Seite auf der Straße, saßen sie in entsprechendem Abstand und auf der richtigen Seite in der Kirche?

    Die Familie Vieira wohnte mit Großeltern und Verwandten in einem geräumigen Haus auf einem der Hügel von Lissabon. Das Haus war von Blumen und Sträuchern überwuchert, im Garten gab es Limonenbäume, die das ganze Jahr über blühten und gleichzeitig Früchte trugen – ein idyllisches Bild. Doch das Anwesen unterschied sich von den Häusern der Nachbarschaft durch einen Gitterzaun, der unüberwindbar zwei Welten trennte: na rua, na casa, auf der Straße, im Haus.

    Auf der Straße wurde Spanisch, auch Kastilisch gesprochen; im Haus wurde Portugiesisch gesprochen.

    Im Jahr 1608 befand sich Portugal politisch schon in der dritten Dekade der Personalunion mit Spanien. Es war eine komplizierte politische Konstellation.

    Im Jahr 1580 war das regierende Adelsgeschlecht der Familie Avis ohne Nachkommen geblieben, sodass König Philipp II. von Spanien die Gelegenheit ergriffen und Portugal zu einer Union mit Spanien zusammengeführt hatte, und zwar mit päpstlichem Segen. Die iberische Halbinsel politisch zu vereinen und das territorial große Spanien auf das kleine Land Portugal auszudehnen erschien logisch. Nach und nach wurde die Administration auch von spanischen Beamten übernommen, und zwar in der Amtssprache Kastilisch.

    Amtssprache Kastilisch. Das war der Punkt, an dem Vater Ravasco Vieira rebellierte, und er tat das, wie viele Portugiesen, ohne sichtbaren Widerstand. Mit sturer Beharrlichkeit wurde im privaten Leben der Portugiesen Portugiesisch gesprochen, denn, wie es sich in der Geschichte wiederholt, erst durch ein Verbot, durch eine Verordnung wird Selbstverständliches als etwas von Wert empfunden, erst als das Kastilische wie das Spanische Gebot der Zeit wurden, nahmen die Portugiesen ihre eigene Sprache und Kultur wahr und mit aller Vehemenz neuerlich in Besitz.

    Vater Ravasco bestimmte, dass in seinem Haus nur Portugiesisch gesprochen werden durfte. Er las am Abend Passagen aus den Lusiaden vor, er erzählte von den Entdeckungsreisen der Portugiesen, und er wurde damit Schritt für Schritt ein Portugiese voll Selbstbewusstsein, ein Portugiese, der in Gehorsam seinen Staatsdienst in kastilischer wie in spanischer Sprache erledigte, der aber niemals die portugiesische, lusitanische Sprache und Kultur abgelegt hätte.

    Sprache, Rhetorik waren für Vater Ravasco Fähigkeiten, die er am meisten bewunderte, und diese Fähigkeiten sollten in seinem erstgeborenen Sohn Antonio entwickelt und perfektioniert werden.

    Maria Azevedo war als Kind mit ihren Eltern von ­­Coimbra nach Lissabon gezogen.

    Die Azevedos waren in ­Coimbra vermögende, einflussreiche Handwerker und Händler gewesen, sie betrieben eine Waffenschmiede. Doch sie hatten ständig Probleme mit den Steuereintreibern, angeblich lieferten sie zu wenig Steuern und Abgaben ab. Das Steuerbüro der Inquisition von ­Coimbra hatte seine Schreiber und Späher in der ganzen Stadt; und von Neuchristen, wie es die Azevedos waren, wurden ständig mehr Steuern verlangt, munkelte man. Ob das Gerücht stimmte oder nicht, darüber wurde in der Familie nicht geredet, es schien alles seine Richtigkeit zu haben. Obwohl die Einnahmen in Büchern aufgezeichnet waren, gab es ständig Ärger mit den Steuereintreibern. Der Großvater warf ihnen jedes Mal einen Lederbeutel mit Münzen hin, und die Großmutter zündete Kerzen an, wenn der »Blutsauger der Inquisition« das Haus verlassen hatte. »Vergiss doch die Münzen, er hat nicht nach den Dokumenten gefragt«, flüsterte sie, und Großvater zischte zurück: »Weil er weiß, dass wir deshalb bezahlen! Nein, wir gehen!«

    Es wurde also etwas Dunkles mit dem Beutel voll Münzen verhüllt, und als Maria sieben Jahre alt war, wurde von einem Tag auf den anderen gepackt. Bei einfallender Dunkelheit verließ man ­Coimbra und zog nach Lissabon.

    In Lissabon lief das Leben der Azevedos in ruhigen Bahnen. Maria wurde verheiratet, der erste Sohn erhielt den Namen Antonio, nach dem heiligen Antonius, das wurde extra in die Mitteilung der Geburt geschrieben. Über die Jahre in ­Coimbra wurde nie gesprochen.

    Einzig dass Maria Azevedo alphabetisiert war, das sollte nicht nach außen, nicht vor die Gittertore dringen, auch dass sie Antonio selbst unterrichtete, ihm lesen und schreiben beibrachte, sollte niemand erfahren. »Antonio wird von seinem Vater unterrichtet«, das wurde dem Pfarrer gesagt, und der nickte dazu.

    »Und Sie, Dona Maria, Sie lesen doch gerne Heiligengeschichten«, fragte er.

    »Ich höre sie gerne, mein Gemahl liest mir vor.«

    »Aber Sie können doch lesen und schreiben?«, beharrte der Pfarrer.

    »Nur ein wenig, ich müsste mich mehr üben im Lesen, mein Gemahl hat nicht genügend Zeit, mich zu unterrichten.«

    Antonios vierter Geburtstag war ein besonders kalter Februartag des Jahres 1612. Auf den Pflastersteinen im Hof des Hauses glitzerte Eis; alle Familienmitglieder standen bereit zum Kirchgang, die Großeltern in dunklen Mänteln, die Mutter in mehrere Schals gehüllt. Plötzlich trat ein fremder Mann aus dem Haus, er war nur leicht bekleidet, sein Überrock wirkte sommerlich, wie überhaupt alles an diesem Mann Sommer und Wärme aussandte. Er lachte, nahm den kleinen Antonio an der Hand und führte die Familienkolonne mit sicherem Schritt auf die Straße, der Kirche zu.

    Der fremde Mann war der Vater von Antonio Vieira, er war erst wenige Tage vor diesem Kirchgang aus Bahia zurückgekommen, dort hatte er zwei Jahre lang gelebt und gearbeitet. Das konnte sich das Kind Antonio erst später zusammenreimen.

    Für den vierjährigen Antonio war der erste Kirchgang mit dem Vater eine Erfahrung, die er nie mehr missen wollte.

    Aus der Hand des Vaters strömten Wärme und Sicherheit; so lange er von dieser Hand gehalten wurde, konnte er nicht stolpern, nicht ausrutschen; an dieser Hand geführt zu werden, da gab es kein Zu-Schnell, kein Zu-Hastig und kein Zu-Träge. Beständig und ohne Unterbrechung setzte Ravasco Vieira seine Schritte, selbst wenn er sich zu einem Gruß halb verneigte, unterbrach er nicht sein Gehen.

    Das Kind Antonio spürte Sicherheit und Orientierung, und das wurden zwei Fäden in seinem Lebensgewebe, die er immer suchte.

    Vater Ravasco war bald nach der Geburt von Antonio nach Brasilien gereist, und zwar in die nördliche Region Bahia. Dort war 1560 am wichtigsten Hafen eine Stadt als Hauptstadt Brasiliens angelegt worden, Salvador. Und nun waren Beamte gesucht worden, die sich die mehrmonatige Reise mit dem Segelschiff zutrauten, Beamte, die dafür eingesetzt wurden, in Salvador die Administration einer Hauptstadt aufzubauen. Für den Dienst in der Kolonie Brasilien ausgewählt zu werden, war eine Auszeichnung, ein Beweis für das Vertrauen in die Fähigkeiten von Ravasco Vieira; gleichzeitig bewies er damit Mut, denn niemand wusste, ob Menschen, die von Lissabon aus in die Neue Welt segelten, jemals wieder zurückkamen.

    Mit der Rückkehr von Vater Ravasco hatte sich ­Antonios Tagesablauf geändert. Er durfte seinen Vater nach Mafra begleiten. Vater hob ihn auf das Pferd und ritt auf Hügel zu, die sich im Morgenwind bewegten, so schien es. Es waren Olivenhaine, die Vater durchquerte, Hügel hinauf und hinunter, für Momente waren schon die Schirmpinien zu sehen, dahinter lag das Schloss. Am Eingang wurde Vater von Wächtern mit Verbeugungen begrüßt, sein Pferd wurde in einen Unterstand gebracht, wo Getreide und Wasser bereitstanden, und Antonio wurde unter einem Baum auf eine Steinbank gesetzt. Bewacht von zwei Pferdeknechten, saß er dort und schaute. Er sah Blüten, Farne, Sträucher, Steine; er saß in einer Welt voll Bilder, zu denen er sprechen wollte, zu denen er Fragen gehabt hätte, doch er saß in Stille, niemand sprach, nur für Momente war die Stimme von Vater zu hören, er erteilte Befehle.

    Vater Ravasco überwachte die Gerichtsbarkeit in Mafra. »Nur unter die kleinen Sünden setzt Vater seine Unterschrift«, hatte Mutter erklärt, »mit den Inquisitoren von ­Coimbra hat Vater nichts zu tun.« Dazu hatte sie sich bekreuzigt.

    Antonio wurde vom Vater in Rhetorik unterwiesen. Dafür musste er zuerst das Schweigen lernen, als Nächstes das sorgsame Auswählen der Worte. Als Erziehungsregel galt, dass er am Abend drei Sätze sagen durfte, sie mussten gut formuliert sein, und darüber sollte er tagsüber nachdenken.

    Vater und Sohn schwiegen den ganzen Tag; sie schwiegen während des Reitens, sie schwiegen, wenn sie im Gras saßen und Wasser tranken. Am Abend, wenn Antonio seinen Teller Milch und das Brot gegessen hatte und die drei erlaubten Sätze sagen sollte, überlegte er meist sehr lange. Der erste Satz war für Dankesworte vorgesehen, mit dem nächsten Satz sollte er den Vater bitten, ihn neuerlich begleiten zu dürfen, es blieb ihm also nur ein Satz. Und nachdem er den ganzen Tag über diesen einen Satz nachgedacht hatte, erschien ihm am Abend nichts wichtig genug, um dafür einen ganzen Satz herzugeben. Also beschloss er, den erlaubten Satz für den nächsten Tag aufzubewahren, und so sammelte er manchmal tagelang Sätze und hatte dann ein Bündel von Sätzen, mit denen er seiner Mutter erzählte, was er gesehen hatte. »Die Olivenbäume verwandeln sich, je nachdem wer an ihnen vorbeireitet; sie schimmern grau und silbrig, und manchmal leuchten sie grün. Wenn Vater vorbeireitet, werfen sie sich ins Grün, sie freuen sich auf uns.«

    Mutter hörte zu, lächelte, legte den Finger auf den Mund, sie mahnte: »Eine Frage, Antonio, eine Frage sollst du formulieren!«

    Für Antonio war aber nie eine Frage übrig geblieben, wenn er mit seinem Vater unterwegs war. »Wie werden wir wieder nach Hause kommen, werden wir nicht stürzen, und werden sich uns keine Diebe in den Weg stellen?« All diese Fragen stellten sich nicht, denn er hatte gelernt, beim Schauen und Hören sich selbst Antworten zu formulieren.

    Perspektive Bahia

    Zwei Jahre später, im Jahr 1614 machte sich Unruhe in dem Familienleben bemerkbar. Vater Ravasco kam oft einige Tage lang nicht nach Hause, und genau an diesen Tagen erschienen fremde Männer, die Papiere vorwiesen; Mutter Maria Azevedo holte ihrerseits Papierbogen aus dem Schrank. Mutter und die fremden Männer standen einander wie gegnerische Parteien gegenüber, jeder zeigte dem anderen ein Schriftstück; welches Dokument hatte mehr Wert, mehr Aussagekraft. Das Kind Antonio verstand nicht genau, worum es ging, nur soviel – die Vieiras waren in Gefahr. Von Forderungen, von Schulden war die Rede, und obwohl das Dokument von Mutter offensichtlich von großem Wert war, von so großem Wert, dass die Fremden jedes Mal das Haus verließen, ohne die Stimme erhoben zu haben, ohne irgendetwas mitzunehmen, blieb das Bedrohliche im Haus und ließ sich nicht mehr verscheuchen.

    Mutter flüchtete zum Muttergottesbild, zündete eine Kerze an, sie betete und kümmerte sich nicht darum, ob die Fremden sie beim Verlassen des Hauses dabei noch beobachteten. Nach dem Gebet röstete sie einige Scheiben Brot, füllte Olivenöl in eine kleine Kanne, verstaute alles in einem Korb, deckte Kohlblätter darüber, als wäre sie vom Einkauf in der Markthalle gekommen. Sie hastete zu Vater in sein Kontor.

    Erst später, viel später konnte Antonio sich die wiederkehrenden Besuche, die Veränderungen im Tagesablauf erklären. Die beiden fremden Männer waren Geldeintreiber. Die Miete für das Haus war seit Monaten nicht bezahlt worden, die Fremden präsentierten also Schuldscheine; und Mutter zeigte jedes Mal einige Bogen Papier, auf denen aufgelistet war, wie viel Salär Vater Ravasco seit Monaten nicht erhalten hatte. Mutter präsentierte also eine Forderung.

    Es war eigentlich ganz einfach erklärt, Vater Ravasco hatte sich zu offen zur portugiesischen Kultur und Sprache bekannt, deshalb war er beim Auszahlen des Salärs immer nach hinten gereiht worden. Zuerst wurden die gehorsamen Beamten, die dem spanischen Herrscher bis in ihre Sprache, auch in ihre Alltagssprache, ergeben waren, zufriedengestellt. Ravasco Vieira beugte sich nicht; in seinem Beruf diente er dem spanischen König, doch ab dem Gittertor wurde nur noch portugiesische Sprache gesprochen und gelebt. Auch wenn Großvater oft warnend den Finger auf den Mund legte, denn manchmal war eine Wäscherin im Haus, eine, die von Haus zu Haus zog und alles erzählte, oder der Milchverkäufer mit seiner Kuh, der vor dem Gittertor stand und »Milch, frische Milch« rief; hatte er vielleicht schon vorher ein paar Worte aufgeschnappt, Worte in der verbotenen Sprache im Haus eines Beamten, eines Richters? Das wog schwer.

    Noch etwas hatte sich im Jahr 1614 im Hause Vieira geändert, Mutter Maria Azevedo schrieb Briefe. Für Antonio waren es Schriftgemälde; er konnte bereits lesen und schreiben, doch die Buchstaben, die seine Mutter auf den Briefbogen aneinanderreihte, die Verschlingungen, die Striche, die Bogen, die Punkte, die großen und kleinen Schwünge, die hatte sie dem Kind noch nicht beigebracht; auch diese Schriftgemälde empfand Antonio als Bedrohung.

    Endlich, im Hochsommer 1614, entlud sich die Anspannung im Hause Vieira:

    Freude, ein Festessen, Umarmungen. Vater Ravasco fächelte einen Brief in der Luft, er hatte den Auftrag des Regierungskommissärs erhalten, als Beamter in der Verwaltung der brasilianischen Hauptstadt Salvador zu arbeiten. Also waren seine Berichte doch gelesen worden; in Salvador mussten Straßen errichtet werden, die Hafenverwaltung musste besser organisiert werden, vor allem mussten die Abrechnungen der Kolonisten kontrolliert werden, wie viel Geld aus dem Zucker- und Holzhandel wurde an das Mutterland Portugal geschickt? Auf diesen Auftrag hatte Vater Ravasco zwei Jahre schon gewartet. Salvador, das bedeutete Übersiedlung nach Brasilien.

    Bahia, mehrere Reisemonate von Lissabon entfernt, am anderen Ende des Ozeans.

    Salvador, von dieser Stadt hatte Vater oft erzählt: »Die Gebäude liegen hoch über dem Meer, wenn man die Augen hebt, sieht man alle Schattierungen von Blau, jenes vom Himmel und jenes vom Meer, die beiden Elemente fließen ineinander.«

    Mitte September 1614, in den Tagen des Spätsommers, wenn Lissabon in weißes, beinahe silbriges Licht getaucht ist, ging es mit dem Fuhrwerk zum Hafen. Die Vieiras hatten wenig Gepäck, eine Kiste mit Kleidung, Bücher und Papierbögen. Das hatte Vater Ravasco angeordnet: »Wenn nicht genug Papier im Kontor ist, müssen wir unsere Arbeit unterbrechen, es wird von uns erwartet, dass wir die Administration exakt durchführen, es sind Basisaufzeichnungen für die Hauptstadt von Brasilien! Namenslisten, Geburtsregister, Frachtpapiere, Abrechnungen der Zuckerlieferungen, Wegekarten sind neu zu zeichnen, und auch im Colégio wird für die Schüler viel Papier gebraucht.« Mutter Maria Azevedo nickte, sie war mit allem einverstanden. »Wir beginnen vollkommen neu«, murmelte sie immer wieder, »es ist nur wichtig, was Vater für die Arbeit benötigt.« Dann schloss sie die Augen und flüsterte noch: »Getrocknete Früchte und Fladen kommen in den Korb, damit wir die Reise überstehen.« Tagelang nähte sie Dokumente und Briefe in die Unterröcke ihrer Reisekleidung, sie schneiderte Leintücher und Pferdedecken zu Umhängen. Als Ravasco Vieira und Maria Azevedo auf den Kutschbock stiegen, waren sie kaum mehr zu erkennen, so dick vermummt waren sie in Kleidung und Decken und Tücher; sie trugen tatsächlich fast alles, was sie mitnehmen wollten, am Körper.

    Am Hafen ein Gedränge von Menschen, Stimmen tönten schrill über den Platz, Gelächter, auch Schluchzen. Tränen und Kreuzzeichen bei denen, die aufbrachen, Wünsche und Gebete von jenen, die die Abreisenden bis zu den Booten begleiteten. Beide Gruppen schauten immer wieder zum Himmel, wem könnten sie sich anvertrauen, wen könnten sie fragen, ob sie einander jemals wiedersehen würden?

    Der knapp siebenjährige Antonio hielt sich an der Hand des Großvaters fest. Großvater würde nicht mitkommen, nicht mit ihm ins Boot steigen, das ängstigte ihn. Er wollte sich von diesem gütigen Mann nicht trennen. In der Nähe des alten Mannes, in seinen Erzählungen hatte er sich von der Strenge seines Vaters erholt, die Anwesenheit des Großvaters war so selbstverständlich gewesen; Großvater, über dem Korb mit den Oliven sitzend, die er nach Größe und Grün- und Grautönen sortierte, manche Früchte an seiner Hose blank polierend. »Wie Onyx«, lächelte er dann.

    Und nun sollte er sich von Großvater verabschieden, ihn umarmen und den Eltern zum Boot folgen. Als Antonio sich nicht losreißen wollte und den Großvater mit sich Richtung Kai zog, sprang plötzlich eine Tante zu ihm und zischte: »Hör auf, ihn zu umarmen und festzuhalten! Von ihm hast du dein Negeraussehen! Das wird dir kein Glück bringen!«

    Negeraussehen? Antonio verstand nicht; er zupfte seine Mutter am Gewand, sie sollte ihm erklären, doch es hatte niemand Zeit, sich mit Kinderfragen aufzuhalten. Die Glocke des Segelschiffes mahnte bereits; das Geläute des Schiffes mischte sich in grauenhafter Disharmonie mit dem Geläute der Kirchenglocken. War das ein Sterbegeläute? Schaudern ging durch die Menschenmenge, manche gingen in die Knie, beteten und flehten mit erhobenen Armen zum Himmel. In diesem Getöse schob Ravasco Vieira die Seinen auf das Boot, dort saßen bereits Männer und Frauen dicht an dicht, die meisten stierten vor sich hin, einige riefen: »Es ist kein Platz mehr«, und wenn Vater Ravasco auf die rot-goldene Plakette zeigte, die an seinem Hals baumelte, rückten sie sofort enger zusammen: »Ach so, ein Beamter, ein Königstreuer«, murmelten sie einander zu. »Der flüchtet nicht wie wir vor einem elenden Leben, der reist seiner hohen Position entgegen.« »Mit dem solltest du dich gut stellen, wahrscheinlich ist er in Salvador dein Master«, so wurde hin und her geredet und dabei mit den Schultern gezuckt. Es war jedem alles egal, denn bereits auf dem Boot zum Segelschiff waren alle Standesunterschiede aufgehoben, ob ein Höhergeborener, ein Knecht, eine Magd oder einer, der dem Gefängnis entkommen war, es zählte nur noch das Überstehen der Reise, und diese Reise würde lange dauern, sehr lange.

    Maria Azevedo umklammerte Antonio, Ravasco Vieira hielt Maria und Antonio in seinen Armen geborgen, er hatte die Augen geschlossen und flüsterte Gebete. Vater und Mutter gönnten sich keinen Blick zurück zur Stadt. »Die Abendsonne legt silbriges Leuchten über die Stadt.« Mutter hatte oft davon gesprochen, und jetzt, bei der Abreise, schaute sie nicht auf. Lissabon, das war ihre Stadt gewesen; es war vorbei.

    Beim Segelschiff angekommen, wurden die Erwachsenen einzeln mit Seilen gesichert, dann stiegen sie über Strickleitern auf das Schiff. Antonio wurde mit drei weiteren Kindern in einen riesigen Korb gedrückt und festgebunden: »Augen zu«, herrschte der Matrose die Kinder an, die immer wieder nach oben schauten. Wo waren die Eltern? »Augen zu«, der Matrose drückte die Kinder ins Dunkel des Korbes, und schon wurde die Last nach oben gezogen; der Korb schwankte hin und her, es gab einen Ruck nach unten, dann wieder nach oben, das Meer gischtete ins Korbinnere. Die Kinder gaben keinen Laut von sich, sie hielten einander an den nassen Jacken und Mänteln fest. »Augen zu«, wurde mehrmals gerufen, schließlich prallte der Korb auf den wankenden Schiffsboden. »Augen auf«, und die Kinder wurden aus dem Korb herausgeholt.

    Überfahrt nach Bahia, ­September 1614

    Schwankend, alles schwankend, sich festhalten, sich in den Verschlag kauern, den ein Matrose ihnen zuwies. Das Segelschiff war ein Frachtsegler, es wurden Werkzeuge befördert, Äxte, Sägen, Pflüge, auch Ziegelsteine; für Passagiere war nur auf Durchgängen und in Winkeln Platz. Die Vieiras bekamen eine gute Ecke zugeteilt, durch Luken drang Tageslicht hinein; dort verharrten sie, dorthin flüchteten sie, dort ließen sie sich an die Pritsche binden, wenn das Segelschiff über die Wellenberge geworfen wurde.

    Bei der ersten Überfahrt von Europa nach Brasilien wurde Antonio in Schübe von Angst und Schrecken geworfen. In welche Welt waren sie geraten, in der sie hilflos Sturm und Meer ausgeliefert waren. Auf dem Schiff verstand einer den anderen nicht, das Getöse und Gebrause war zu laut, auch die Matrosen erteilten einander Befehle und Anweisungen nur mit Körpersprache. Regengüsse oft stundenlang, Stürme, durch die das Schiff über Gebirge von Wellen kletterte und hinabstürzte, hin und her geworfen wurde; man wusste nicht, ob das Wasser, das auf dem Schiff bald knietief schwappte, vom Regen oder von herabstürzenden Wellen kam. Völlig durchnässt, zitternd vor Kälte, lehnten und lagen Menschen überall, auf den Gängen, unter den Verschlägen, unter den Bettbrettern. Mit Trinkwasser musste gespart werden, die Weinfässer waren bald geplündert, sie rauften um ein paar Schluck zur Betäubung, die Menschen schlugen einander um einen Holzlöffel voll Getreidekörner, sprangen einander an die Gurgel für einen Brotfladen.

    Maria Azevedo versuchte, ab und zu ein paar Schritte zu gehen; wie viele Tage, wie viele Wochen waren sie schon unterwegs? Sie hatte ein Wollknäuel im Korb, und in den Faden knüpfte sie jeden Morgen einen Knoten, bald reihte sich Knoten an Knoten. Ob sie jemals ankommen würden, sie sahen nichts als Wasser und Himmel, manchmal in allen Blautönen, manchmal in allen Grautönen, dann wieder in Nachtschwarz, in dem Wolken tanzten.

    Antonio, das siebenjährige Kind, stellte keine Fragen, obwohl die Erziehungsregel »drei Sätze pro Tag« während der Reise nicht gegolten hätte. Er nahm die Bilder auf: Überall Meer, überall Menschen, die hungrig und durstig waren, die dösten oder schrien, endlich das Getöse der Natur überschreien wollten. Niemand redete mehr vom Ankommen, nur den nächsten Tag, das nächste Unwetter wollten sie überstehen, schlimmer konnte es nicht kommen. War das sein neues Zuhause? Für diese Menschen sollte Vater das Leben organisieren, wie sollte das gehen?

    Nach sechs Wochen, diese Zeiteinheit nannte Maria Azevedo, war plötzlich ein Segler in naher Distanz zu sehen. Es ging alles ganz schnell, es wurden Strickleitern durch die Luft geworfen; aus Booten kletterten Männer auf das Schiff. Matrosen versuchten, die Fremden vom Schiff zu drängen, einige stürzten ins Meer. Die Menschen rannten auf dem Schiff herum, einen Platz suchend, wo sie sich verstecken konnten. Es nützte nichts, Piratenüberfälle liefen immer nach dem gleichen Muster ab, Vater hatte davon erzählt. Sie nahmen Kisten und Körbe, hievten sie in die Boote, Messer blitzten, wieder streckten sie einen Menschen nieder, der sich ihnen in den Weg stellte; verletzte, blutende Körper wurden ins Meer geworfen, verletzte, blutende Körper lagen in Ecken und Winkeln. Es war grauenhaft.

    Maria Azevedo hielt Antonio fest an sich gedrückt, sie betete ununterbrochen. Vater Ravasco lag auf dem Boden, er blutete aus einem Arm, auch er hatte die Hände gefaltet: »Uns wird nichts passieren, wir werden alles überstehen, wir sind für Bahia bestimmt«, diese Worte waren von seinen Lippen abzulesen, und nach endlosen Stunden beruhigte sich das Leben auf dem Schiff; die Piraten waren verschwunden. Vater wurde zu Matrosenarbeit eingeteilt, weil zu viele Matrosen verletzt oder umgekommen waren.

    Ein paar Tage später kam der Kapitän und sagte, er rief es, damit er gehört wurde, dass die Piraten auch Sextanten und Kompass geraubt hatten, er also auf alte Messgeräte angewiesen sei. Hatte das Schiff die Richtung verloren? Niemand reagierte, die Menschen nickten, sie würden ohnehin in den nächsten Tagen verhungern oder verdursten; sie lehnten an leeren Kisten, zusammengebrochenen Bettgestellen. Nach dem Piratenüberfall waren auch die meisten aus den tiefen und abgelegenen Verschlägen und Winkeln nach oben geklettert. Es wurden für die Segelarbeit Gehilfen gebraucht, und nun, drei Monate nach der Abreise aus Lissabon, war es nicht mehr wichtig, auf Rang und Namen zu achten.

    Unter den Helfern war ein alter Mann; es wurde erzählt, er sei auf der Flucht, er habe seinen Dienstherrn erschlagen, als dieser ihn in der Kammer der Ehefrau des Dienstherrn erwischt hatte. Der alte Mann war zu schwach für körperliche Arbeit, er schaute jede Nacht zum Himmel, studierte das Sternenbild und rief eines Morgens Vater Ravasco zu sich. Mit dünner Stimme erklärte er, dass das Schiff sich zu weit nach Norden bewege, Ravasco solle den Kapitän holen.

    Es gab einen Disput, denn der Alte ließ nicht ab zu warnen, das Schiff sei zu weit nördlich unterwegs; der Kapitän schüttelte dazu den Kopf, doch der Alte fand jede Nacht in den Gestirnen einen weiteren Beweis.

    Nach zwei Wochen und einem wütenden Sturm ließ der Kapitän die Segel neu setzen, das Schiff hatte tatsächlich die Richtung geändert. Der Alte hatte sich nicht geirrt, er hatte das Sternenbild richtig enträtselt, er lächelte: »Jetzt ist alles in Ordnung, jetzt steuern wir auf Bahia zu«, und flüsterte zu Vater Ravasco: »Bring mich zum Kapitän, ich möchte mich bedanken!«

    Der Kapitän interessierte sich eigentlich nicht für die Passagiere, er beförderte

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