Bielefeld: Eine Stadtgeschichte
Von Jochen Rath
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Buchvorschau
Bielefeld - Jochen Rath
Diese Publikation ist zugleich Band 26 der Schriftenreihe Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte (ISSN 1619-6066), hg. von Stadtarchiv und Landesgeschichtlicher Bibliothek Bielefeld.
Jochen Rath
Bielefeld
Eine Stadtgeschichte
UMSCHLAGMOTIVE
Vorderseite: Rathaus und Theater Bielefeld. – Historische Ansichtskarte, um 1900 (Stadtarchiv Bielefeld); Rückseite: Altes Rathaus (ImageBROKER/Alamy Stock Foto, Fotograf: Stefan Ziese)
BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER
DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7917-3119-3
© 2019 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Reihen-/Umschlaggestaltung und Layout: Martin Veicht, Regensburg
Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany 2019
eISBN 978-3-7917-6162-6 (epub)
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finden Sie auf www.verlag-pustet.de
Kontakt und Bestellungen unter verlag@pustet.de
Inhalt
Vorwort
Das Mittelalter
Stadtgründung – Stadtentwicklung / Die Grafen von Ravensberg / Kennzeichen einer Stadt: Recht – Bevölkerung – Wirtschaft / Kirchen prägen Stadtbild und -gesellschaft / Antwerpener Retabel / Grabtumben in der Neustädter Marienkirche / Altstädte – Neustädte – Stadtsiedlungen / zo Bilevelde in der alden stadt ind in de nůwen / Eine Hansespur in der Stadt / Die Sparrenburg
Die Frühe Neuzeit
Die Ratsvereinigung 1510/20 / Der Leinenhandel: Ursprung der Bielefelder Wirtschaftskraft / Stadtbild und Bilder von Bielefeld / Reformation / Das Bielefelder Beben 1612 / Bielefeld vor und im Dreißigjährigen Krieg / Bielefeld wird brandenburgisch / Preußische Wirtschaftsförderung: Leinen und Legge / 1719: Verlust der kommunalen Selbstbestimmung / Das westfälische Bielefeld in Westphalen
Das 19. Jahrhundert
Bürgerliche Kultur: Vereine und Bauen / Schulen und Religion / Die Revidierte Städteordnung: Kommunale Selbstverwaltung und politische »Kultur« / Ein Bielefelder in Amerika / Der Leinenfaden wird dünner, aber er reißt nicht / 1848: ein Demokratieversuch / Aufbruch in neue Zeiten: Industrialisierung / Bethel / Friedrich von Bodelschwingh / Infrastruktur in einer wachsenden Stadt / Die Synagoge an der Turnerstraße / Gerhard Bunnemann / Politik und Wahlen / Carl Severing / Der Erste Weltkrieg / Bielefelder Notgeld
Weimarer Republik
Novemberrevolution / Politik und Wirtschaft in der Weimarer Republik / Bildung und Kultur in der Weimarer Republik / Der Aufstieg der NSDAP / Eingemeindung 1930 / Dr. Rudolf Stapenhorst
Nationalsozialismus
Die Machtübernahme / Fritz Budde / Gleichschaltung / Die Kirchen / Verfolgung politischer Gegner – Beherrschung der Straße / Kultur in Zeiten der Kulturlosigkeit / Die Verfolgung der Juden / Deportationen aus Bielefeld 1941–1945 / Eine Stadt im Krieg / Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter / Luftkrieg / Kriegsende 1945
Nachkriegszeit
Demokratisierung 1945/46 / Wiederaufbau, Flüchtlinge, Vertriebene / Artur Ladebeck / Stadtgestalt zwischen Modernisierung und Protest / Hochschulstadt Bielefeld / 1968: die Kunsthalle / Herbert Hinnendahl / 1973: Großstadt Bielefeld
Entwicklungen auf dem Weg in das 21. Jahrhundert
Oberbürgermeisterin und Oberbürgermeister seit 1975
Anhang
Zeitleiste / Literatur und Quelleneditionen / Stadtplan / Register / Bildnachweis
Vorwort
»E pluribus unum« lautete der Wahlspruch der USA: aus vielen eines. Diese Losung kann auch für Bielefeld adaptiert werden, das nach seiner Ersterwähnung als Stadt 1214 in seiner heutigen Form aus vielen Städten, Ämtern, Gemeinden und einem Kreis hervorgegangen ist. Und seine Einwohnerschaft ist über Jahrhunderte hinweg durch Zuwanderung zusammengesetzt worden.
Bis in die Frühe Neuzeit hinein, genauer bis 1510 gab es zwei Städte dieses Namens: die Altstadt Bielefeld seit spätestens 1214 und die Neustadt seit dem 13. Jh. – zusammen zählten sie bis in das 18. Jh. hinein um die 3.000 Einwohner. 1930 vergrößerte sich die alte Stadt Bielefeld um die Umlandkommunen Schildesche, Sieker und Stieghorst und übersprang ganz nebenbei die Marke von 100.000 Einwohnern. Und als 1973 der Kreis Bielefeld, der im Jahr zuvor erstmalig mehr Einwohner gezählt hatte als die Stadt, in ebendieser aufging, bedeutete das auch das Ende der kurzen Stadt-Eigenschaft von Brackwede (seit 1956) und Sennestadt (seit 1965).
So folgt auf den nächsten Seiten nicht nur die Geschichte einer, sondern die »Geschichte zweier Städte«, die 1510/20 miteinander und ab 1973 auch mit zwei anderen vereinigt wurden, die als solche verschwanden. Also: eine Kommune vieler Menschen aus vielen Kommunen vieler Menschen.
2019 ist Bielefeld eine Stadt mit 340.000 Menschen, hat durch Zuzug und Zuwächse seine Einwohnerschaft innerhalb von 200 Jahren nahezu verhundertfacht. Außer einem Fluss und einem Flughafen gibt es kaum etwas, das fehlt.
Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit behauptete Bielefeld gegenüber den Landesherren und Dynastien stets seinen Status als Stadt der Kaufleute, ab dem 19. Jh. der Bürger, seit 1919/45 der Bürgerinnen und Bürger – auch und stets der zugewanderten. Bereits seit der Ersterwähnung 1214, in der Frühen Neuzeit und während der Industrialisierung hat es Formen der Zuwanderung gegeben: fremde Kaufleute, Verwaltungsbeamte, Arbeitskräfte. Um 1850 hatte Bielefeld noch etwa 10.000 Einwohner, 70 Jahre später waren es bereits 80.000. Parallel wuchs es durch die Zuwanderung von Arbeitskräften im Rahmen der Industrialisierung. Die Stammbevölkerung blieb in der prosperierenden Stadt, weitere Menschen wurden angezogen – fanden berufliche und persönliche Zukunft. Seit den 1950er-Jahren wanderten Menschen v. a. aus Südeuropa zu, um Arbeit in Bielefeld zu finden, und trugen bei zum Wirtschaftswunder. Zuwanderung hat Tradition in Bielefeld; sie machte und macht die Stadt und ihre Gesellschaft erfolgreich.
Das Mittelalter
Stadtgründung – Stadtentwicklung
Das 2014 gefeierte 800. Stadtjubiläum basierte auf einer indirekten Nennung als Stadt 1214 – als Siedlungsname begegnet »Bielefeld« in Varianten schon früher. Bereits Mitte des 9. Jhs. (um 856–866) erscheint der Name in den Corveyer Traditionen als »Bylanuelde« (»u« als »v« zu lesen), als ein Bernward eine dort gelegene landwirtschaftliche Fläche mit angrenzendem Wald dem Kloster Corvey übertrug. Zwischen 1015 und 1036 erwähnt die »Vita Meinwerci« über den Paderborner Bischof Meinwerk (ca. 975–1036) einen kinderlosen Tiedi als Schenker von Flächen »in Biliuelde«. Jedoch ist keine der beiden Nennungen zeitgenössisch, sondern nur in späteren Abschriften überliefert. Dennoch beziehen sie sich auf Vorgängersiedlungen des heutigen Bielefeld, eine – wie auch immer geartete – vorstädtische Ansiedlung. 2017 wurden bei Ausgrabungen am Alten Markt auf dem Areal der Lampe-Bank Reste eines Pfostenhauses gefunden, das als Wohnhaus eines der frühen Höfe gedeutet wird, die etwa seit dem 8./9. Jh. Am Bach, an der Welle, am Waldhof und eben am heutigen Alten Markt gestanden haben sollen.
Der Name »Bielefeld« wurde zuletzt als eine alte Raumbezeichnung für das Gebiet am nördlichen Ausgang des Bielefelder Passes gedeutet. Demnach wird das Grundwort »feld« durch das Bestimmungswort »Biele« ergänzt, dessen Wurzel in »bī-l« (schlagen, spalten) zu finden ist. Gemeinsam bezeichnen sie eine Fläche am »Spalt im Höhenzug des Teutoburger Waldes«. Frühere Deutungen, die auf einen Personennamen »Bili« weisen oder unterschiedlichste Interpretationen des »Biele/Bile/Byle« vorlegten (schön/angenehm, Beil, ansteigender Stein, Jagdplatz, Bühl/Hügel, Grenzpfahl etc.), sind damit bis zum Vorliegen schlüssiger Neuinterpretationen zurückzuweisen.
HINTERGRUND
DIE GRAFEN VON RAVENSBERG
Hervorgegangen ist das Geschlecht aus den Grafen von Calvelage, die seit 1070 bei Vechta begütert waren, um 1100 aber Grundbesitz bei Halle/W. erwarben und die Burg Ravensberg errichteten, nach der sie sich ab 1140 benannten. Die Grafschaft Ravensberg erreichte 1334 zwischen Limburg, Vlotho, Bielefeld und Versmold ihre größte Ausdehnung. Eine der fünf Landesburgen der Ravensberger war die Sparrenburg. Der gräfliche Sparrenschild erscheint noch heute im Bielefelder Stadtsiegel und -wappen.
Bielefelds Stadtgründer war Graf Hermann von Ravensberg. Sein Sohn Ludwig regierte nach einer Teilung von 1220 bis 1249 nur in Ravensberg, sein älterer Bruder Otto bis 1244 in Vlotho und Vechta. Ludwigs Sohn Otto III. herrschte wieder über alle Landesteile, gefolgt von Otto IV. und Bernhard, der als viertgeborener Sohn nach einem Studium in Bologna für den geistlichen Stand vorgesehen war. Er übernahm nach dem Tod Ottos IV. die Regentschaft, behielt aber seine geistlichen Ämter bei, blieb demnach unverheiratet. Er sorgte dafür, dass mit dem Aussterben der Ravensberger nach seinem Tod 1346 die Grafschaft über seine Nichte Margarethe, eine Tochter Ottos IV., an die Grafen von Jülich fiel.
Die Ersterwähnung als Stadt wird aus der Nennung eines Mannes und Amtsträgers 1214 abgeleitet, der mit anderen einen Vertrag zwischen Graf Hermann von Ravensberg und dem Kloster Marienfeld bezeugte: ein Ratbertus, »iudice in bileuelde«, also der Richter Ratbert zu Bielefeld. Die inzwischen akzeptierte Argumentationskette, dass ein Stadtrichter ein eigenes Stadtgericht und dieses wiederum einen selbständigen Stadtrechtsbezirk voraussetzt, gewinnt durch die Erwähnung des Dinggrafs Hermann in eben jenem Vertrag zusätzliche Plausibilität, denn ein Dinggraf wiederum war für den ländlichen Rechtsraum zuständig, so dass zwei voneinander getrennte Gerichtsbezirke existierten. Als die Stadt Bielefeld 1921 ihr 700. Jubiläum aufgrund der Erwähnung von »Bürgern« (cives) 1221 feierte, war der Vertrag von 1214 zwar bekannt, jedoch die dargelegte Ableitung noch nicht entwickelt worden. 1233 endlich wurden schließlich auch die »Stadt« (oppidum) und deren »Gründung« (fundatio) ausdrücklich genannt, jedoch ist eine Gründungsurkunde nicht überliefert.
Wappen der Grafen von Ravensberg aus der Chronik Wolff Ernst Alemans (1654–1725); im Hintergrund das Wappen Bielefelds.
1214 spätestens also gründete Graf Hermann von Ravensberg an günstiger Lage eine Stadt: Am Bielefelder Pass, nicht da, wo heute die A2 verläuft, sondern wo die Eisenbahn seit 1847 ihren Weg findet. Genau dort wurde eine Siedlung mit Stadtrechten ausgestattet. Die Erhebung zur Stadt gerade in diesem Zeitraum ergibt Sinn und lag gewissermaßen im Trend: Nach dem Sturz des Welfenherzogs Heinrichs des Löwen, der im Reichsnorden einen eigenen Herrschaftsraum zu bilden versucht hatte, konnten die kleineren Landesherren (Bischöfe, Grafen, Edelherren) ihre Territorien neu entwickeln. Um 1200 wurden im ostwestfälischen Raum etliche Städte gegründet, um die verschiedenen Territorien auch wirtschaftlich abzusichern. Mit Lippstadt (1185) und Lemgo (1189/90) hatten die Edelherren zur Lippe in direkter Nachbarschaft echte Gründungsstädte entstehen lassen, Herford dagegen war bereits eine etablierte Stadt. Das westfälische Städtenetz mit den Bischofssitzen Münster, Minden und Paderborn sowie den Handelsstädten Soest und Dortmund war zu dieser Zeit weitmaschig, und es gab auch zwischen diesen zunächst nur lose Verflechtungen. Insofern war es eine kluge Entscheidung, die Grafschaft mit einer eigenen Stadt zu versehen, die allein den Ravensbergern verpflichtet war, während das benachbarte Herford v. a. unter dem Einfluss der Äbtissin stand und an vielen anderen Stellen in der Grafschaft verschiedene Rechtsansprüche und Einflusszonen sich überlagerten. Zuvor waren die Ravensberger bei Borgholzhausen mit einer ersten Stadtgründung gescheitert, als der Ausbau des Burgfleckens Cleve im Schatten ihrer Burg Ravensberg über Ansätze nicht hinausgelangte.
Die erfolgreiche Stadtgründung Bielefelds selbst wird möglicherweise erst in der 2. Jahreshälfte 1214 erfolgt sein, nachdem sich die politischen Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geklärt hatten. Dort waren zwischenzeitlich gleich drei Könige ausgerufen worden, ehe sich der staufische Anwärter Friedrich II. (1194–1250), zu dessen Parteigängern auch Hermann von Ravensberg zählte, nach der Schlacht von Bouvines (27. Juli 1214) endgültig hatte durchsetzen können.
Der Platz für die Bielefelder Stadtgründung war mit Bedacht gewählt, denn hier führte vielleicht nicht unbedingt ein Premiumhandelsweg, aber eine dennoch wichtige Handelsroute entlang, die für Kaufleute so attraktiv war, dass sie sich in Bielefeld niederließen und dem Ravensberger Grafen auch Geld einbrachten. Dies dürfte ein wesentlicher Impetus des Landesherrn gewesen sein: mitspielen im Konzert der Regionalmächtigen durch Reputation, Bevölkerung, Einnahmen und einen neuen festen Platz.
Der Anlass zum Aufstieg zur Stadt ist nicht mit letzter Bestimmtheit zu greifen. Fakt ist lediglich: Es gab keine römischen Vorgänger, Bielefeld war keine Domstadt, es waren keine speziellen Produkte (Metalle, Salz) ausschlaggebend, es war kein militärischer Stützpunkt einzurichten und die Residenz lag zunächst auch auf der Burg Ravensberg, die der bis 1346 regierenden Dynastie den Namen gab. Wenn also die Stadtgründung hier und nicht in Brackwede, Heepen, Schildesche oder Dornberg erfolgte, dann könnte möglicherweise ein weiteres Motiv hinzugetreten sein, und zwar das der Gestaltbarkeit. Damit ist freilich nicht gemeint, dass die Stadt eine geplante äußere Gestalt erhalten sollte, sondern dass der gräfliche Gründer den Rechtsbezirk autonom, d. h. ungeteilt ausgestalten, ihm weitgehend unbeeinflusst Anreize verleihen und seinen Bewohnern Grenzen setzen konnte. So wie Bernhard II. Edelherr zur Lippe die Städte Lemgo und Lippstadt neu gegründet und diese mit Privilegien ausgestattet hatte, wird den Ravensbergern ein ähnliches Motiv vorgeschwebt haben, als sie Bielefeld ausbauten oder gar erst gründeten. Eine solche Gründungsstadt bot die Chance, ein Gemeinwesen nach eigenen Vorstellungen einzurichten, ohne äußere Einflüsse anderer Landesherren, wobei es jedoch rechtliche Gemengelagen und amorphe Einflusszonen gab – Grenzen waren damals allenfalls Konturen, aber keine scharfen Trennlinien.
Die Kaufleute und neuen Bielefelder ließen sie sich nicht auf einer völlig unbebauten und von menschlichen Einflüssen unbeeinflussten Vegetation nieder. Vielmehr weisen Grabungsfunde aus dem Stadtgebiet und auch der Welle auf eine Besiedlung bereits im 8. Jh. hin, Anfang des 9. Jhs. wird gar ein bylanuelde erwähnt und 1015 ein biliuelde. Es gab also keine »Vor-Stadt«, sondern eine wie auch immer geartete und entwickelte Ansiedlung, die als