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Invasion der Außerdirdischen in Berlin Mitte
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eBook529 Seiten7 Stunden

Invasion der Außerdirdischen in Berlin Mitte

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Über dieses E-Book

Wir schreiben das Jahr 2001. Außerirdische überfallen die Erde und es liegt an einer Gruppe von berliner Studenten, die Welt zu retten. Leider gelingt der Hobby-Widerstandsgruppe nicht so alles nach Plan, und bald schon werden die vermeintlichen Jäger zu den Gejagten.

SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Lissabon
Erscheinungsdatum1. Sept. 2016
ISBN9781539333685
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    Buchvorschau

    Invasion der Außerdirdischen in Berlin Mitte - Richard Loewe

    Die Invasion[Fußnote 1]

    Berlin-Friedrichshain, 11:37 Uhr – Tag der Invasion

    Max legte eine neue Scheibe auf. Er liebte das Geräusch, wenn sich die Nadel auf das Vinyl senkte und in die Platte kratzte. Seine Freunde mochten ihn für noch so antiquiert halten, aber keine kalte CD und kein blasses MP3 aus seiner Sammlung machten ihm ebenso viel Freude wie sein guter, alter Thorens-Plattenspieler. Er ließ sich in einen Sessel fallen, schob sich die Dreadlocks aus dem Gesicht, und lauschte einige Minuten den vertrauten Klängen. Dann, fand er, war es an der Zeit für einen Joint, den er sich aus purem Gras wie eine normale Zigarette drehte. Tausendmal schon hatte Nina ihm zu erklären versucht, dass Marihuana genauso gefährlich wie Tabak war, wenn man es inhalierte. Sie hatte ja keine Ahnung, was für giftiges Zeugs in handelsüblichen Tabakwaren zu finden war! Nicht, dass er selbst wirklich in der Lage gewesen wäre, die Inhaltsstoffe aufzuzählen. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatte er vor langer Zeit beschlossen, aus gesundheitlichen Gründen beim altbewährten, biologisch-dynamisch in Holland großgezogenen Gras zu bleiben. Schließlich lebte man ja nur einmal – falls man nicht gerade wie Nina an Reinkarnation glaubte.

    Er wandte sich seinem Computer zu. Es galt, etwas Sinnvolles zu tun und sich endlich an diesen verflixten Aufsatz zu Flussläufen in Papua Neuguinea machen. Er warf den Browser an, aber das blöde Ding zeigte einen Fehler ›404 - Page not found‹ an. Dann wohl doch keine Hausarbeit! Wenn er ehrlich sein sollte, verdiente er als DJ ausreichend Kohle, um über die Runden zu kommen, und schien zur Wissenschaft sowieso nicht allzu viel zu taugen. Übermäßig Arbeit und vor allem schrecklich viel Mathematik. Selbst mit Tobis Hilfe war er nur mit Mühe durch einige Prüfungen gekommen, dabei stand er erst am Anfang seines Geografiestudiums. Wer hätte gedacht, dass man sich in diesem Fach mit Projektionsmethoden und Physik beschäftigen musste? ›Wahrscheinlich jeder, der sich vorm Einschreiben mal informiert hätte‹, beantwortete er die Frage selbst und kicherte in sich hinein. Egal, das Internet funktionierte sowieso nicht. Eigentlich eine Sauerei, schließlich zahlte er dafür. Er griff zum Telefon. Man durfte ja wohl erwarten, dass eine teure 24/7 Flatrate auch vierundzwanzig Stunden am Tag lief! Statt bei seinem Provider anzurufen, wo man ihn in eine endlose Warteschleife gesteckt hätte, wählte er jedoch ganz automatisch Tobis Nummer. Wäre doch gelacht, wenn sich der alte Stubenhocker nicht zu einem kleinen Team-Deathmatch in ihrem Lieblingsshooter herausfordern ließe, oder, was noch besser wäre, sie könnten sich zu einem gemeinsamen Bierchen treffen. Immer schwerer wurde es, den Physikus zu überreden, mal von der Doktorarbeit abzulassen und an was Alltägliches zu denken. Von den vielen Zahlen und Formeln musste ihm ja schon der Kopf schwirren!

    Max wählte und nichts geschah. Er prüfte den Akku und den Netzwerkindikator, aber beide Anzeigen standen auf voll. Da bemerkte er auf dem Display die Nachricht ›Netzwerk überlastet‹. Er runzelte die Stirn. Was zum Geier konnte an einem Werktag um elf Uhr morgens so wichtig sein, dass alle gleichzeitig telefonieren wollten? War die Love-Parade wieder nach Berlin gekommen? Gab es die Love-Parade überhaupt noch? Er glaubte, sich vage zu erinnern, dass sie schon vor unendlich langer Zeit abgeschafft worden war. Fand heute etwa ein Berlinmarathon statt? Karneval der Kulturen? Christopher Street Day? Er hatte keine Ahnung und wischte die mühseligen Spekulationen beiseite. Dann rief er seinen Freund eben später an, zumal sich dadurch die Wahrscheinlichkeit drastisch erhöhte, dass er den erfolgreichen Doktoranden tatsächlich zu einem Bierchen oder Pfeifchen überreden konnte. Tobi war immer so unglaublich um sein Hirn besorgt, dabei würde ihm ein bisschen mehr Dummheit gar nicht schaden.

    Eine Welle von Hunger erfasste Max mit einem Mal. Kein Wunder, er hatte noch nicht gefrühstückt. Aus unerfindlichen Gründen bekam er Lust auf ein Glas Orangensaft und eine Salamipizza. Angesichts der Tatsache, dass in seinem Kühlschrank gähnende Leere herrschte, beschloss er kurzerhand, im Laden um die Ecke eben diese Waren käuflich zu erwerben. Der Spätkauf war ziemlich teuer und es war auch ganz und gar nicht spät, aber er unterstützte den örtlichen Einzelhandel – vor allem, wenn er wirklich gleich eine Straße weiter zu finden war und man gelegentlich anschreiben lassen konnte.

    Wie fast jeden Tag im gefürchteten Berliner Winter bedeckte eine undurchdringliche Schicht Wolken den Himmel, als habe jemand eine große, ungewaschene, heftig beschlagene und grau angeschimmelte Käseglocke über die Stadt gestülpt. Max konnte dieses Wetter nicht ausstehen, weshalb er in dieser unwirtlichen Jahreszeit oft lange verreiste. Unter dem Vorwand eines Geografiestudiums ließen sich selbst ausgedehnte Exkursionen nach Indonesien oder Neuseeland rechtfertigen. Diesmal hatten seine bescheidenen Geldreserven zu seinem Leidwesen allerdings nur zu einer Art Skiurlaub in Kroatien gereicht und waren nun vollständig erschöpft. Er würde wochenlang in Klubs auflegen müssen, bevor er sich wieder aus dem Staub machen konnte. Eine zweite Reise nach Indien stand ganz oben auf der Liste, aber leider hatte es sich Nina in den Kopf gesetzt, unbedingt Neukaledonien zu besuchen, was sein Budget entschieden überschreiten dürfte.

    Auf dem Weg zum Spätkauf schlenderte ihm Tobi entgegen, der zu ihm den geradezu perfekten Kontrapunkt setzte, seit er mit seiner Doktorarbeit begonnen hatte. Max trug eine dreckige Jeans, Turnschuhe, eine grüne Parka mit dem aufgenähten Wappen von Jamaika und einer Piratenflagge als Schulterabzeichen und darunter ein für diese Jahreszeit viel zu leichtes weißes T-Shirt mit der Aufschrift ›Fuck that shit‹. Tobi hingegen bevorzugte neuerdings gepflegte schwarz lackierte Halbschuhe, dunkle Bundfaltenhosen, ein dezent rot-grün kariertes Hemd und darüber einen dunkelgrünen Pollunder. Ein spießiger, halblanger Wintermantel rundete das Bild ab. Max fielen die langen, dunkelblonden Rastalocken weit über die Schultern, während Tobis kurze schwarze Haare allmählich einer Stirnglatze wichen. Trotz der äußerlichen Gegensätze waren sie beste Freunde, und überhaupt kleidete sich Tobi erst seit einiger Zeit auf solche Weise. Er hielt Tutorien und wollte nach der Promotion eine Postdocstelle ergattern, da war es seinen Erklärungen zufolge nicht mehr angebracht mit T-Shirts herumzulaufen, auf denen die Namen von Computerspielen oder Sprüche wie ›Fuck that shit‹ zu lesen waren. Ein gewisses Verständnis hatte Max dafür, wenn er auch fand, dass sein Freund es übertrieb.

    »Yeah, Mann, ich hab versucht dich anzurufen, aber das Telefon hat nicht funktioniert«, begrüßte er ihn und hob dabei lässig den Arm. ›Eigentlich ziemlich genau der ungenaue Hitlergruß, wie ihn Hitler selber gemacht hatte‹, fuhr ihm mit einer gewissen Belustigung durch den Kopf.

    »Lebst du hinterm Mond?«, rief ihm Tobi entgegen. »Nichts geht mehr!«

    »Jep, Internet ist auch kaputt. Hör zu, ich will gerade zum Spätkauf –«

    »Es ist noch nicht mal zwölf«, unterbrach ihn sein Freund, der immer alles schrecklich genau nahm.

    »Dann eben zum Frühkauf. Ich will frühstücken.«

    »Ja, Mann, du bist nicht der Einzige, der einkaufen ist«, merkte der Physiker mit der ihm üblichen Ironie in der Stimme an, und tatsächlich hatte er mal wieder recht: Vor dem Laden an der Ecke hatte sich eine lange Schlange gebildet.

    »Ist heute Christopher Street Day? Karneval der Kulturen? Oder gibt es bei Knolle irgendwas gratis?«

    »Schau dich mal um, sieht das so aus? Kommt dir nichts merkwürdig vor?«

    Max’ Blick schweifte über die Menschentrauben auf den Straßen und er sah sich gezwungen, seinem Freund schon wieder recht geben. Jetzt, da Tobi seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung gelenkt hatte, nahmen seine vom Marihuana geschärften Sinne unzweifelhaft wahr, dass im Viertel Eigenartiges vor sich ging. Menschen standen auf den Gehsteigen und unterhielten sich, manche flüsterten verhalten, andere stritten sich lautstark, und eine Reihe alteingesessener Berliner Familien packten hastig allen möglichen Krempel, Koffer und große Plastiktüten, in ihre Autos. Familienväter schleppten Kanister mit Wasser und schwere Einkäufen nach Hause. Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann hatte eine Schubkarre vollgepackt, die an jedem Bordstein umzukippen drohte. Ehepaare zankten miteinander vor ihren Kindern, und alle schienen sie es irgendwie eilig zu haben. Auch die Straßen waren ungewöhnlich voll, normalerweise waren die meisten zu dieser Stunde längst auf Arbeit, heute hingegen herrschten Stau und Chaos, als hätten die Einwohner der Stadt in stillschweigender Übereinkunft beschlossen, gleichzeitig an- und abzureisen.

    »Die Schulferien?«, murmelte Max unsicher. Eigentlich sah das Ganze eher aus, als erwarteten seine Nachbarn die Sintflut, und es stieg in ihm das Gefühl hoch, mal wieder ein spannendes Großereignis verpasst zu haben.

    »Quatsch Ferienbeginn!«, mokierte sich Tobi. »Es sind keine Ferien.«

    Max zuckte mit den Schultern und reihte sich in die Schlange zu Knolles Geschäft ein. »Du weißt doch irgendwas, also spann mich nicht auf die Folter! Was ist los?«

    »Ich weiß nicht mehr, als jeder andere. Es stimmt was nicht. Fernsehen, Radio, Internet, und Telefon sind ausgefallen – alle gleichzeitig.«

    »Hm, Stromausfall?«, tippte Max auf gut Glück.

    »Der Strom funktioniert doch! Keiner hat eine Ahnung, was passiert ist, aber die Menschen glauben, dass es was Schlimmes sein muss.«

    Kaum hatte der Physiker den Satz beendet, sprang Max vom Randstein aus ein älterer Mann mit weißen Haaren an die Kehle, packte den Kragen seiner Parka, und schüttelte ihn. »Das ist die Apokalypse! Der Untergang ist nahe!«

    »Für dich vielleicht«, erwiderte der Rastamann, wandte sich geschickt aus dem Griff, was er bei Demonstrationen gelernt hatte, und stieß ihn von sich. Bei einem gemütlichen Bier oder einem Joint zugequatscht zu werden störte ihn nicht, aber er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man ihn von der Seite anfiel. Schon gar nicht, wenn er bekifft war.

    Ein Polizeiauto schlich an ihnen vorbei. Es passte gerade zwischen die Kolonne von Autos und den Bürgersteig und fuhr in dem berufstypischen Schritttempo. Wer Gutes im Schilde führte, kroch doch nicht im Schneckentempo durch die Straßen! Außerdem war es seiner Meinung nach unmöglich, ohne Änderungen am Getriebe so langsam zu fahren. Die Sirene des Blaulichtfahrzeuges heulte laut auf und eine unverständliche Lautsprecherdurchsage folgte, die wohl ›Der rote Toyota da vorne in die Spur zurückscheren‹ bedeuten sollte, aber wirklich nur als ›Da Rotentoita davon Indie-Spurz scheren‹ aus dem Lautsprecher kam.

    »Können die keine Musik auflegen, um die Menschen zu beruhigen? Man könnte meinen, das sei das Ende der Welt. Dabei ist doch bloß das Internet ausgefallen!«

    »Das ist für mich das Gleiche«, erklärte Tobi und spielte damit auf seine ausgeprägte Netz-Sucht an, die ihn anscheinend nicht davon abhielt, nebenbei noch eine Doktorarbeit in theoretischer Physik zu schreiben.

    Keiner hatte eine Ahnung, wie Knolle eigentlich hieß. Sie nannten ihn einfach nur so wegen seiner Nase, die Erinnerungen an alte französische Filme mit Jean Gabin weckte. Der Mann war ein Urgestein aus dem Osten, nicht zugezogen wie fast alle anderen im Bezirk, und stand zu jeder Tages- und Nachtzeit im Laden hinter dem Tresen, als gehöre er zum unverrückbaren Inventar. Er schien niemals zu schlafen. Dazu fehlte ihm wohl die Zeit, erfüllte er im Viertel doch viele lebenswichtige Funktionen: Nicht nur versorgte er sämtliche Alkoholiker von Friedrichshain mit Stoff, er war auch für die Ernährung unzähliger Einwohner zuständig, die entweder nicht in der Lage oder wie Max nicht gewillt waren, bis zum nächsten Supermarkt zu laufen.

    »Was darf’s denn sein?«, erkundigte er sich mit einem immer gleichen, leicht spöttischen Unterton in der Stimme, der neben der Nase ebenfalls zu seinen Markenzeichen gehörte. Max schob eine Tiefkühlpizza und eine Tüte Saft über den Tresen. »Wollt ihr nicht noch ein bisschen Wasser kaufen?«, fragte Knolle nach. »Wird bald alle sein.«

    »Vielleicht sollten wir tatsächlich –«, setzte Tobi an, doch sein Freund unterbrach ihn: »Brauchen wir nicht. Haben Sie ne Ahnung, was los ist?«

    »Atomkrieg«, erklärte der Geschäftsmann beiläufig, als sprächen sie übers Wetter. Mit seinen rot geränderten, wässrigen Augen erinnerte er ihn immer an einen Grottenolm. Ob er jemals die Gegend außerhalb seines Geschäftes bei Tageslicht gesehen hatte? Er kam so nahe, dass Max seinen Atem spürte, und flüsterte: »Deshalb hamstern die Leute so viel. Werd den Laden bald dicht machen. Letzte Chance, noch Wasser und Batterien zu kaufen.«

    Max schob einen Zehneuroschein über die Theke. »Atomkrieg? So ein Schwachsinn!«

    »Oder ein Terrorattentat«, ergänzte Knolle. »Jedenfalls was Schlimmes, sagen die Leute.«

    Sie verließen das Geschäft mit zwei Sechserpacken Bier, das sich Max zufolge bestens als Ersatz für Wasser eignen würde, und einigen eingeschweißten Batterien, auf die Tobi bestanden hatte. Keiner von ihnen glaubte den Gerüchten, aber man wusste ja nie. Vielleicht gab es irgendwo in der Nähe eine Havarie in irgendwelchen Verteilerstationen, ein Brand etwa, und da mochte bei den Aufräumarbeiten durchaus auch noch der Strom ausfallen.

    Die Sirene eines Polizeiautos schreckte sie auf, als sie den Laden verließen. Auf breitem Berlinerisch ertönte wieder eine Lautsprecherdurchsage: »Bleiben sie zu Hause in ihren Wohnungen, die Straßen sin’ dicht. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung und wir wissen och nüscht mehr.«

    »Was für ein Schwachsinn!«, regte sich Tobi auf, der schon immer ein Faible für scheinbare Nebensächlichkeiten gehabt hatte. »Wie können die sagen, dass wir uns keine Sorgen machen sollen, wenn sie selbst keine Ahnung haben, was los ist?«

    Im Hausflur erwartete sie Nina. Die zierliche blonde Studentin sprang auf, als die beiden eintraten, und fiel Max in die Arme, als habe er sie gerade aus einer Burg befreit. Diese Stimmung mochte er an ihr am liebsten. Leider war sie in letzter Zeit häufiger in einer Laune, die er im Stillen für sich als ›Nervmeckerei‹ bezeichnete.

    »Max, was bin ich froh, dass du da bist!«, keuchte sie, als sei er ohne sie für ein paar Monate in den Urlaub gefahren. Dabei konnten die Einkäufe nicht länger als zehn Minuten gedauert haben. »Meine Nachbarn behaupten, dass die Chinesen in Süddeutschland einmarschiert sind!«

    »Unwahrscheinlich.«

    »Genau, so ein Quatsch!«, bestätigte sie mit heftigem Kopfnicken. »Aber irgendwas muss passiert sein!«

    »Vielleicht geht’s Fernsehen wieder.«

    Er schob die Pizza in den Ofen und sie machten es sich gemeinsam in dem geräumigen Zimmer bequem. Für eine lächerliche Miete von 412 Euro kalt war seine Dachgeschosswohnung der pure Luxus. Sie bestand aus einer kleinen, stets unaufgeräumten Küche und zwei hellen Räumen mit abgeschliffenen Holzdielen, die ein breiter Durchgang miteinander verband, aus dem er die Tür herausgenommen hatte. Mit dem Schwingschleifer hatte er sie eigenhändig bearbeitet und lackiert, und verwandte sie seither als riesigen Schreibtisch, an dem allerdings nicht allzu viel geschrieben wurde. Kartons und ein großer Aschenbecher, sowie eine offene Tüte mit Gras, und ein paar Bücher über die Regenwälder Papua Neuguineas befanden sich darauf, die er längst wieder in die Staatsbibliothek hätte bringen müssen. Ihm schauderte vor den Mahngebühren. Aber wie sollte er sie zurückbringen, wenn man ihn dort mittlerweile zur Persona non grata erklärt hatte? Bei seinen Gästen beliebter war ohnehin die Sitzecke, die aus einigen alten Polstern und einem mit Sand gefüllten Fernsehkissen bestand. Eine Yuccapalme, eine falsch gestimmte Sitar aus Indien, und eine afrikanische Bongo-Trommel, auf der zufälligerweise auch genau ein Teller mit Pizza Platz fand, sorgten zusammen mit einem Ikearegal der Marke ›Ivar‹, in dem sich Bücher und Kisten mit Dias ohne jedes Sortiersystem stapelten, für eine behagliche Wohnatmosphäre. Besonders ins Auge fiel Besuchern die Plattensammlung, die sich über zwei Reihen an der Wand entlang bis in das kleinere Schlafzimmer erstreckte. Die geliebten Scheiben waren verdammt schwer und ruhten daher auf massiven Brettern, deren Metallhalterungen Max persönlich verdübelt hatte. Die meisten käuflichen Regale wären unter der Last zusammengebrochen.

    Nina und Tobi lümmelten bereits erwartungsvoll auf den Polstern wie bei einem DVD-Abend, als er den Fernseher anschaltete und ein altertümliches Testbild erschien. Darunter lief der Text ›technische Störung – wir bitten um Geduld‹ und es erklang ein klassisches Pausenfüllerlied, das Max als DJ sofort erkannte.[Fußnote 2]

    »Bei der Musik bekomme ich auch langsam Angst«, kommentierte Tobi die Musikauswahl.

    Sie teilten sich die Pizza, Max stellte den Ton leise und legte stattdessen eine seiner Lieblingsscheiben auf,[Fußnote 3] und dazu gab es einen kräftigen Joint. Dann sahen sie sich auf seinem PC einen Kinofilm an, den er schon Wochen zuvor aus dem Internet gezogen hatte,[Fußnote 4] und schliefen, vom starken Marihuana ermattet, auf den bequemen Polstern ein.

    Als Max erwachte, war der Bildschirm schwarz, obwohl er eigentlich das Ende des Films hätte anzeigen sollen. Er prüfte den Strom, aber das grüne Licht des Monitors leuchtete. ›Der Bildschirmschoner‹, dachte er sich und rüttelte an der Maus herum. Nichts tat sich. Also weckte er Tobi, der sich schläfrig die Augen rieb.

    »Mann, das Zeug war stark«, murmelte der Physiker. »Ich kann mich kaum an den Film erinnern. Hätte nicht mitrauchen sollen.«

    »Du verträgst nichts mehr, weil du zu viel vor deinen Gleichungen hockst«, konterte Max und wies auf den dunklen Bildschirm. »Der Monitor hat seinen Geist aufgegeben. Kannst du dir den mal anschauen?«

    Abgesehen davon, dass er ihn zu seinen besten Freunden zählte, war Tobi nebenbei noch sein unersetzlicher Techniker, der einfach alles und jedes Gerät reparieren konnte. Zu Hause bei sich lötete er sogar Bauteile aus den Platinen aus und setzte neue wieder ein, was heutzutage fast niemand mehr beherrschte. Ihm zufolge lag das daran, dass er zuerst Elektrotechnik studiert hatte und später in die Experimentalphysik und von dort in die theoretische ›geraten‹ war. Max fand, das konnte nur einen kleinen Teil der Erklärung ausmachen. Da musste auch etwas wie Magie im Spiel sein. Diesmal jedoch gab der Student ungewöhnlicherweise schon nach kurzer Zeit auf.

    »Komisch, die Graka[Fußnote 5] kann’s nicht sein«, murmelte er. »Der Monitor funktioniert, aber sogar das BIOS kommt nicht mehr hoch. Sieht nach Hardware-Versagen aus.«

    »Scheiße, ich habe meine ganzen Sachen drauf und muss bald eine Hausarbeit abgeben.«

    Der Physiker bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ohne Sicherheitskopie?«

    Max schob sich eine Dreadlock aus dem Gesicht, dachte angestrengt nach und schüttelte den Kopf. Vor ein paar Monaten hatte er einmal ein Back-up gezogen – nicht viel hatte sich seitdem getan, aber das Wenige, das er geschrieben hatte, fand sich nicht auf der DVD. Tobi versprach ihm, sich den Rechner mit einigen Geräten aus seinem Hobby-Labor noch mal anzusehen, die er von Zuhause holen wollte. Sie verabredeten sich für später und er machte sich auf den Weg. Auf ihn war stets Verlass! Um die Zeit zu überbücken, drehte sich Max einen neuen Joint und gesellte sich dann zu seiner munter schnarchenden Freundin aufs Polster.

    ***

    Berlin-Kreuzberg, 17:47 Uhr – Tag der Invasion

    Die Dunkelheit war hereingebrochen und es war empfindlich kalt. Die drei Freunde trafen sich trotz des schlechten Wetters in der ›Ankerklause‹ am Landwehrkanal in Kreuzberg. Im Innern des Kneipenschiffes war es zum Brechen voll und so machten sie es sich auf dem Teil des Bootes bequem, der im Freien lag. Auf dem Schiff, das schon lange keine fernen Ufer mehr gesehen hatte, war von der Aufregung und Panik auf den Straßen nichts zu spüren. Die Gäste zwängten sich wie üblich zwischen die engen Bänke und erfreuten sich an diversen alkoholischen Getränken. Musik aus der Jukebox drang nach draußen.[Fußnote 6] Hier fühlte sich Max zu Hause.

    Tobi zauberte aus seinem Rucksack, der von programmierbaren Taschenrechnern über Werkzeuge zum Knacken von Schlössern so ziemlich alles zu enthalten schien, was man sich vorstellen konnte, einen alten Laptop hervor, der selbst fast die Größe eines Koffers hatte.

    »Was ist das denn für ein Teil? Aus den 90er Jahren?«, wunderte sich Nina, die inzwischen wieder von den Toten auferstanden war und an einem Milchkaffee nippte. Der Joint am frühen Nachmittag hatte sie genau wie Tobi umgehauen. Ab und dann vergaß Max einfach, dass seine fleißigen Studentenfreunde längst nicht mehr so viel vertrugen wie er.

    Mit einem triumphierenden Grinsen klappte der Physiker den Koffer auf und mit einem Piepsen erwachte das Gerät aus dem Schlaf. »Das ist ein altes Panasonic Toughbook«, erklärte er, sah sich jedoch zu weiteren Ausführungen gezwungen, als er das blanke Stieren von Affen in den Blicken seiner Freunde bemerkte. »Das Teil ist praktisch unzerstörbar. Dürfte tatsächlich so etwa aus den 90ern stammen. Ist gebraucht gekauft. Neu kosten die mehr, als mein Geldbeutel erlauben würde.«

    »Und wieso hast du’s mitgebracht?«, erkundigte sich Max, und bereute gleich darauf, die Frage gestellt zu haben. Tobi war für seine begeisterten und leider mitunter etwas langwierigen Technikerläuterungen wohlbekannt.

    »Weil ich euch was zeigen wollte.«

    Er startete auf einer Kommandozeile ein Programm, und der Bildschirm füllte sich von einem Rand zum anderen mit kryptischen Zahlenkolonnen.

    »Wieso sind da Buchstaben dabei?«, wunderte sich Nina.

    »Hexadezimalsystem«, erwiderte Tobi und sparte sich weitere Erklärungen dazu, um keine Zeit zu verlieren. »Das ist ein Debugger und Disassembler, er übersetzt den Maschinencode des Computers in lesbare Befehle.«

    »Sieht für mich nicht besonders lesbar aus«, meinte Max, dessen Aufmerksamkeit schon zu erlahmen begann. Nina gähnte.

    »Das ist ja auch der Speicherinhalt«, entgegnete der Physiker irritiert. Er drückte eine Taste, und eine nicht minder unverständliche Kolonne von Buchstaben erschien auf dem Bildschirm. »Dissassembler. Was ihr hier vor euch seht, ist so ziemlich der komplexeste Virus, der je für einen Computer geschrieben worden ist. Ich verstehe nicht einmal ein Prozent davon und kenne mich eigentlich mit solchen Sachen gut aus.«

    »Und dieses Ding hat meinen PC zerstört?«, mutmaßte Max und nahm einen Schluck Bier.

    »Jep. Hat glatt dein BIOS neu geflasht! Aber nicht nur das, auch meine Computer hat er geschreddert, oder vielmehr alle, bis auf diesen hier.«

    »Wieso den nicht?«

    Auf diese Frage hatte er nur gewartet. Freudig schob er sich die Brille zurecht und erklärte: »Die meisten neueren Maschinen besitzen einen sogenannten TPM-Chip Version 2.0 oder höher, und jedes Gerät damit hat der Virus einfach außer Kraft gesetzt. Das Toughbook war seiner Zeit voraus, es hat TPM 1.2. Das ist inzwischen vollkommen veraltet, aber es hat dem Angriff widerstanden.«

    »Typisch mal wieder«, murmelte Max, »die alten Chips sind besser.«

    »So kann man das nicht sagen«, erwiderte sein Freund, den solche Kommentare stets leicht verärgerten, und berichtete ihnen, was er sonst noch herausgefunden hatte. Allem Anschein nach war eine ganze Lawine von neuartigen Computerviren übers Internet gekommen und hatte nicht nur Computer, sondern auch Mobilfunknetze und Tausende von Geräten, die für die Kommunikation nötig waren, außer Gefecht gesetzt. Tobis Router, sein WLAN, ein Server für Videospiele und sein Torrent-Server waren lahmgelegt worden, und ebenso hatten gezielte Virenattacken jeden weiteren Rechner, den er ans Netz gebracht hatte, innerhalb von ein paar Sekunden bis Minuten zerstört. Nur das Toughbook war verschont geblieben, und zwar nicht, wie er betonte, weil es ›tough‹ war, sondern weil es die älteste Maschine in seiner gigantischen Sammlung war. »Praktisch alles, was nach der Jahrtausendwende hergestellt worden ist, hat seinen Geist aufgegeben!«, beendete er seine Erklärungen in triumphierendem Tonfall.

    Max pfiff anerkennend durch die Zähne. »Also haben uns tatsächlich die Chinesen überfallen?«

    »Wieso die Chinesen?«, wunderte sich Nina.

    »Sie gelten als die Besten, was den ›Cyberkrieg‹ angeht«, bestätigte Tobi die Vermutung. »Wer auch immer diese Flut von Viren geschrieben hat, muss jedenfalls die Baupläne für diese Chips kennen, und zwar besser als wir Linux-Entwickler. Wir müssen die Funktionen oft von Hand austesten, was ewig dauert. Aber ich wüsste nicht, was den Chinesen ein solcher Angriff bringen sollte, ist ja nicht gerade unauffällig.«

    »Bratwurst?«, warf Max ein. Der Kommentar war so dumm, dass ihm sogar ein paar Tischnachbarn den Vogel zeigten, die ihnen unfreiwillig zugehört hatten. Der Zusammenbruch des Internets war Tagesthema Nummer eins.

    »Eine Wirtschaftsattacke«, meldete sich Nina zu Wort, die plötzlich hellhörig geworden war. »Wenn man im Voraus weiß, wann die Börse und die Medien in einem Land zusammenbrechen, kann man Milliarden verdienen.«

    »Bingo!«, rief ein Typ am Nebentisch, der ihrer Unterhaltung ebenfalls gefolgt war. »Das waren die Amis!«

    Wer auch immer letztlich dafür verantwortlich war, Tobi und Max waren sich einig, dass Ninas Erklärung von allen, die sie an diesem Tag bisher gehört hatten, am meisten Sinn machte. Doch wie sich bald herausstellen sollte, lag die Studentin der Politologie und Geschichtswissenschaften damit mächtig daneben. Ausgerechnet die dümmste und albernste Hypothese, an die niemand ernsthaft glaubte, sollte sich als richtig erweisen.

    Als Max gerade die nächste Runde bestellen wollte, kam Tobi eine Idee. Seiner Meinung nach konnte es durchaus möglich sein, dass nicht das gesamte Internet zusammengebrochen war. Schließlich hatten die Viren ja auch nicht sämtliche Computer, sondern nur die meisten von ihnen ausgeschaltet. Wenn die zerstörerischen Programme übers Netz wanderten, würde es Sinn machen, die Infrastruktur selbst intakt zu lassen, um sie schön weiterverteilen zu können. Aufgeregt verabschiedete er sich, um die Hypothese zu Hause zu prüfen, woraufhin Max ihm vorschlug, den Versuch doch bei ihm zu unternehmen. Gesagt, getan, schwangen sie sich auf ihre Räder und machten sich auf den Rückweg nach Friedrichshain.

    Es war erst kurz nach Mitternacht, aber die Straßen wirkten erstaunlich leer und verlassen. Anscheinend waren die meisten Menschen, die aus der Großstadt hatten fliehen wollen, tatsächlich abgezogen, und die übrigen Einwohner hielten sich größtenteils an die Aufforderungen der Polizei, in ihren Wohnungen zu bleiben. Fast nur Fußgänger und Radfahrer waren unterwegs, und dafür patrouillierten verdammt viele Polizeiautos. Wie früher am ersten Mai stand an jeder Ecke ein Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei, und alle fünf Minuten befahl ihnen ein missmutiger Polizist, nach Hause zu fahren. Entnervt erklärten die drei Freunde jedes Mal, dass sie genau das vorhatten.

    Auf der Oberbaumbrücke staute sich der Verkehr unerwarteterweise, und sie kamen selbst per Rad nicht weiter, denn ein Polizeikordon sperrte die Ausfahrt ab. Max schob sein Fahrrad und bemerkte eine Vibration im Boden, die sich fast wie ein leichtes Erdbeben anfühlte. Erst als er sich zwischen den Schaulustigen hindurch einen Weg gebahnt hatte, fiel ihm die Ursache auf: Eine gewaltige Militärkolonne zog, soweit sich das im Licht der Laternen überblicken ließ, die Stralauer Allee hinunter und bog hinter der Brücke auf die Warschauer Straße ab. »Jesus Christus!«, kommentierte er den Anblick und legte den Arm um seine Freundin, als könne er sie auf diese Weise beschützen. Ein Panzer nach dem anderen rollte vor der Absperrung an ihnen vorüber. Soviel zum ›Wirtschaftskrieg‹, dachte er sich.

    »Die Chinesen?«, flüsterte Nina ungläubig.

    »Das sind deutsche Leopard 2«, erklärten die beiden Freunde fast gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen. Wer mochte da noch behaupten, dass Ego-Shooter nicht zur Allgemeinbildung beitrugen? Die Kolonne fuhr ohne Licht, was den unheimlichen Eindruck verstärkte, und der Lärm und Gestank war ohrenbetäubend. Die gesamte Brücke erzitterte, und Max fragte sich, ob sie für diese Art von Schwingungen überhaupt ausgelegt war. Der schier endlosen Reihe von Panzerfahrzeugen mit allerlei gefährlich wirkenden Aufbauten folgten überlange Sattelschlepper, auf deren Anhänger jeweils zwei riesige Abschussrohre montiert waren.

    »Ich glaube, das sind Patriot-Flugabwehrsysteme«, flüsterte Nina beinahe ehrfürchtig. Sie hatte die Bilder früher einmal im Fernsehen gesehen.

    »Habe ich mir kleiner vorgestellt.«

    Schaulustige drängten sich vor den Absperrungen und viele von ihnen filmten die Kolonne mit ihren Handys. Blitzlichter erhellten ab und dann die gespenstische Szenerie. Eine unheimliche Angst kroch in Max hoch; unwillkürlich verstärkte er den Griff um Ninas Hüfte, als den raketenbestückten Sattelschleppern Dutzende von Militärlastern in Tarnfarben folgten, auf denen bewaffnete Soldaten saßen. Sie trugen Gasmasken und ABC-Schutzanzüge.

    »Scheiße, das ist gruselig«, murmelte Tobi, und seine Freunde stimmten ihm mit einem wortlosen Nicken zu. ›Gruselig‹ war noch eine Untertreibung. Max war froh, als die Truppentransporte in Richtung Warschauer Straße verschwanden und vergleichsweise vertrauten Raketenwerfern Platz machten, die er irgendwann einmal im Fernsehen gesehen hatte. Unheimlich drehten sich ihre turmartigen Aufsätze hin und her, als suchten sie am stockdunklen Nachthimmel nach einem unsichtbaren Ziel.[Fußnote 7] Max kam der Gedanke, dass es nicht besonders vorteilhaft sein konnte, so dicht neben einem Militärkonvoi zu stehen, falls dieser angegriffen wurde. Wahrscheinlich fuhren die Soldaten deshalb auch ohne Licht.

    »Sieht verdammt nach Krieg aus«, meinte Tobi, als endlich die letzten Tanklastzüge, Mannschaftswagen, und noch ein paar Panzer an ihnen vorbeigerollt waren. Polizisten bauten die Absperrungen wieder ab. Die Schaulustigen löcherten sie mit Fragen, aber wie schon am Nachmittag war es offensichtlich, dass die Beamten nicht mehr als jeder andere wussten. Sie wirkten müde und gereizt. Floskelartig wiederholten sie dieselben Phrasen, dass die Bürger bitte nach Hause zurückkehren und abwarten sollten, dass alles in Ordnung sei – was angesichts des Militärkonvois selbst in ihren Ohren nicht sehr überzeugend klingen konnte –, und dass sie bald mehr erfahren würden.

    Erst um drei Uhr nachts kamen sie in Max’ Wohnung an. Der Fernseher zeigte nach wie vor das alte Testbild mit der Nachricht ›technische Störung‹, sogar die Pausenfüllermusik hatte sich nicht geändert. Max lud Tobi ein, bei ihm zu übernachten, was nach diversen Kneipentouren schon mal vorkam. Bevor Max und Nina sich ins Schlafzimmer verdrückten und der Physiker es sich auf den Fernsehpolstern bequem machte, füllten sie tatsächlich noch die Badewanne mit Wasser, wie man das aus verstaubten Katastrophenschutzfilmen kannte, und kamen sich dabei ein wenig albern vor.

    Mit einem abschätzigen Blick inspizierte Nina den Zustand der Wanne und stellte klar: »Davon trinke ich nichts!«

    »Wenn du richtig Durst hast, schon«, wandte Tobi ein.

    »Lieber verdurste ich ...«

    Max verteidigte sich lahm: »Kinder, darin wollten wir vor Kurzem noch Bier brauen.«

    »Davon hätte ich ganz sicher nichts getrunken!«, konterte sie und wischte mit den Fingern über einen grauen Schmutzrand, der den üblichen Wasserstand anzeigte.

    »Ich auch nicht«, gestand Tobi ein, obwohl seine Loyalität normalerweise auf der Seite seines Freundes lag. Aber natürlich hatte Max recht. Wenn wirklich Krieg ausgebrochen war und demnächst kein Wasser mehr aus dem Hahn kam, dann war das bisschen Dreck wohl ihr kleinstes Problem.

    Der Tag danach

    Friedrichshain, Berlin, 9:42 Uhr – ein Tag nach der Invasion

    Eine merkwürdige Musik weckte Max aus dem Schlummer, die fast jeder schon einmal gehört hatte, aber nicht viele auf Anhieb benennen konnten.[Fußnote 8] Ihm war das Lied bestens bekannt, denn er hatte es früher oft aufgelegt, um die letzten Gäste von einer Party zu vertreiben. Der Wecker zeigte kurz vor zehn Uhr an, was ihm gerade mal sechs Stunden Schlaf gebracht hatte. Mit den Händen über den Ohren lief er ins Nebenzimmer, wo Nina in seinen Bademantel gehüllt neben Tobi auf dem Polster lungerte. Gebannt starrten die beiden auf den Fernseher, obwohl nur ein Standbild zu sehen war.

    »Du hast in unserem Trinkwasser gebadet?«, brummelte Max. Er war ein ausgesprochener Morgenmuffel – ganz besonders natürlich, wenn er nicht genug geschlafen hatte. Sie winkte ab, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Sei still! Da kommt gleich eine Durchsage ...«

    In der Tat hatte sich mehr als die Musik geändert. Der Bildschirm zeigte eine weiße Tafel mit der Aufschrift ›SFB – Sender Freies Berlin‹ und dem dazugehörigen Logo, das eine stilisierte Antenne darstellte und definitiv aus den Fünfzigerjahren stammen musste. Darunter stand in schwarzer Schrift in geschwungenen Buchstaben, die an die Reklame einer Eisdiele erinnerten: »Es folgt eine wichtige Durchsage – bitte bleiben sie am Apparat!«

    »Wir könnten in einen Zeitstrudel geraten sein«, mutmaßte Max.

    »Pst!«, zischte seine Freundin, als ob in der Musik geheimen Botschaften versteckt seien, auf die sie achten sollten. Ihm kam der Gedanke, dass die Idee vielleicht gar nicht so abwegig war, doch ein plötzliches Hungergefühl lenkte ihn ab. Voller Müdigkeit schlurfte er in die Küche. »Will jemand von euch Rührei?«

    »Ja!«, antworteten seine Gäste wie aus der Pistole geschossen und er ärgerte sich, gefragt zu haben. Hätte er am Vortag bei Knolle ein paar zusätzliche Vorräte eingekauft, dann gäbe es jetzt nicht bloß drei Eier mit einem Rest von Speck zum Frühstück. Als die Musik mit einem Mal aufhörte, hastete er mitsamt der Pfanne ins große Zimmer und starrte gebannt auf den flimmernden Schirm. Er zeigte weiterhin nichts als das alte Logo des SFB, den es eigentlich gar nicht mehr gab. Ein eigenartiges Glockenspiel ertönte und kurz darauf eine Ansage, die von einem professionellen Sprecher in geradezu belustigtem Tonfall verlesen wurde:

    »Sender Freies Berlin – bitte schalten sie nicht ab! Sie hören eine Durchsage des Katastrophenschutzes. Sender Freies Berlin – bitte schalten sie nicht ab! Sie hören eine Durchsage des Katastrophenschutzes. Sender Freies Berlin –«

    Max griff zur Fernsteuerung und schaltete auf den Kanal um, auf dem normalerweise RTL zu sehen war: Nichts als weißes Rauschen. Er drückte die Taste 1 für ARD und wieder erklang die Schleife: »... des Katastrophenschutzes.«

    Da plötzlich ertönte eine Reihe von Pieptönen. »Ein Kilohertz«, erklärte er wie aus der Pistole geschossen. Nicht, dass die Information besonders wichtig gewesen wäre. Wozu überhaupt solche Töne gesendet wurden, war ihm ein Rätsel. Um im Ernstfall Instrumente zu stimmen? Dann folgte die eigentliche Durchsage, die von einem Mann und einer Frau abwechselnd vorgelesen wurde. Der zugehörige Text wurde gleichzeitig auf Tafeln angezeigt, die sich auf altertümliche Weise ineinander überblendeten, als stammten sie aus einem Schwarz-Weiß-Film:

    »Mann: Dies ist eine Informationssendung des Katastrophenschutzes. Bitte schalten sie nicht ab und beachten sie die folgenden Hinweise!

    Frau: Bewahren sie Ruhe! Die Behörden arbeiten im Katastrophenfall zusammen, um den reibungslosen Ablauf der Hilfsaktionen zu gewährleisten. Folgen sie den Anweisungen von Polizei und Ordnungskräften!

    Mann: Bleiben sie in der Wohnung! Halten sie Fernseh- und Radiogeräte betriebsbereit! Zusätzliche Hinweise folgen demnächst. Wenn sie Zivilschutz, Feuerwehr, den Polizeibehörden, Rettungsdiensten oder der Bundeswehr angehören, setzen sie sich bitte umgehend mit Ihren Vorgesetzten beziehungsweise dem diensthabenden Offizier in Verbindung!

    Frau: Halten sie Fenster und Türen verschlossen! Füllen sie Behälter wie beispielsweise Badewannen, Eimer und Tupperware mit frischem Trinkwasser nur dann, wenn es klar und geruchslos ist. Meiden sie verunreinigtes Wasser und Lebensmittel! Tauschen sie schmutzige Kleidung durch neue aus, sobald sie geschlossene Räume betreten! Falls sie in ihrer Küche über einen Stadt- oder Erdgasanschluss verfügen, drehen sie bitte vorsorglich den Hauptahn der Gasleitung zu! Achten sie auch auf Geruchsbildung und Rauch, die auf Schwelbrände hindeuten könnten! Informieren sie im Brandfall umgehend Polizei und Feuerwehr!

    Mann: Hamsterkäufe gefährden Ihre eigene Sicherheit und die Sicherheit Ihrer Mitbürger. Die Behörden gewährleisten eine angemessene Grundversorgung; es besteht daher kein Grund, Vorräte zu horten. Polizei und Ordnungskräfte haben im Notfall die Befugnis, den freien Handel einzuschränken, sowie Ausgangsverbote und Platzverweise zu erteilen. Diese Maßnahmen dienen Ihrer eigenen Sicherheit. Folgen sie den Anweisungen von Polizei und Ordnungskräften!

    Frau: Bitte achten sie auf Ihre Mitbürger! Helfen sie Kindern, Alten und Verletzten zuerst, jedoch nur dann, wenn für sie selbst keine unmittelbare Gefahr besteht! Bewahren sie Ruhe und Besonnenheit! Warten sie in Ihren Wohnungen ab, bis sie weitere Anweisungen erhalten!

    Mann: Halten sie Radio und Fernsehgeräte betriebsbereit! Zusätzliche Hinweise folgen auf diesem Kanal, auf Deutschlandradio UKW 110.30 MHz, über Deutschlandfunk auf Mittelwelle 1269 kHz und 756 kHz, auf Langwelle 153 kHz und 207 kHz sowie über die Frequenzen der Küstenwache und des Seenotrettungsdienstes.«

    Das Bild blieb einige Minuten stehen, und dann erklang wieder die SFB-Schleife: »Sender Freies Berlin - Bitte schalten sie nicht ab! Sie hören eine Durchsage des –«

    Wortlos schaltete Max den Ton ab und stellte endlich auch die Pfanne zur Seite. Tobi unterbrach als Erster das Schweigen: »Junge, das war creepy.«

    »Ist jetzt Krieg oder nicht? Was bedeutet das alles?«, murmelte Nina.

    Max zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass sie uns damit vermitteln wollen, dass wir den Anweisungen von Polizei und Ordnungskräften folgen sollen. Will jemand Rührei?«

    »Ich habe keinen Appetit mehr«, erklärte seine Freundin. Sie wirkte noch blasser als sonst, und er fand, dass die dunklen Ringe um ihre Augen sie ausgesprochen schmückten.

    »Gut«, erwiderte er hastig und stopfte sich vorsorglich schon mal eine Gabel in den Mund, bevor sie es sich anders überlegte. Um die Stimmung aufzumuntern, legte er etwas Heiteres auf, bis Nina entnervt die Nadel von der Platte riss.[Fußnote 9]

    »Wie kannst du einfach nur so dasitzen und dein Frühstück in dich reinmampfen, während draußen das Militär durch die Straßen fährt und weiß Gott was passiert sein könnte?«, erboste sie sich.

    »Jo«, erwiderte er einsilbig. Gleichzeitig arbeiteten seine Gehirnzellen auf Hochtouren an einer besseren Antwort. Das Ergebnis blieb dürftig, reichte jedoch für den Augenblick aus: »Wir müssen was tun ...«

    »Wir brauchen Vorräte«, pflichtete sie ihm bei.

    »Ich könnte zum Supermarkt radeln und was einkaufen«, schlug er vor, und sie gab sich damit zufrieden. Er kannte ihre Launen, wusste aber auch, wie sie sich wieder beruhigen ließ. Auf keinen Fall durfte man sich mit ihr auf Diskussionen einlassen. Viel besser war es, ihr immer sofort zuzustimmen, selbst wenn ihre Forderungen vollkommen undurchführbar sein mochten. Meistens vergaß sie später sowieso, was sie besprochen hatten, und im Zweifelsfall würde sie ihm ohnehin die Worte im Mund umdrehen. Außerdem hatte sie recht. Ein paar Lebensmittel zu erstehen, konnte in dieser Lage nicht schaden. Von den zwölf Bier im Kühlschrank ließ sich vermutlich nicht lange leben.

    »Ich muss ins Institut«, erklärte Tobi plötzlich, der ebenfalls einen Beschluss gefasst zu haben schien.

    »Nach Adlershof? Das ist ein weiter Weg.«

    »Nein, nein, an die TU, Hardenbergstraße. Ich kenne da Leute, kein Problem. Ich will ein paar Sachen besorgen. Dann komme ich hierher zurück und wir testen diese Internet-Idee, die ich hatte. Einverstanden?«

    »Abgemacht.«

    »Und was mach ich so lange?«, beschwerte sich Nina.

    »Du hältst hier die Stellung«, erwiderte Max mit einem militärischen Salut.

    »Sehr witzig.«

    Dabei war sein Vorschlag gar nicht so dumm, dachte er sich, denn die nächste Durchsage sollten sie lieber nicht verpassen. Er brannte darauf, zu erfahren, was eigentlich vor sich ging. Wie man es drehen und wenden mochte, ihm fiel einfach keine Geschichte ein, die den gleichzeitigen Zusammenbruch von Funk, Fernsehen, und Internet erklärte, obwohl Strom und Wasser weiterliefen. In einem Krieg wären ja wohl alle Ressourcen auf einmal betroffen. Konnte ein Computervirus, wenn auch nach Tobis Meinung ein ziemlich gewiefter, so drastische Folgen haben?

    ***

    Bis auf eine Unmenge von Bereitschaftspolizisten, die an jeder Ecke herumlungerten, waren die Straßen an diesem Vormittag fast menschenleer. Den Grund dafür erkannten sie, als ein Beamter sie von ihren Fahrrädern rief, noch bevor sie sich wirklich auf die Sattel geschwungen hatten.

    »Wo wollen sie hin?«, begrüßte sie ein dicklicher Wachtmeister. Auf solche Anfragen reagierte Max traditionell eher empfindlich. Überhaupt galt er nicht unbedingt als Freund der Schutzpolizei. »Das geht sie doch nichts an!«, konterte er also und wollte losfahren. Aber der Polizist stellte sich ihm in den Weg. »Ja haben sie denn die Nachrichten nicht gehört? Bleiben sie erst mal zu Hause, bis wir wissen, was los ist! Das Chaos, das wir gestern auf den Straßen hatten, wollen wir nicht noch mal erleben.«

    Ein zweiter Beamter gesellte sich dazu. Die Männern langweilten sich anscheinend. Vermutlich hoffte die eine Hälfte in ihnen darauf, bald Entwarnung zu bekommen und nach Hause fahren zu können, während die andere nach Aktionen mit Schlagstock- und Waffeneinsatz lechzte. Langeweile war Max’ Meinung zufolge einer der Hauptgründe für ausufernde Polizeigewalt bei Demonstrationen, und er hatte schon vor Jahren vorgeschlagen, die uniformierten Staatsdiener mit portablen Playstations und DVD-Spielern auszustatten, um das Problem in den Griff zu bekommen. Natürlich hatte niemand auf

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