Der Hasser
Von Joachim Jorga
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Buchvorschau
Der Hasser - Joachim Jorga
I
Der Frost hockte im Boden wie ein starrsinniger Alter, der weiß, dass es mit ihm zu Ende gehen muss und sich doch mit all seiner ihm verbliebenen Kraft ans Leben klammert. Er scherte sich nicht darum, dass dem Kalender nach seit einer Woche der Frühling zu herrschen hatte und hielt verbittert die Krokusse in der Erde fest und das drängende Grün in den Knospen der Hecke am Rande des Platzes. Mit seinen eisigen Fingern griff der Frost in die kahlen Bäume, als wolle er sie mit sich ins Grab reißen. Doch er hatte schon keine Macht mehr über ein Elsterpärchen, das Zweige zu einem dieser Bäume trug, um ein Nest zu bauen für die Zeit nach dem starrsinnigen Alten. Ohnmächtig musste der Frost zusehen, wie das Nest zu einem stattlichen Reisighaufen heranwuchs. Die Elstern ließen sich weder von ihm noch von einem Eichhörnchen stören, das täglich den Platz inspizierte, und auch nicht von den beiden Krähen, die das Nest im Ahorn für sich in Besitz nehmen wollten. Heftig zeternd flatterten sie um den Haufen Reisig herum, bis die Krähen entnervt davon flogen.
Der Mann am Fenster blickte hinaus zu dem Ahorn und auf den Vogel, der gerade wieder einen Zweig herantrug, um ihn in das Nest einzupassen. Er balancierte ihn wild mit den Schwingen schlagend in seinem Schnabel zu dem Reisig, flog den Haufen von oben her an, ließ sich darauf nieder und schob ein Ende des Zweiges hinein. Sogleich jedoch zog er es wieder heraus, hüpfte zu einer anderen Stelle des Nestes und wiederholte den Versuch. Irgendwie unzufrieden mit dem Ergebnis ließ er den Zweig schließlich fallen. Der Mann am Fenster neigte bei solchen Beobachtungen dazu, den Elstern eine gewisse Intelligenz zuzusprechen. Ihm schien, sie hätten einen Plan im Kopf, wie ihr Nest auszusehen habe. Er blickte dem Vogel nach, der zu einem der benachbarten Bäume flog, um einen anderen Zweig abzubrechen, als er von der Küche her die Stimme seiner Frau hörte. Sie rief ihn zum Frühstück.
Die Kaffeemaschine zischte noch, als er am Tisch Platz nahm. Doreen hatte für drei gedeckt, doch Wibke ließ ihre Mutter wissen, dass sie lieber im Bett bliebe. Schließlich habe sie Ferien und wolle mal so richtig faulenzen.
Vom Flur her war ein leises Tapsen zu hören. Belfer kam heran, wedelte mit dem Schwanz und lief zu seinem Futternapf. Leo, sagte Doreen, du könntest eigentlich mal rausfahren zum See und sehen, ob ein Karpfen beißt. Karfreitag isst man Fisch.
Der Mann sah seine Frau an. Keine schlechte Idee, dachte er. Mal rausfahren zum See, ein Loch ins Eis bohren, sich auf den Klappstuhl setzen und warten, bis einer beißt. Die Gedanken schweifen lassen, nachdenken über dies und das, auch über das Gespräch gestern mit Wibke. Standortermittlung eines Mobiltelefons durch Funkzellenabfrage. Wibke hatte behauptet, man könne den Standort eines Handys auch dann bestimmen, wenn gar nicht telefoniert wird. Es gäbe die Möglichkeit, die Funkzellenabfrage mit einer sogenannten Stealth Message durchzuführen. Das Telefon empfängt die Message, ohne eines Mucks von sich zu geben. Der Empfang wird weder akustisch noch optisch signalisiert. Beim Staatsschutz bediene man sich dieser Methode. Wie das denn ginge, hatte er Wibke gefragt. Dann müsste das Telefon doch auf irgendeine Weise verdeckt antworten können. Also, auf dem Eis würde er sich diese Sache noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Außerdem könne nicht irgendeine Behörde, auch nicht der Staatsschutz, so einfach das Fernmeldegeheimnis verletzen. Oder doch?
Er nickte. Keine schlechte Idee, sagte er, mal rausfahren zum See. Warme Kleidung würde er anziehen müssen, vielleicht auch den kleinen Flachmann voll Rum füllen. Er sah Belfer herankommen und kraulte ihm den Nacken. Da hatte der Hund plötzlich die Vorderpfoten auf dem Tisch und schnappte nach einem Zipfel Leberwurst. Blitzschnell kam ihm der Mann zuvor. Er konnte sich noch immer auf seine schnellen Reflexe verlassen wie damals, da er als Judoka auf der Matte stand. Beim Wettkampf augenblicklich auf die Bewegung des Gegners reagieren und sie für sich selbst ausnutzen. So hatte er es bis zum schwarzen Gürtel geschafft und schließlich bis zum vierten Dan. Als Wibke geboren wurde, nahm er Abschied vom Sport. Fast achtzehn Jahre sind seither vergangen. Er drohte Belfer mit dem Finger.
Im Radio lief die Informationssendung des Deutschlandfunks. Doreen fragte ihren Mann, ob er noch einen Kaffee möchte. Der nickte und hielt ihr die leere Tasse hin. Er würde noch Boilies aufkochen müssen, bevor er zum See fährt. Boilies sind gut fürs Angeln auf Karpfen, da gehen kaum andere Fische ran. Er gab einen Schuss Milch zum Kaffee und rührte ihn um. Draußen auf der Parzelle, in der Laube lag sein Angelzeug, in dem Biedermeierschrank, den ihm Sulzmacher zum Restaurieren gegeben hat. Er wird ihn herrichten, wenn es wärmer geworden ist. Bei dieser Kälte macht es einfach keinen Spaß, im Freien diesen unsäglichen Anstrich aus Ölfarbe abzubeizen, dass wieder die Maserung des Holzes zur Geltung kommt, vielleicht auch Intarsien sichtbar werden. Abbeizen, Grobschliff, Bleichen, Schadstellen ausbessern, Feinschliff, eventuell Grundieren und schließlich Wachsen. Sulzmacher will nicht kleinlich sein.
Leo, hatte Doreen ihn eines Tages gefragt, kannst du Omas alte Truhe ein bisschen aufmotzen? Wuchtige Neogotik mit kitschigen Verzierungen, dieses Erbstück. Aus der Arbeit war ein Hobby geworden. Seitdem nutzte er die Laube draußen am Kleefeld als Werkstatt, gelegentlich zum Ärger der Nachbarn, die sich über Lärm und üble Gerüche beschwerten. Dabei bediente er sich keinerlei maschineller Hilfsmittel, alles war solide Handarbeit. Der Mann fuhr mit den Fingern durch Belfers gekräuseltes Fell und erhob sich vom Tisch, um die Thermounterwäsche und Wollsocken herauszusuchen. Als Eisangler muss man sich warm anziehen.
Während die Boilies kochten, kam er auf die Idee, bei Schenderlein vorbeizufahren. Er ging in sein Zimmer, wo das Telefon lag, und suchte die Nummer des Platzwartes heraus. Im vergangenen Winter war im Bootsschuppen eingebrochen worden, wahrscheinlich neugierige Kinder, die übers Eis gekommen waren. Ihre Spuren im Schnee führten auch zum Anglerheim. Sie hatten sich an der Tür zu schaffen gemacht, aber offensichtlich ohne Erfolg. Er würde also bei Schenderlein vorbeifahren, sich die Schlüssel geben lassen und auf dem Grundstück nach dem Rechten sehen. In einer Stunde etwa, sagte er ins Telefon hinein. Er nahm die Boilies vom Herd, goss das Wasser ab und ließ sie abkühlen. Vom Schlafzimmer her hörte er seine Frau, die sich für ihr Stübchen zurechtmachte. Doreens Nähstübchen in der Oststadt. Kurzwaren, Stoffe und Maßanfertigung. Überm Ladentisch hing ihr Meiserbrief, für den er einen schönen Rahmen angefertigt hatte. Rosenholz mit gelblicher Streifung. Trotz der gewachsten Oberfläche war der Duft erhalten geblieben und lag fein über dem kleinen Verkaufsraum. Weiter hinten in der Nähwerkstatt roch es eher nach Mottenpulver. Doreen konnte nicht klagen über einen Mangel an Aufträgen. Es gab nicht viele Maßschneiderinnen in der Oststadt.
Der Deutschlandfunk brachte Nachrichten. Die Bank of Cyprus will alle Guthaben über einhunderttausend Euro mit einer Sonderabgabe von bis zu vierzig Prozent belasten. Seit Tagen haben auf Zypern die Banken geschlossen und an den Geldautomaten kann man nur kleine Beträge abheben. Frankreich und Großbritannien bekräftigen ihre Absicht, die syrische Opposition mit Waffen zu beliefern. Der Mann schüttete die abgekühlten Boilies in ein Plastikeimerchen. Das sollen die lieber sein lassen, dachte er. Was vor zwei Jahren in Tunesien und Ägypten seinen Anfang genommen hatte, dieser Arabische Frühling, setzte sich in Libyen fort und entfesselte dort einen Bürgerkrieg. Auf Seiten der Rebellen griffen Franzosen, Briten und die Amerikaner in die Kämpfe ein, später auch die Nato. Die Afrikanische Union und einige islamische Staaten protestierten erwartungsgemäß gegen die Intervention. Schließlich waren die Aufständischen in Tripolis eingezogen und bald darauf starb Gaddafi eines mysteriösen Todes. Inzwischen hat dieser Arabische Frühling Syrien erreicht. Vorgestern erst attackierten Rebellen einen Stadtteil von Damaskus mit Mörsergranaten. Einige davon waren in ein Hotel eingeschlagen, worin sich Beobachter der Vereinten Nationen aufhielten. Der Mann schüttelte den Kopf. Wohin soll das führen? Er dachte an Fouad, in den sich Wibke verknallt hat, ein Libanese mit deutschem Pass an derselben Schule wie sie und im selben Lehrjahr. Die Familie war vor ein paar Jahren von Beirut her nach Hannover gekommen. Wohin das nur führen soll? Beirut liegt keine hundert Kilometer von Damaskus entfernt. Er ging zum Kühlschrank, strich Fleischsalat auf zwei Brötchen und umwickelte sie mit Aluminiumfolie. Beim Angeln auf dem Eis wird man hungrig. Es kann Mittag werden, bis er einen Karpfen am Haken hat. Karpfen sind vorsichtige Fische. Er würde noch die Staumeldungen abwarten und dann ins Heideviertel fahren, wo Schenderlein ein kleines Einfamilienhaus bewohnt.
Der Sprecher im Radio gab bekannt, dass sich das unbeständige Wetter der letzten Tage fortsetzen wird. Im Norden sei mit Schneefall zu rechnen. Es folgten die aktuellen Temperaturen einiger Landeshauptstädte. Für Hannover wurden minus sieben Grad angegeben. Der Mann ging zum Fenster und blickte auf das Thermometer. Am Weißekreuzplatz waren es sogar minus acht Grad. Während der Staumeldungen zog er sich die Thermowäsche an. Der stockende Verkehr am Kreuz Ost ging ihn nichts an. Er packte Fellhandschuhe in einen kleinen Rucksack, eine dicke Pudelmütze und die beiden Brötchen. Ehe er in den mit Daunen gefütterten Anorak kroch, verabschiedete er sich von seiner Frau. Sobald er einen Karpfen angelandet habe, würde er Bescheid geben. Er steckte das Telefon in die Innentasche des Anoraks und ging zum Auto.
II
Schenderlein öffnete im Morgenrock. Vor kurzem war der Platzwart des Anglervereins in Rente gegangen und genoss es, im Bett zu bleiben, bis in ein triftiger Grund daraus vertrieb, zumeist der morgendliche Hunger. Guten Morgen Leonard, sagte er und zeigte mit der Hand hinein in die gute Stube, wie er sein Atelier nannte. Als pensionierter Ingenieur konnte er sich nun ganz seinem Hobby widmen, der Malerei. Kaffee oder Tee, fragte er und hielt dem Besucher einen Kleiderbügel für den Anorak hin. Eigentlich weder noch, sagte Leonard, aber wenn es sein muss, dann Tee. Er zog die Schuhe aus, griff nach den ihm hingestreckten Pantoffeln und folgte dem Alten ins Atelier.
Während Schenderlein in der Küche