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Der Blutegel
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eBook751 Seiten10 Stunden

Der Blutegel

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Über dieses E-Book

Als die Leiche von Jennifer Sanders gefunden wird, glauben die Beamten noch an eine schnelle Aufklärung. Doch schon nach dem zweiten Mord gehen die Behörden aufgrund der besonderen Umstände von einem Serienmörder aus. Die Öffentlichkeit ist alarmiert und die Beamten ermitteln fieberhaft, um dem mysteriösen "Blutegel" auf die Spur zu kommen.
Die Psychologin Dr. Vivien Kramer, für die einer der Ermittler schnell mehr als nur berufliches Interesse entwickelt, scheint irgendwie in das dunkle Spiel des Mörders verstrickt zu sein. Wie passt ihr Exfreund ins Bild? Was hat es mit ihrem mysteriösen neuen Lover auf sich? Oder ist einer ihrer Patienten für die Taten verantwortlich? Das Morden geht rasend schnell weiter, und dann entdeckt Vivien etwas Unvorstellbares . . .
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum11. Okt. 2019
ISBN9783748164081
Der Blutegel
Autor

Kirsten Reko

Kirsten Reko arbeitet hauptberuflich als Abteilungsleitung eines mittelständischen Unternehmens. Ihr Erstlingswerk erschien bereits vor einigen Jahren bei BoD und ist nun endlich als E-Book erhältlich.

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    Buchvorschau

    Der Blutegel - Kirsten Reko

    Kapitel

    1. Kapitel

    Langsam fuhr der Ermittler, Mark Peters, auf das Wohngebäude zu, zu dem er gerufen wurde. Vor dem fünfstöckigen Gebäude parkten vier Streifenwagen, deren blinkende Sirenen stumm geschaltet waren. Die Fenster waren dunkel, außer denen im 3. Stock. Eine Lampe über der Eingangstür brannte. Direkt darunter hatte sein Partner, Karl Brander, auf ihn gewartet.

    „Tut mir leid, wenn ich dir deinen freien Tag versaue, aber wir haben es mit einem Verrückten zu tun", empfing Karl ihn.

    Mark nickte ihm konzentriert zu.

    „Schieß los!"

    „Jennifer Sanders. Weiblich, 28. Eine Nachbarin hat sie gefunden", setzte Karl ihn im Telegrammstil ins Bild, während die Ermittler ins Haus eintraten.

    Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl. Die Stufen knarrten bei jedem ihrer Schritte, die Fenster waren mit durchsichtigen Gardinen gemütlich dekoriert. Es war eine gute Wohngehend. Der Hausflur wirkte sauber und gepflegt. Sie betraten die Wohnung auf herkömmlichem Wege durch die offenstehende Wohnungstür. Überall verrichteten die Kollegen von der Spurensicherung ihre Arbeit. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Die Räume waren in Zonen eingeteilt, in denen jeweils ein Spezialist nach Spuren suchte.

    „Der Mörder hat das Haus wahrscheinlich durch diese Tür betreten. Kein Anzeichen von gewaltsamem Eindringen. Vermutlich hat sie ihn selbst reingelassen", berichtete ein eifriger Kollege, den sie beide noch nie gesehen hatten.

    Schon standen sie in der Tür zum Schlafzimmer, dem Fundort der Leiche. Eine Digitaluhr auf dem Nachttisch projizierte die Zeit an die Decke: 00:12. Das Opfer lag auf dem Bett, als wäre sie liebevoll dorthin gebettet worden. Sie lag auf dem Rücken, der Kopf war zur Seite gekippt, die Augen waren geschlossen, was darauf hindeutete, dass der Täter sie ihr geschlossen hatte. Ihr langes, blondes Haar war zerwühlt. Ein gigantischer Schnitt quer durch die Halsunterseite ließ ihre Hautlappen weit auseinander klaffen. Das Gewebe quoll weißlich über der Haut hervor. Karl schluckte trocken, um dem sauren Mageninhalt Einhalt zu gebieten, während Mark für einen Moment die Augen schloss und tief durchatmete.

    „Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten", kommentierte Karl das Offensichtliche. Mark dachte laut, während er sich die klaffende Wunde betrachtete.

    „Woran genau stirbt man eigentlich, wenn die Kehle durchschnitten wird?"

    „Am Hirnschlag", antwortete Dr. Weber, der diensthabende Gerichtsmediziner.

    Er war etwa im gleichen Alter wie Mark, der 36 Jahre alt war, war jedoch deutlich übergewichtig. Der Arzt mit dem runden Gesicht und der etwas zu kleinen Nase lispelte ein wenig, hatte aber eine sympathische Ausstrahlung. Er war erst zwei Monate im Dienst.

    „Das Blut kann nicht mehr bis zum Gehirn vordringen. Ohne Blutversorgung fallen blitzartig alle Funktionen aus. Das ist aber nur der Fall, wenn die Halsschlagader durchtrennt wurde. Wenn beispielsweise die Luftröhre durchtrennt wurde ohne eine größere Verletzung der Halsschlagader, läuft das Blut in die Lunge. Die Folge wäre Ertrinken am eigenen Blut. Dauert wesentlich länger."

    „Ist das hier der Fall?" war Mark interessiert.

    „Nein. Soweit ich das bereits ohne genauere Untersuchung sagen kann, wurde mindestens eine Halsschlagader durchtrennt."

    „Was würden Sie sagen, wie lange hat es gedauert, ehe der Tod einsetzte?"

    „Wegen der mangelnden Blutversorgung des Gehirns tritt nach etwa zehn Sekunden Bewusstlosigkeit ein. Eine Wiederbelebung wäre grundsätzlich bis zu zehn Minuten möglich, aber dazu müsste die Blutung umgehend gestoppt und das fehlende Blut sofort ersetzt werden."

    Der Gerichtsmediziner schüttelte bedauernd den Kopf.

    „Es müsste schon alles für eine solche medizinische Maßnahme vorbereitet sein, um noch eingreifen zu können."

    „Was können Sie uns noch sagen", fragte Mark weiter, ohne den Blick vom Leichnam zu wenden.

    „Keine Spuren von Gewaltanwendung. Die Frau ist noch bekleidet, obwohl…."

    Der Mediziner deutete auf ihre leicht gespreizten Beine.

    „…sie… trägt keinen Slip, und ihr Kleid war hoch geschoben. Vermutlich hatte sie Verkehr."

    „Sex?" verstand Mark nicht, weil Sex mit Todesfolge für ihn definitiv mit Gewaltanwendung einherging.

    „Wie lange ist sie schon tot?"

    „Ein, vielleicht zwei Stunden."

    Mark betrachtete die Wunde eingehender. Sie sah seltsam aus.

    Die leicht bläulich gefärbte Haut war aufgerissen und das Fleisch quoll weißlich daraus hervor. Dann glitt sein Blick über den Brustkorb der Leiche.

    „Aber da ist kein Blut, wo ist das Blut?"

    Der Arzt nickte.

    „Wie kann das sein?" wollte jetzt auch Karl wissen.

    „Vielleicht hat er alles sauber gemacht? Oder er hat das Blut irgendwie abgepumpt. Auf jeden Fall muss er es aufgefangen haben, mit einer Schüssel oder so. Ich habe ehrlich keine Ahnung.

    So was Schräges habe ich noch nie gesehen", gab der Mediziner dann mit bleicher Mine zu.

    Mark und Karl nickten verstehend und zogen sich dann zurück.

    Die Spurensicherung ging stets sehr gründlich vor. Sie würden den Tatort ausführlich abmessen, fotografieren, den Boden Stück für Stück absuchen und selbst die Rückstände in den Abflüssen einer eingehenden Untersuchung unterziehen.

    „Was sagtest du, wer hat sie gefunden?" fragte Mark nochmals nach.

    Karl setzte schon an, um seinem Kollegen zu antworten, doch einer der uniformierten Polizisten war schneller.

    „Die Frau aus der Wohnung gegenüber hat angerufen und gemeint, dass sie hier geklingelt hatte, Jennifer Sanders ihr aber nicht geöffnet habe. Sie hatten wohl einen recht guten Kontakt, und da ist sie nervös geworden. Sie hat gedacht, dass da etwas nicht stimmen könnte. Wir haben die Tür aufgebrochen und sie gefunden."

    „War die Tür abgeschlossen?" stellte Karl eine Routinefrage.

    „Nein, nur zugezogen."

    „Haben Sie irgendetwas hier angefasst?"

    „Nein."

    „Gut."

    Mark kniff die Lippen aufeinander. Er war mit seinen knapp ein Meter achtzig fast fünf Zentimeter kleiner als sein Partner. Im Vergleich zu Karl, der ganz normaler Durchschnitt mit ein wenig Bauchansatz war, war er attraktiv mit eher sportlicher Figur. Beide waren schon aufgrund ihrer Leistungen früh in den gehobenen Dienst aufgestiegen und bildeten jetzt ein Team des Morddezernats mit der Zuständigkeit für besonders schwere Fälle. Sie betreuten somit all die Fälle, die aufwendige Untersuchungen erforderten.

    „Na schön. Dann werden wir uns mal um den Rest der Wohnung, die Personalien und vor allem die Nachbarn kümmern."

    Ein kurzer Blick ins Bad der Verstorbenen zeigte nichts Ungewöhnliches. Alles schien vollkommen unberührt zu sein. Zahnbürste, Gesichtcremes, Handtücher, davon zwei benutzte und ein halb gefüllter Wäschekorb. Nichts Verdächtiges. Auch die Küche sah normal aus. Auch im Wohnzimmer war nichts Ungewöhnliches erkennbar. Das helle Licht des Vollmondes fiel schräg durch das kleine Fenster. Im Zimmer befanden sich ein Schrank, zwei Sessel und ein Tisch. Nur eine Tasse mit inzwischen erkaltetem Tee stand auf dem Tisch. Der Fernseher lief noch immer, jedoch ohne Ton. Vermutlich hatte einer der Beamten ihn inzwischen abgestellt. Wie es schien hatte sie keinen Besuch erwartet, und der Mörder hatte sich einzig auf ihr Schlafzimmer konzentriert.

    „Hatte sie einen Freund?" fragte Mark seinen Partner beim Herausgehen.

    Karl zuckte unwissend mit den Schultern.

    „Das sollten wir die Nachbarin fragen."

    Die beiden Ermittler stellten die routinemäßigen Fragen, ob irgendwer aus dem Haus die Tote näher gekannt hatte, mit wem sie verkehrte, ob sie einen festen Freund hatte und ob sie arbeitete. Bereits nach einer halben Stunde wussten sie, dass Jennifer seit etwas über einem Jahr hier wohnte, in einem Büro in der Nähe arbeitete und keine Herrenbesuche hatte.

    „Da war mal einer, dieser Arzt. Der kam, wann es ihm gefiel.

    Oftmals erst sehr spät in der Nacht. Der war gar nicht gut für sie.

    Hat sie nur ausgenutzt. Das liebe Mädchen", verriet die Nachbarin und schnäuzte wieder in ihr Taschentuch.

    Sie schien die Verstorbene wirklich gemocht zu haben.

    „Wissen Sie, wie er heißt?"

    „Nein."

    „Nicht mal den Vornamen?"

    „Nein, den hat sie nie erwähnt", bedauerte die Nachbarin jetzt.

    „Wissen Sie wo er arbeitet? Im Krankenhaus vielleicht?"

    „Das weiß ich nicht, aber ich denke schon, weil er ja immer so spät Dienstschluss hatte. Womöglich war er verheiratet", mutmaßte die Frau jetzt mit zusammengekniffenen Augen und nachdrücklichem Kopfnicken.

    „Hm. Können Sie ihn näher beschreiben?"

    „Nein, ich habe ihn nie gesehen. Nur von ihm gehört."

    „Gehört?"

    „Na, ja. Erstens hat die Jennifer mir manchmal erzählt, dass er wieder da war. Und dann… es ist mir etwas peinlich, aber mein Schlafzimmer liegt gleich neben ihrem. Wenn Sie verstehen, was ich meine", schmunzelte sie jetzt mit hochroten Wangen.

    Die Ermittler verstanden.

    „Danke, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Sollte noch etwas sein, werden wir wieder auf Sie zukommen."

    Gegen halb zwei verließen die Kollegen den Tatort. Die Spurensicherung würde noch eine Weile in Anspruch nehmen, danach würde die Wohnung versiegelt werden. Draußen vor dem Haus lungerten schon die ersten Reporter herum.

    „Ich will nicht, dass jemand über das Blut redet. Keinen Ton, okay!" schlug Mark vor und Karl nickte.

    „Nein, es wäre nicht gut, wenn das an die Öffentlichkeit dringt",

    fand auch er.

    Sie würden am nächsten Morgen ins Revier fahren, wo sie einen ersten kurzen Bericht erstellten. Noch im Laufe des Tages würden sie sich um die Bekannten von Jennifer kümmern und vielleicht schon am Abend den Täter ermittelt haben. Vermutlich war es der Arzt. Ein Routinefall, mehr nicht.

    *

    Vivien Kramer lag gemütlich in ihrem Bett und schmökerte in einem Thriller. Sie hatte leise das Radio an und wippte mit ihrem linken Fuß selbstvergessen zum Takt der Musik, während ihre langen Finger mit einer Strähne ihrer rotblonden Locken spielten.

    Die Fenster waren geöffnet, so dass die frische, milde Nachtluft zusammen mit dem Mondlicht zu ihr ins Zimmer strömte. Aus dem Süden kam eine Warmfront auf. Vivien freute sich schon auf den Sommer, wobei ihre linke Hand sofort über ihre Blinddarmnarbe glitt. Endlich bemerkte sie, dass ihr ein wenig flau im Magen war. Sie legte das Buch zur Seite und überlegte, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Hatte sie heute überhaupt etwas zu sich genommen? Als sie aufstand nahm die Übelkeit zu, und ihr wurde etwas schwindelig. Sie schloss kurz die Augen und holte ein paar Mal tief Luft, um die Übelkeit niederzukämpfen. Sie musste etwas essen, also ging sie nur mit einem Slip und Trägerhemd bekleidet in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, holte das unangebrochene Tetrapack Milch heraus, stellte es auf den Tisch, nahm die Müslipackung vom Regal und eine kleine Schüssel aus dem Hängeschrank. Sie setzte sich, gab das Früchtemüsli und die Milch in die Schüssel, schnappte sich einen Löffel und begann endlich zu essen. Allmählich beruhigte sich ihr Magen. Noch vor ein paar Wochen war ihr das nicht passiert. Vor ein paar Wochen hatte Max darauf geachtet, dass sie sich regelmäßig und gut ernährte. Doch seit ihrer Trennung litt sie unter Appetitlosigkeit.

    Nachdem Vivien ihr Müsli aufgegessen hatte, stellte sie die Schale in die Spülmaschine und ging zu ihrem Buch ins Wohnzimmer zurück. Der Oldie, den der Sender leise für sie gespielt hatte, ging zu Ende und die Erkennungsmelodie des Radiosenders erklang.

    „Ein Uhr. Die Nachrichten: Eine junge Frau wurde heute tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Über die näheren Umstände und Todesursache können die Behörden derzeit noch keine Angaben machen. Tatsache ist jedoch, dass der Täter direkt in die Wohnung eingedrungen sein muss", erklang die Stimme des Nachrichtensprechers.

    Vivien horchte auf. Sie sah hinüber zu den Gardinen, die von der leichten Brise im Mondlicht sanft wehten, und ein unbehagliches Gefühl beschlich sie. Zögernd legte sie ihr Buch beiseite und ging zum Fenster, um es zu schließen. Als sie einen Blick auf die Straße warf, stockte ihr der Atem. Dort unten stand ein Mann. Sie schloss die Augen. Ihr war plötzlich ganz übel, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Er war dunkel gekleidet und stand im Halbschatten der Straßenlampe. Er sah zu ihr herauf. Es fühlte sich an, als hätte sie einen dicken Knoten im Hals. Minutenlang starrten sie einander an.

    „Oh Gott, was kam jetzt?" dachte sie vollkommen erstarrt.

    Keiner von beiden war fähig sich zu rühren. Vivien befeuchtete ihre Lippen, setzte schon zu einer Geste an, hielt dann jedoch inne. Sie konnte ihm nicht einfach zuwinken. So sehr sie Max auch vermisste, es war richtig, dass er nicht mehr Teil ihres Lebens war. Zu viel war gesagt worden, was sich nicht so einfach zurücknehmen ließ. Ihr Herz begann zu rasen. Die Aufregung flutete durch ihren Körper. Sie rührte sich noch immer nicht. Es war schon etwas unheimlich, dass Max dort unten stand und zu ihr hinauf blickte. Warum tat er das? Ob er sich Sorgen machte?

    Unweigerlich glitten ihre Gedanken zurück zu dem Moment, der wohl das Ende bedeutet hatte. Vor ein paar Wochen hatte es Streit gegeben, da er nebenbei etwas mit einer Krankenschwester laufen hatte. Es gab Tränen und Vorwürfe. Enttäuschung und Wut hatte aus ihr gesprochen. Er hatte alles mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen lassen. Dann war er gegangen. Es war sicher nichts Besonderes. Es war wie immer, wenn eine Beziehung zerbrach. Verletzte Gefühle, Bedauern, die Frage nach dem Warum.

    Entschlossen wandte Vivien den Blick ab, schloss die Fenster und zog die Vorhänge zu. Es war aus.

    *

    Nur widerwillig riss Dr. Max Engström seinen Blick los. Aber er war froh zu sehen, dass Vivien wie es schien wohlauf war. Er lebte ständig in der Sorge, dass sie sich etwas antun könnte. So wie damals seine Mutter. Als der Stiefvater sie verlassen hatte, damals, als Max noch ein kleiner Junge war, hatte sie tagelang die Nahrungsaufnahme verweigert und immer wieder geweint. Dann, an dem unsäglichen Tag, als er aus der Schule kam, hatte er sie gefunden. Sie lag auf dem Bett. Alles war voller Blut. Es war durch die Laken bis durch die Matratze gesickert und hatte sich, wie er später feststellte, unter dem Bett auf dem Boden gesammelt. Auch an den Seiten war es hinabgelaufen. Es war überall. In der Hand hatte sie noch das Messer, mit dem sie sich die Pulsader aufgeschnitten hatte. Es war der grauenvollste Moment seines Lebens gewesen. Überall das ganze Blut zu sehen, hatte ihm einen tiefen Schock versetzt. Vielleicht war er deswegen Arzt geworden?

    Jetzt wandte sich der schlanke Mann mit dem schmalen Mund und der modernen Brille langsam um und ging zu seinem Mercedes hinüber. Er hatte die Türen nicht verriegelt. Es war spät in der Nacht, und er hatte sich nicht weit von dem Wagen entfernt. Er startete den Motor und ein namhafter Pianist spielte eine Sonate im Radio. Er musste sich aufs Fahren konzentrieren, obwohl um diese Zeit kaum Verkehr herrschte. Er hatte Kopfschmerzen, und er hielt nach einer durchgehend geöffneten Apotheke Ausschau.

    Es wäre einfacher gewesen, wenn er sich im Krankenhaus bedient hätte, doch nach Dienstende hatte er noch keine Kopfschmerzen verspürt. Er wusste, welche Apotheke Nachtdienst hatte. Die Apotheke am Hauptbahnhof. Der Apotheker, der heute Nachtschicht hatte, trug ein Jackett. Es passte in seiner Zweitklassigkeit bestens zu den Schuppen auf seinem Kragen. Dr. Engström verzog angewidert das Gesicht. Er konnte Unsauberkeit nicht ausstehen.

    „Bitte?" war der Apotheker sichtlich genervt, da Max ihn vermutlich aus seinem Schlaf gerissen hatte.

    Ebenso grußlos bestellte er ein hochdosiertes Schmerzmittel auf einer Iboprofen-Lysin Basis, das allgemein gut verträglich war.

    „Zehner oder Zwanziger?"

    „Eine Zehnerpackung wird ausreichen", antwortete Max absichtlich im ganzen Satz.

    Der Mann entfernte sich vom Nachtschalter und kam nach einigen Minuten mit der gewünschten Schachtel Schmerztabletten zurück.

    „Ist das alles?" fragte er, während er die Schachtel in das zweiteilige Ausgabefach auf seiner Seite der gläsernen Trennscheibe legte.

    Max hatte nicht übel Lust ihn noch mal loszuschicken, verwarf den Gedanken aber wieder. Er wollte die Tabletten und dann nur noch nach Hause in sein Bett. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, und sein Dienst begann um sechs. So verneinte er, legte die geforderte Geldsumme in das Ablagefach, dass der Apotheker daraufhin zu sich in die Apotheke hinein drehte und Max wiederum den Zugriff auf das Aspirin ermöglichte. Wortlos griff er nach der Packung, verzichtete auf sein Wechselgeld und ging zum Wagen zurück. Dort riss er die Packung auf und nahm sofort zwei Tabletten. Etwas Wasser wäre schön gewesen. So würgte er sie trocken hinunter und freute sich darauf, dass sein Schmerz bald vergehen würde.

    *

    Mark Peters hatte, verglichen mit den letzten zehn oder fünfzehn Nächten, trotz der Hitze erstaunlich gut geschlafen. Er wachte auf, bevor der Wecker klingelte, stellte den Alarm aus, blieb aber noch eine Weile im Bett liegen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Der Vorhang bewegte sich sachte, ein sanfter Wind drang durch das gekippte Fenster, die Sonne bahnte sich allmählich einen Weg durch die Wolken. Er dachte an die vergangene Nacht, den Tatort und hoffte auf eine schnelle Aufklärung des Mordes an der jungen Frau. Die Erfahrung zeigte, wenn ein Mord nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden aufgeklärt wurde, oder zumindest ein Verdächtiger ausgemacht war, dann würde er gar nicht oder nur sehr selten aufgeklärt werden. Im Allgemeinen waren es die Exfreunde. Mark dachte an den vor ihm liegenden Tag, dass einige Stunden an Befragungen, ein Haufen Büroarbeit und vielleicht, wenn sie Glück hatten, heute Abend eine Verhaftung vor ihm lag. Der Abend. Er seufzte. Vermutlich würde er ihn wieder Zuhause verbringen. Es würde wieder einmal einer dieser geruhsamen, unendlich langweiligen Abende vor dem Fernseher werden. Vielleicht würde er heute endlich mit seiner Mutter telefonieren. Er schob diesen Anruf schon wieder viel zu lange vor sich hin. Vielleicht würde er einfach früh schlafen gehen.Um Punkt sieben warf er die Bettdecke zur Seite und stand auf.Nach einer Dusche und einem schnellen Kaffee fuhr er aufs Revier. Die Zeit war jetzt schon wieder knapp.

    Alle Kollegen waren bereits im Büro. Zwei Fenster standen weit offen, der morgendliche Straßenlärm drang mit Macht in die Zimmer. Die erste Besprechung der Ermittler, die den Fall bearbeiteten, begann kurz nach Marks Eintreffen. Er hatte sich gerade noch rechtzeitig einen Kaffee geschnappt, ehe es losging.

    „Irgendwelche Spuren?" wollte Berger, der Dezernatsleiter, wissen.

    Sein fahles Gesicht wirkte wie immer mürrisch, sein scharfer Blick glitt über die Ermittler, die vor ihm saßen. Vincent Berger war Mitte fünfzig. Sein sehniger Körper war trotz seines Alters noch immer gut durchtrainiert.

    „Hat sich das Opfer irgendwie gewehrt?"

    „Nein, keine Hautfetzen unter den Fingernägeln, keine blauen Flecken an den Armen des Opfers."

    „Was ist mit dem Blut?" ging der Vorgesetzte die Themen wie eine Checkliste durch.

    „Nicht ein Tropfen. Vielleicht arbeitet der Kerl fürs Rote Kreuz. Ich weiß nicht", versuchte Karl witzig zu sein.

    „Was soll das heißen, nicht ein Tropfen?" richtete Berger jetzt das Wort an den Pathologen.

    „Um es mit einfachen Worten zu sagen: Es war nicht in einer einzigen Arterie Blut zu finden", antwortete Dr. Hill aus der Gerichtsmedizin.

    „Ist das normal bei einer durchtrennten Kehle?"

    „Nein, das ist absolut ungewöhnlich bei einer Verletzung mit einem scharfkantigen Werkzeug, denn selbst wenn eine Arterie durchtrennt wird, wäre noch Blut in den Venen zu finden. Doch in der Leiche der Frau war kein Tropfen Blut mehr."

    „Vielleicht ist sie ein Vampir? Passen Sie auf die Fangzähne auf, Doktor", witzelte einer der Kollegen und erntete einen bitterbösen Blick vom Pathologen.

    „Hm. Was haben Sie noch? Was sagt der Forensischer Bericht?"

    „Das erhöhte Auftreten von Serotonin und freien Histaminschichten in der Wunde deutet darauf hin, dass die Frau noch ein paar Minuten gelebt haben musste, nachdem er begonnen hatte sie zur Ader zu lassen", antwortete Dr. Hill fachmännisch.

    Er war asiatischer Abstammung, etwa fünfzig Jahre alt, hatte schütteres, graues Haar und trug eine dunkle Hornbrille, die seine Kompetenz noch unterstrich.

    „Keine Würgemale oder sonstige Wunden", fügte der Eurasier hinzu.

    „Zur Ader gelassen…", wiederholte Mark den altmodischen Ausdruck.

    „Was zum Teufel ist Serotonin?" wollte einer der jüngeren Kollegen wissen.

    „Serotonin, ist ein Gewebshormon und Neurotransmitter, das unter anderem im Zentralnervensystem, Darmnervensystem, Herz-Kreislauf-System und im Blut vorkommt. Der Name dieses biogenen Amins leitet sich von seiner Wirkung auf den Blutdruck ab: Serotonin ist eine Komponente des Serums, die den Tonus, also die Spannung der Blutgefäße reguliert. Es wirkt außerdem auf die Magen-Darm-Tätigkeit und die Signalübertragung im Zentralnervensystem", erklärte der Mediziner gelassen.

    Einen Moment herrschte Stille. Alle Anwesenden starrten den Mediziner schweigend an.

    „Na schön. Was haben Sie sonst noch zu berichten?"

    „Dem Opfer wurde mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchschnitten, wobei beide Halsschlagadern, beide Halsvenen, die Luftröhre, die Speiseröhre sowie beide Vagus-Nerven durchtrennt wurden. Es handelt sich hier um einen korrekt ausgeführten Halsschnitt. Der Tod tritt in der Regel innerhalb von 10–15 Sekunden herbei."

    „Alles klar. Sonst noch was?" ergriff Berger wieder das Wort.

    Der Gerichtsmediziner nickte und trat vor. Er hielt einen Gebissabdruck aus Gips hoch.

    „Meine Herren, so sehen die Zähne des Täters aus. Anhand einer Bissspur, die wir inmitten der Wunde von Jennifer Sanders entdeckt haben, konnte das Gebiss des Mörders in etwa rekonstruiert werden. Zumindest die sechs oberen Zähne."

    Er räusperte sich und alle starrten erschrocken auf das Gebiss. Es sah aus, wie das Gebiss eines Tieres. Eines Raubtieres.

    „Ein Hund?" fragte Mark überrascht und erntete damit ein paar Lacher.

    Der ernste Blick des Vorgesetzten, sowie der versteinerte Ausdruck des Mediziners ließen die Beamten jedoch schnell wieder verstummen.

    „Wir fanden keine Hunde-DNA in der Wunde", erklärte der Mediziner ausdruckslos.

    „Wie Sie sehen hat der Täter extrem lange Eckzähne. Hier und hier."

    Er deutete auf die entsprechenden raubtierartigen Eckzähne.

    „Ein verdammter Hai!" rief einer der Beamten niederen Ranges.

    „Sind die Zähne verantwortlich für den… Aderlass?" fragte Karl jetzt irritiert.

    „Das erscheint mir nicht logisch, da beim Durchbeißen der Halsschlagader der Blutverlust enorm gewesen wäre. Es wäre nur so aus ihr herausgespritzt. Demzufolge hätten wir Spritzer überall auf dem Laken finden müssen. Doch da war nichts."

    „Dann hat er es getrunken, wie ein verdammter Vampir", knurrte Mark und verleitete einige Kollegen zu einem erneuten Lacher.

    „Meine Herren, ich darf doch sehr bitten. Wir reden hier über eine junge Frau, die erst 28 war. Ein bisschen mehr Anstand, wenn ich bitten darf", donnerte der Vorgesetzte los.

    Die Beamten blickten betreten zu Boden.

    „Gut, meine Herren. Wir suchen also jemanden, der das Opfer vermutlich kannte und der ein krankes Interesse an ihrem Blut hat. Außerdem hat er auffällig lange Eckzähne. Genug Spinner gibt es ja da draußen. Die Befragung der Anwohner wird auf einen Umkreis von vier zusätzlichen Häuserblocks um den Tatort ausgedehnt. Na, los. Sehen wir zu, dass wir ihn finden, ehe er auf den Geschmack kommt."

    *

    Am anderen Ende der Stadt saß Dr. Vivien Kramer in ihrem geschmackvoll eingerichteten Behandlungszimmer.

    „Es fällt mir immer schwerer, am Morgen aufzustehen. Oft liege ich einfach nur da und starre zum Finster hinaus", sagte die Patientin.

    „Was sehen Sie dort am Fenster?" fragte Vivien interessiert.

    Sie hatte ihre blonden Locken hochgesteckt und trug ein flaschengrünes Vivienne-Westwood-Kostüm. Die Beine hatte sie übereinander geschlagen und widerstand dem Bedürfnis mit dem Fuß zu wippen.

    „Nichts. Es ist noch dunkel", kam die Antwort von ihrer Patientin, die wirkte, als sei sie mit ihren Gedanken ganz woanders.

    „Was fühlen sie? Was geht ihnen durch den Kopf?" sprach Vivien mit ihrer einfühlsamen Stimme, während sie ihr Gegenüber betrachtete und bewusst darauf achtete, dass sie sich ihr körperlich gänzlich zuwandte.

    Die Frau, die etwa in ihrem Alter, also Anfang Dreißig war, hatte dunkle Augenringe. Sie war ungeschminkt und ihr Haar hätte gewaschen werden müssen. Jetzt nagte sie an ihrer Unterlippe.

    Wie bei vielen anderen erkannte Vivien auch bei dieser Frau schon an den Zahnabdrücken, die sich deutlich auf ihrer Unterlippe abzeichneten, dass sie sich bei Stress und Anspannung angewöhnt hatte, auf der Unterlippe zu kauen, ohne selbst zu merken, wie sie ihre Spannung an ihren sensiblen Lippen abreagierte.

    Zuerst schwieg die dunkelhaarige Frau. Dann zuckte sie mit den Schultern, ohne den Blick auf ihr Gegenüber zu richten. Es vergingen einige Minuten, ehe sie sich räusperte und weiter sprach.

    „Einfach liegen bleiben. Nicht aufstehen müssen", gestand sie leise.

    „Aber sie stehen auf. Sie sind jetzt hier, Lisa", stellte Vivien mit einem motivierenden Klang in der Stimme fest.

    Die Patientin nickte, schwieg jedoch wieder. Vivien machte sich eine Notiz in ihre Unterlagen und sah unauffällig auf die Uhr, die hinter ihrer Patientin hing. Sie hatten noch genug Zeit.

    Dr. Vivien Kramers Sprechzimmer war weit und geräumig, hatte eine hohe Decke sowie sonnenhelle, stuckverzierte Wände. Das große Fenster lag zur Südseite und ließ viel Licht und Sonne herein. Der Holzboden war im Laufe der Jahre nachgedunkelt. In der Ecke befand sich ein niedriges Ledersofa, dass für zwei gedacht war. Davor stand ein entsprechender Sessel. Die kleine Sitzgruppe wurde durch einen Glastisch miteinander verbunden, auf dem eine gut gefüllte Obstschale und eine Packung Kleenex stand. An der linken Seite stand ein kleiner Schreibtisch auf dem, neben Telefon und PC, einige Ledermappen und ein Montblancetui lagen.

    Vivien und ihre Patientin saßen auf den schönen Holzstühlen auf der rechten Seite.

    „Sie wollten heute über etwas Bestimmtes mit mir sprechen, Lisa", erinnerte Vivien sie sanft.

    Lisa nickte kaum merkbar, während sie die Fingerspitzen vor ihren Mund hielt. Vivien erkannte daran, dass sie eigentlich etwas sagen wollte, dies aber dann doch zurückhielt.

    „Ich möchte nicht, aber ich muss. Ich komme schließlich schon seit Monaten zu ihnen", setzte sich die Patientin selbst unter Druck und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.

    Vivien schwieg. Manchmal war Schweigen wirksamer, als jedes gesprochene Wort. Lisa brauchte noch etwas Zeit.

    „Ich weiß, dass ich nicht aus der Wohnung gehen will, weil…"

    begann die Frau stockend.

    Vivien schlug das Herz bis zum Halse. Es war das erste Mal, dass Lisa diese Tatsache laut aussprach. Die Psychologin wartete gebannt.

    „Ich saß in der S-Bahn. Es war schon spät. So gegen eins", begann sie endlich, und Vivien machte sich eifrig Notizen.

    „Er war ganz plötzlich da. Ich muss eingeschlafen sein", fuhr Lisa fort.

    Vivien schrieb das Wort eingeschlafen in ihre Akte und umkreiste es. Hier war der erste Ansatz, für die unbewusste Weigerung der Patientin zu schlafen.

    „Wie eine Erscheinung aus der Dunkelheit erwachsen", beschrieb Lisa, während sie den Blick starr ins Nichts gerichtet hatte.

    „Sie machen das sehr gut, Lisa. Wollen sie mir erzählen, wie der Mann aussah", forderte Vivien behutsam auf.

    Schnell schüttelte Lisa den Kopf, während sie sich an der Schulter und am Oberarm kratzte. Dieses Verhalten deutete an, dass sie Aggressionen aufgestaut hatte, die zu offensichtlichem Juckreiz führten. Ihr Unterbewusstsein wollte den Kontakt augenblicklich zum Abbruch bringen, denn normalerweise würde ein solches Verhalten einen Gesprächspartner sofort unbewusst dazu bringen, dass vermeintlich aufkommende Gespräch schnell zu beenden.

    Doch sie war kein normaler Gesprächspartner. Sie war ihre Psychologin, also begann sie Lisas Körperhaltung zu spiegeln, indem sie sich auch an den Oberarmen rieb. Der Erfolg blieb nicht aus.

    Schon nach wenigen Minuten öffnete sich die Körperhaltung der Patientin wieder.

    „Was geschah dann? Woran erinnern sie sich?" führte Vivien sie weiter durch ihre entsetzlichen Erinnerungen, wobei sie darauf achtete, dass ihre Stimmlage ganz weich und fließend wirkte.

    Schweigen.

    Lisa holte tief Atem, schüttelte noch immer leicht den Kopf und begann dann leise und monoton zu berichten.

    „Ich sah sofort das Messer. Es war eine lange, schmale Waffe, so wie ein Brieföffner", flüsterte sie kaum hörbar.

    Vivien verhielt sich ganz ruhig, um ihrer Patientin Zeit zu lassen.

    Dies war jetzt ein wichtiger Punkt. Vielleicht musste sie ihren Folgetermin warten oder ganz ausfallen lassen.

    „Als er sprach, klang seine Stimme, als würde sie von einem fernen Planeten kommen. Aber jedes Wort hallte in meinem Kopf wider", beschrieb Lisa.

    „Was hat er gesagt?"

    „Sei still, oder ich bring dich um… Und ich war still. Da waren später noch andere…"

    „Andere?" fragte Vivien nach.

    „Andere Fahrgäste. Ich habe nichts zu ihnen gesagt. Habe nicht gesagt, dass sie helfen sollen."

    Es war deutlich, dass sich die junge Frau Vorwürfe machte.

    „Sie hatten Angst. Er hat gedroht sie zu töten", erinnerte Vivien sie mit sanfter, eindringlicher Stimme.

    Lisa nickte unter lautlosen Tränen, während sie sich die zitternde Hand vor den Mund legte. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln.

    „Was fühlten sie noch? Beschreiben sie diesen Moment", stieg Vivien nach einer Weile wieder ein.

    „Es war alles so unwirklich. Alles verlangsamte sich. Ich war wie betäubt…."

    Sie schwieg wieder.

    „Wenn Sie sagen, sie waren wie betäubt, was genau meinen Sie damit? Wie hat es sich angefühlt?"

    „…als hätte man mir eine Spritze gegeben, die alle Eindrücke von außen erstickte."

    Vivien nickte mitfühlend.

    „Dadurch fühlten Sie sich sicher hilflos."

    „Ja, ein grauenhaftes Gefühl von Hilflosigkeit überkam mich. Als wäre ich gelähmt, oder könnte mich nur… als wenn ich in einem Honigglas steckte und der Honig meine Bewegungen und auch meine Gedanken verlangsamten", versuchte sie sehr treffend und anschaulich zu beschreiben.

    Vivien nickte ihr verstehend zu.

    „Ihr Verstand konnte die Situation nicht schnell genug erfassen.

    Das ist vollkommen normal, Lisa", vermutete Vivien, doch Lisa schien sie nicht zu hören.

    Sie war bereits tief in ihren schrecklichen Erinnerungen versunken.

    „Früher hatte ich die Hände von Männern immer gern gehabt, aber seine waren schrecklich. Sie waren kalt und weiß. So kalt.

    Seine langen, dünnen Finger griffen in meinen Nacken. Ich spürte das Messer, dass er mit der Spitze voran an meine Kehle drückte.

    Dann schob er seine Jogginghose herunter und drückte meinen Kopf auf seinen Schoß", presste sie die letzten Sätze wie ein Maschinengewehr hervor.

    Der dunkelhaarigen Frau wich zusehends die Farbe aus dem Gesicht.

    „Was ging in ihnen vor?" begann Vivien langsam und weich.

    Die Frau schüttelte den Kopf, sank komplett in sich zusammen und begann zu schluchzen. Vivien wartete einen Moment, ob sie sich wieder beruhigen würde, doch das war nicht der Fall. Die Schilderung der entsetzlichen Ereignisse, war einfach zu schrecklich für sie, was vollkommen verständlich war. Vivien kannte den Polizeibericht, doch in der Therapie ging es darum, dass Lisa die Ereignisse mit eigenen Worten schilderte, so lange, bis sie sie letztlich verarbeitet hatte. Doch davon waren sie noch weit entfernt.

    „Sie sind in der Öffentlichkeit von zwei Männern brutal vergewaltigt worden. Sie haben heute einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht, Lisa. Belassen wir es für heute dabei."

    Lisa schwieg. Wie erstarrt hatte sie ihre Lippen aufeinander gepresst.

    „Nicht jede Frau überlebt den Angriff von zwei erwachsenen Männern", gab Vivien weiter zu bedenken.

    Vivien beobachtete ihr Gegenüber genau. Lisas Augen waren weit geöffnet. Die Brauen der Frau wiesen nach oben und waren zusammengezogen. Der Mund war deutlich nach hinten gedehnt. All dies, was sie im Gesicht ihrer Patientin las, verriet ihr eins: Angst! Vor Aufregung zitterte ihr der Unterkiefer, und sie saß vor ihr mit verknoteten, in sich gekehrten Armen und Beinen. Die Arme lagen eng am Körper, die Beine hatte sie gegeneinander gepresst. Den Blick hielt sie gesenkt, was einen offenen, direkten Blickkontakt verhinderte, wenn nicht gar unmöglich machte.

    „Lisa, ich möchte, dass Sie sich immer wieder sagen‚ dass er ein Messer hatte, dass er sie damit hätte umbringen können, und dass es ihnen daher unmöglich war, ihn gänzlich abzuwehren."

    Lisa sah auf und nickte dann matt.

    „Sagen Sie es, Lisa."

    Die junge Frau nickte leise. Ihre Stimme war hauchdünn.

    „Er hatte das Messer. Er wollte mich damit umbringen. Deswegen habe ich mich nicht gewehrt."

    „Richtig. Wiederholen Sie das. Wiederholen sie es, so lange, bis sie es wirklich verinnerlichen."

    Nachdem die Patientin ihr neues Mantra mehrmals wiederholt hatte, wechselte die Psychologin das Thema.

    „Haben sie eigentlich inzwischen darüber nachgedacht, ob sie das Kätzchen aus dem Tierheim zu sich holen? Wie hieß es noch mal?"

    lenkte sie also geschickt ab.

    Es dauerte nur wenige, unmerkliche Sekunden, da glitten Lisas Gedanken schon in die vorgegebene Richtung.

    „Das Kätzchen. Zora. Das Kätzchen heißt Zora", taute sie augenblicklich auf.

    „Was für eine Rasse ist es?" setzte Vivien die Gedanken ihrer Patientin weiter fest.

    „Europäisch Kurzhaar."

    „Und? Gefällt sie ihnen?"

    „Oh, ja. Sie ist so süß", schwärmte die Frau.

    Ihre Augen begannen zu glänzen und sie suchte wieder den Blickkontakt zu Vivien. Ihr Verstand hatte die Hilfestellung und die Möglichkeit zur Flucht sofort angenommen.

    „Man könnte meinen, dass sie eine ganz gewöhnliche Hauskatze ist, aber die Dame vom Tierheim sagte mir, dass europäisch Kurzhaar eine anerkannte Rasse ist", plauderte sie und nickte nachdrücklich mit dem Kopf.

    Ihre Angst, die einer Panikattacke geglichen hatte, schien wie weggeblasen.

    „Ihr Fell ist kurz aber sehr geschmeidig. Es gibt viele verschiedene Farben und Muster, die eine europäische Kurzhaarkatze haben kann. Zora ist beinahe schwarz, aber mit einer so bezaubernden Musterung und weißen Schecken im Fell."

    Zufrieden seufzte die Patientin, und ein Blick auf die Uhr zeigte Vivien, dass die Stunde bereits vorüber war. Der nächste Termin wartete schon. Nachdem Lisa den Raum verlassen hatte, fiel Vivien wieder zurück auf ihren Stuhl. Wie immer nach ihren Sitzungen fühlte sie sich wie leer gepumpt, bar jeglicher Energie. Das lag nicht nur an all den entsetzlichen Dingen, die ihre Patienten erzählten, sondern vor allem daran, dass sie als Therapeutin ständig auf der Hut sein musste. Vor allem Lisas Therapeutin zu sein war ein Balanceakt, der mental immer wieder sehr anstrengend war.

    *

    Die Tür sprang auf und Christina ließ sich in einen der Sessel in Viviens Sprechzimmer fallen. Christina, ihre ruhelose Freundin mit dem reinweißen Gebiss und den schönen, vollen Lippen.

    „Endlich Mittagspause", seufzte sie, während sie alle viere von sich streckte und den Kopf entspannt in den Nacken legte.

    „Ich hatte heute drei Schleiftermine, fünf Kontrollen und eine Wurzelentzündung. Ich bin völlig fertig", prustete die Zahnärztin, als hätte sie einen Sieben-Kilometer-Lauf hinter sich.

    Vivien lachte und setzt sich zu ihr. Christinas Freundin zu sein war zwar irgendwie auch ein Balanceakt, aber im Unterschied zu den Patienten verströmte Christina pure Lebensfreude. Christina war ihre beste Freundin. Das Schicksal hatte es gut mit ihnen gemeint und sie in die Dentalpraxis im ersten Stock geführt, im selben Gebäude, in dem auch ihre Praxis lag. Seit sie ihr wegen ihrer minimalen Zahnlücke, die Vivien zwischen den vorderen Schneidezähnen hatte, nicht mehr ständig in den Ohren lag, kamen sie prima miteinander aus. Viele ihrer gemeinsamen Bekannten glaubten, die beiden Frauen hätten sich während des Studiums auf dem Campus kennengelernt. Doch das stimmte nur zur Hälfte.

    Es war in der Zeit, in der sie studiert hatten, doch sie hatten sich nicht auf dem Campus getroffen. Das erste Mal begegneten sie sich bei einem Modeljob.

    „Das war der dämlichste, langweiligste Job, den ich je hatte",

    sagte Christina immer, wenn sie darauf angesprochen wurde.

    „Ich hab richtig gespürt, wie meine grauen Zellen bei jedem Termin vertrockneten."

    „Immerhin haben wir von dem Modelgeld studiert. Offensichtlich sind nicht alle unsere grauen Zellen eingegangen", pflegte Vivien daraufhin zu kontern.

    Nun hatten die beiden es geschafft. Sie hatten ihre eigenen Praxen, die auch noch im selben Gebäude lagen. Es stand in einer exklusiven Wohnanlage mit viel Grün und war geschützt durch eine hohe Steinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor, gleich in der Nähe des Stadtparks.

    Vivien reichte ihr ein Glas Eistee und stellte die Schüssel mit dem Obstsalat auf den Tisch.

    „Ich könnte jetzt einen Gin-Tonic vertragen", jammerte Christina und richtete sich mürrisch auf.

    „So schlimm?" war Vivien sofort mitfühlend.

    „Schlimmer. Ich habe zwei Wochen lang unseren Pilateskurs geschwänzt und bin alles andere als fit. Vom Abschleifen ist mein Arm ganz lahm, und ich werde morgen sicher Muskelkater haben",

    antwortete sie betont theatralisch, so dass Vivien lachen musste.

    „Und bei dir so?" fragte sie endlich, während sie nach dem Obstsalat griff und ihr vor ihr stehendes Schälchen damit füllte.

    „Meine Patientin aus der Straßenbahn hatte heute einen Durchbruch. Später kommt dann noch eine Paartherapie. Alles in allem ein ganz normaler Tag", berichtete Vivien.

    „Stinknormal und langweilig", korrigierte Christina und erntete einen strafenden Blick.

    „Na, mal sehen, was der Abend so bringt", schwenkte Christinas Laune sofort um und zauberte ihr ein vergnügtes Lächeln auf die schönen, vollen Lippen.

    „Wieso der Abend? Haben wir etwas vor?" war Vivien ahnungslos.

    „Hallo, es ist Donnerstag. Wir gehen zum After-Work", brachte ihr Christina in Erinnerung.

    „Richtig", erinnerte sie sich wieder.

    Sie hatten es sich zur Pflicht gemacht jeden zweiten Donnerstag nach der Arbeit auszugehen. Sie waren ein unschlagbares Paar, das sofort Aufsehen erregte, da sie so unterschiedliche Typen waren. Während Vivien die kühle Blonde mit den langen Locken darbot, war Christina die quirlige Kurzhaarige mit dem trendigen, nachtschwarzen Pagenschnitt. Und da beide ihren Pilateskurs so oft schwänzten, gaben sie sich alle Mühe wenigstens auf der Tanzfläche ein wenig Bewegung in ihre trägen Glieder zu bringen.

    „Werden wir Michael zufällig treffen?" ahnte Vivien bereits Böses.

    Michael war Christinas große Leidenschaft. Er war ihr kleines Geheimnis, ihr verheirateter Freund.

    „Möglich", grinste sie und schaufelte sich die Äpfel und Erdbeeren, die sich mit Birne und Banane mischten, in den Mund.

    „Erzähl mir bloß nicht, dass er die Scheidung einreichen will und ihr heute feiern wollt", stöhnte Vivien in gespielter Überraschung auf.

    Christina antwortete gar nicht darauf. Sie kannte das schon. Sie hatte nun mal ein Faible für diesen verheirateten Mann, den ihre Freundin nicht mit ihr teilte. Das war halb so wild. Es war eines der ungeschriebenen Gesetze der Freundinnen. Jede hatte ein Recht auf ihre eigene Meinung. Sie mussten nicht immer übereinstimmen nur weil sie befreundet waren.

    „Meine Güte. Ich brauche nun mal regelmäßigen Sex, aufregend, aber nicht zu anstrengend", gab Christina gleichmütig zu.

    „Aber deswegen muss ich nicht jemanden wollen, der für mich kocht und mit mir nette Gespräche führt. Nette Gespräche führe ich mit dir", räumte Christina ein.

    Vivien lachte und schüttelte nachsichtig den Kopf. So war sie eben, ihre Christina.

    „Wenn ich mir vorstelle, so eine feste Beziehung? Ständig diese Rücksichtnahme auf seine Belange und dazu heiße Dessous, schmutzige Wörter, allzeit bereit, aber nur für ihn. Nee, keinen Bock drauf", philosophierte Christina weiter.

    „Was ist mit treu, ehrlich, witzig…?" wandte Vivien ein.

    „Oh, bitte. Ich muss doch jetzt nicht wieder eine Grundsatzdiskussion führen über das Thema Treue?"

    „Nein, nein. Aber vielleicht eine Grundsatzdiskussion über heiße Dessous?" veräppelte Vivien sie und erntete einen entsprechenden Blick.

    „Ehrlich, Christina. Nicht alle Kerle empfinden beim Anblick von sündigen Dessous, Strapsen und Spitze Erregung. Einige finden das sogar grauenhaft, wenn sie einen Stringtanga aus der Pofalte wurschteln müssen", behauptete Vivien.

    „Schon klar. Nicht bei jedem zieht die Sexy-Unterwäsche-Nummer. Wieso eigentlich nicht?" wollte Christina vom Wissen ihrer Psychologenfreundin gebrauch machen.

    „Was weiß denn ich? Die mögen halt lieber nackte Haut oder stehen auf einfache, weiße Slips."

    „Vielleicht welche mit Wochentagen oder Blümchen drauf", lachte Christina auf.

    „Den mädchenhaften Look", stimmte Vivien zu.

    „Das übergroße Hemd aus dem Männerschrank mit herunter gerollten dicken Wollsocken", verstand Christina genau, worauf Vivien abzielte und warf ihren Kopf in den Nacken vor Lachen.

    „Es muss ja nicht immer der Mini und die hohen Schuhe sein",

    fand Vivien.

    „Oh, doch. Heute Abend schon. Heute Abend ist das ein Muss.

    Alles klar?" bestand Christina auf den sexy Ausgehlook, und Vivien verdrehte gespielt ihre Augen.

    *

    In letzter Zeit war es für Vivien wieder okay am Abend in ihre leere Wohnung zurückzukommen. Seit Max vor zwei Monaten ausgezogen war hatte sie anfänglich stets ein seltsames Gefühl dabei gehabt. Sie hatte den hochgeklappten Toilettendeckel, den Schrank voller Anzüge und Hemden, den frisch gepressten Orangensaft und den Schinken im Kühlschrank vermisst. Vor allem aber fehlte ihr der andere Körper im Bett, der ihr nachts sagte, dass sie schön sei, und morgens, dass sie endlich aufstehen solle, weil sie sonst wieder zu spät käme. Inzwischen wusste sie es wieder zu schätzen ungehemmt ihrer Selbstsucht zu frönen. Endlich konnte sie wieder im Bett Schokolade essen, sich spät nachts noch die Widerholungen im Fernsehen ansehen, die Wäsche so lange ignorieren, bis sie nichts mehr anzuziehen hatte und zu Terminen einfach mal zu spät erscheinen, ohne dass sie ständig jemand dafür rügte. Sie konnte jemand Neuen kennenlernen und mit der ganzen Schwindel erregenden, herrlichen und schrecklichen Karussellfahrt von vorn beginnen. Ja, das konnte sie.

    Am vergangenen Wochenende hatte Vivien verwickelte und leicht beängstigende Überlegungen darüber angestellt, wie viel von ihrem Leben sie schon verschwendet hatte und wie viel Zeit ihr noch bleiben würde – was sie bisher getan hatte und was sie alles noch tun wollte. Sie war vierunddreißig. Sie rauchte nicht und aß viel Obst und Gemüse. Sie ging jede Treppe hinauf, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen, und gelegentlich ging sie mit Christina zu ihrem Pilateskurs. Sie kam also zu dem Schluss, dass sie wohl noch fünfzig Jahre vor sich hatte. Mehr oder weniger. Genug Zeit um endlich den Segelschein zu machen, womöglich sogar eine Survival-Tour quer durch Europa zu unternehmen und den Mann ihrer Träume kennen zu lernen. Eventuell würde Max ebenfalls beim After-Work sein. Sie nahm sich also vor, sich heute mal so richtig schön zu machen. Sie wusch sich das Haar und bügelte ihr rotes Sommerkleid. Anschließend legte sie sich in ein duftendes Ölbad. Danach verspeiste sie zwei Scheiben Toast, die sie mit Tomaten, Käse und einem Salatblatt belegt hatte, warf einen Blick auf die Uhr und musste feststellen, dass es höchste Zeit war, um sich endlich auf den Weg zu machen. Gutgelaunt hüpfte sie die Treppen hinunter und ergatterte an der Kreuzung unweit ihrer Wohnung tatsächlich ein Taxi, das sie in den Club bringen würde. Vivien nahm sich ganz fest vor den ganzen Abend zu lachen, zu flirten und zu tanzen. Wenn Max auftauchen sollte, würde er schon sehen, was er alles verloren hatte, und er würde feststellen, dass es ihr überhaupt nichts ausmachte. Sie war nicht einsam ohne ihn!

    *

    Am Tage heizen sich ihre Körper auf. Im Sommer sickert die Hitze selbst bei Einbruch der Nacht durch die Poren ihrer Haut. Wie heißes Licht das in meine Dunkelheit dringt. Ich stelle mir vor, wie es in ihrem Inneren umherwogt, und wie es sie erregt. Ich denke an die dunkle, köstliche Flüssigkeit unter ihrer Haut. Sie lassen die Kühle der Nacht ihre Arme und ihren Hals erfrischen. Frauen. Bei Anbruch der Nacht beobachte ich sie, rieche sie, präge sie mir ein. Sie betrachten ihr Spiegelbild in den Schaufenstern, ziehen den Bauch ein, stellen sich aufrechter hin, und ich sehe ihnen dabei zu. Ich beobachte sie dabei, wie sie sich betrachten. Ich sehe sie, wenn sie glauben, unbeobachtet zu sein. Ahnungslos gehen sie an mir vorüber. Sie sehen mich nicht, aber ich sehe sie, wenn sie sich allein wähnen.

    Die Frau vor ein paar Tagen, die vor dem Fernseher fast eingeschlafen war. Ihr Kleid hatte sich etwas hoch geschoben und ein Stück Slip hervorblitzen lassen. Weiche Oberschenkel. Ihre Kopfhaltung wirkte unbequem. Ich machte ein schabendes Geräusch an ihrem Fenster, damit sie aufwachte. Tatsächlich war sie daraufhin hoch geschreckt und fragte sich, wo sie war, und ihr schlaffer Mund stand offen. Über ihre Wange zog sich eine dünne, unmerkliche Linie aus Speichel, wie die Spur einer Schlange. Genau im Moment ihrer Verwirrtheit klingelte ich an ihrer Tür. Noch im Halbschlaf schritt sie zur Tür, um sie nur einen Spalt zu öffnen. Die Tür war durch eine Kette gesichert. Gut so. Es gibt so viel Böses, das in der Nacht lauert. Ich war charmant und erzählte ihr, dass ich der neue Nachbar bin und mich vorstellen wollte. Es war so leicht sie dazu zu bringen mich herein zu bitten...

    2. Kapitel

    Wie sich herausstellte, war Max nicht beim After-Work, und nach einer Weile hörte Vivien auf, jedes Mal hinzuschauen, wenn jemand zur Tür hereinkam.

    „Er kommt nicht mehr hierher", brüllte Christina ihr endlich ins Ohr.

    Vivien fuhr herum und starrte die Freundin bitterböse an. Dass sie sie immer so durchschauen musste.

    „Was ist?" war Christina gleichmütig.

    „Ich habe einen schlechten Charakter und eine gute Figur. Und ich danke dem Schicksal dafür, dass ich so bin, wie ich bin. Hey, da ist Michael", freute sich Christina auch schon, deutete in Richtung Tür und verschwand in die andere Richtung, um einem anderen Adonis schöne Augen zu machen.

    Vivien schüttelte über sie den Kopf. So war Christina eben. Sie war keine von denen, die glaubten man würde bewundert indem man bewundert.

    „Mit großen Augen hochsehen und ‚Aah’ und ‚Oh’ rufen, als würde man ein Sylvesterfeuerwerk bestaunen. Pah. Nein, nicht mit mir.

    Männer lieben dich, wenn du sie erniedrigst. Frag mich nicht, warum. Es ist so!" war von je her Christinas feste Überzeugung.

    Michael, Christinas derzeitiger Lover, war nicht allein. Er hatte noch einen Typen im Schlepptau, der gar nicht mal so schlecht aussah. Er war mittelgroß, schlank, wirkte sogar recht durchtrainiert und hatte aufrichtige helle Augen. Also folgte Vivien ihrer Freundin und zog sie aufgebracht beiseite.

    „Was wird das? Willst du mich etwa verkuppeln?!" zischte Vivien die Freundin an, wobei sie ihr kräftig in den Oberarm kniff.

    „Aua, spinnst du? Nein natürlich nicht. Der Typ ist ganz zufällig hier. Er ist ein Freund von Michael und war vorhin bei mir in der Praxis. Nur ein wenig Zahnstein. Gutes Gebiss", versuchte Christina den Verdacht ihrer Freundin mit mäßigem Erfolg zu entkräften.

    „Hm, schön für ihn. Interessiert mich aber nicht. Ich will kein Pferd kaufen", stellte Vivien klar.

    „Ich weiß, du wartest auf den Prinz, der eines reitet. Scheiß drauf, die kommen auch alleine klar", fand Christina unbekümmert und marschierte voraus auf die Tanzfläche, denn sie wollten sich heute schließlich amüsieren und ein kleines Workout wäre auch nicht schlecht.

    Vivien tanzte ziemlich wild mit einem Anwalt, der buschige Augenbrauen hatte und ihr nach zwei Tänzen in relativ kurzer Folge zwei Whisky-Sour spendierte. Die Drinks waren gut gemixt, so dass man den Alkohol nicht zu stark herausschmeckte, was immer gefährlich war. Auch die Präsentation war gelungen. Der Barkeeper hatte schöne Longdrinkgläser, an denen außen ein dünnes Röhrchen herumgeschwungen war. Das alleine sah schon dekorativ aus. Nachdem er den geshakten Drink abgeseiht hatte, gab er noch 2 Orangespalten, einige Minzeblättchen und eine Maraschinokirsche zum Whisky hinzu. Lecker! Der Anwalt war langweilig, der Barkeeper, mit dem sie heimlich flirtete, zu jung und die Musik zu laut, da sie einen blöden Platz direkt vor den Boxen innehatten. Sehnsüchtig sah sie zu Christina hinüber, die sich gerade von ihrem Michael heiß und wild küssen ließ. Sein Anhängsel stand etwas verlegen daneben und ließ seinen Blick über die Menge gleiten, bis er bei ihr hängen blieb. Er lächelte matt und zuckte in einer bedauernden Geste mit den Schultern. Vivien gab sich einen Ruck und ging zu ihm hinüber. Den Anwalt ließ sie ohne ein weiteres Wort stehen. Sie vermutete, er würde ohnehin erst in ein oder zwei Stunden bemerken, dass sie nicht mehr da war, denn er hatte gerade begonnen sich mit einem Kollegen über irgendeinen Fall zu unterhalten. So bahnte sich die nicht mehr ganz nüchterne Vivien einen Weg durch die Menge. Die Menschen um sie herum wirkten teilweise schon recht mitgenommen, andere überdreht und hektisch. Es ging schon auf Mitternacht zu und wer noch niemanden abbekommen hatte, der würde wohl für heute Abend leer ausgehen. So war das ungeschriebene Gesetz. Ein Muskelmann mit weißblond gefärbtem Haar versuchte sie am Arm zu packen, zuckte dann jedoch grinsend mit den Schultern, als Vivien ihm sagte, er solle sich verpissen. Das half immer. Beschwipst stolperte sie Michaels Freund in die Arme.

    „Phu, so eine Strapaze. Jetzt brauche ich etwas zu trinken", rief sie ihm lachend zu.

    Die schöne Leichtigkeit des Seins. Heute Abend wollte sie nichts weiter als Leichtigkeit. Sie wollte sich amüsieren. Nicht mehr und nicht weniger.

    „Gern, was darf es denn sein?" reagierte der Typ sofort.

    „Ich weiß nicht", hatte sie dazu gerade keine Meinung.

    „Sie sehen aus wie ein Tom Collins", fand er, drehte sich sofort zur Bar und orderte einen.

    Das kam in diesem Moment bei Vivien richtig gut an.

    „Ein Mann der Tat. Cool", brüllte sie ihm ins Ohr, während sie mit der Musik mitwippte.

    „Kommt der Tom-Collins-Spruch immer gut an?" wollte sie dann wissen.

    Er sah sofort wie ein Schuljunge aus, der beim Spicken erwischt wurde.

    „Manchmal", zuckte er leichthin mit der Schulter.

    „Kommt er heute an?" legte er schnell nach.

    „Mal sehen."

    Er war nicht schlecht. Er sah ein wenig zerknittert aus, aber doch irgendwie attraktiv. Er hatte glattes, zurückgekämmtes Haar, hervortretende Wangenknochen und aufgeweckte Augen, die er ununterbrochen auf Vivien gerichtet hatte. Es war ein ganz eigenartiger Blick, in dem etwas Lauerndes, Beobachtendes lag, als wäre sie ein Autounfall.

    „Na, Shugar? Alles gut?" flötete Christina ihr plötzlich von hinten ins Ohr.

    „Und bei dir?" drehte sich Vivien zu ihr um, und die beiden tanzten einen Moment nach dem aktuellen Song.

    „Sei nett zu ihm. Er ist ein guter!" bat Christina schließlich und wandte sich wieder ihrem Michael zu.

    Den Blick, den Vivien auffing, als sie sich wieder ihrem Begleiter zuwandte, deutete sie sofort richtig. Er schien sich um seinen Freund zu sorgen, der ja mit einer anderen verheiratet war und hier vor seinen Augen ziemlich eindeutig und wild mit Christina herummachte.

    „Sie weiß, dass er in festen Händen ist", beruhigte Vivien ihn.

    „Wie heißt du überhaupt?" fiel ihr dann auf, dass sie seinen Namen noch gar nicht kannte.

    „Mark. Mark Peters."

    „Und was machst du so, Mark Peters?"

    „Ich bin der Gute", antwortete er und brachte Vivien damit ein wenig aus ihrer Leichtigkeit.

    Hatte er das Gespräch zwischen Christina und ihr mit angehört?

    Das wäre unmöglich bei der Lautstärke, die hier herrschte.

    „Nun schau nicht so erschrocken. Ist es schlimm, wenn man der Gute ist? Das war ein Witz. Ich bin Ermittler beim Dezernat für schwere Verbrechen. Ich dachte, das wüsstest du?"

    Vivien schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte keine Ahnung.

    „Du siehst gar nicht aus, wie ein Polizist", hatte sie sich schnell wieder gefasst.

    Einen Augenblick starrte er sie überrascht an, dann lächelte er.

    „Wie sollte denn deiner Meinung nach ein Polizist aussehen?"

    „Ich weiß nicht. Du siehst einfach nicht aus wie ein Polizist. Du siehst…", hielt sie abrupt inne, weil ihr beinahe herausgerutscht wäre, dass er für einen Polizisten viel zu gut aussah.

    Sie durfte heute nichts mehr trinken, sonst würde sie womöglich noch etwas tun, was sie gar nicht tun wollte.

    „…so normal aus", beendete sie den Satz mit deutlicher Verzögerung.

    „Ist das alles? Ich hatte gehofft, du würdest etwas Nettes sagen?"

    „Ist es nicht ein nettes Kompliment, wenn jemand sagt, man sehe nicht wie ein Polizist aus?" konterte sie mit einem koketten Augenaufschlag.

    Was trieb sie da? Sie flirtete ja, wie sie halb belustigt und halb verwundert feststellte. Aber das war es ja auch was sie sich für den heutigen Abend vorgenommen hatte. Warum also nicht mit dem Polizisten flirten? Der war in jedem Fall besser als der Anwalt von vorhin.

    Eine halbe Stunde später hatte sie ihn sogar so weit, dass er sich mit ihr auf die Tanzfläche stellte. Zugegebenermaßen machte er dort keine wirklich gute Figur, aber welcher Mann machte das schon? Vivien war das ganz egal. Ihr war mittlerweile klargeworden, dass sie kein sonderliches Interesse an diesem Mann hatte.

    Ja, er war nett, sah gut aus und war auch eindeutig interessiert.

    Aber er war auch einer derjenigen, die einfach gestrickt und leicht durchschaubar waren, und sie wünschte sich doch so sehr, endlich mal wieder von einem Mann überrascht zu werden. Nach einem zweiten Tom Collins war sie dann plötzlich so müde, dass sie nur noch nach Hause in ihr großes Bett wollte. Allein, verstand sich. Doch diese Nacht sollte noch einiges an Überraschungen bereithalten.

    *

    Die Blonde im roten Sommerkleid. Ihr lockiges Haar glänzt wie Seide. Einer ihrer Träger ist verdreht, doch es scheint sie nicht zu stören. Der dünne Rockteil ihres Kleides flattert im Rhythmus ihrer Schritte. Sie eilt mit strumpflosen Beinen davon. Ich habe meine Fährte aufgenommen. Hm, sie duftet köstlich unter ihrem Deo, dem Duft ihrer Seife und dem Parfüm, das sie sich auf die Handgelenke und hinters Ohr getupft hat. Ich wittere die Frische ihrer Haut und den betörenden Duft ihrer Weiblichkeit. Köstlich. Beim Gehen schwingt sie die bleichen, mit feinen Härchen bedeckten Arme, und ihre Brustwarzen zeichnen sich unter dem straffen Baumwollstoff ihres Kleides ab. Sie reiben bei jeder Bewegung unmerklich an dem Stoff. Sie hat schöne, feste Brüste, aber kantige Hüftknochen. Sie trägt Sandalen mit niedrigen Absätzen. Sie ist perfekt, wie eine Blume, sauber und frisch. Auch sie wird schon bald mein sein. Ich studiere ihren Gang, die Art, wie sie den Kopf hält oder sich das Haar hinter die Ohren schiebt. Die Art, wie sie mit einem Lächeln wegsieht, nur um kurz darauf wieder zu mir herüber zu sehen. Oh, ich werde sie genießen…

    *

    Die Kreuzung war gut beleuchtet. Da die Stadt gestern eine Baustelle errichtet hatte, war die Seitenstraße, die zu Viviens Wohnung führte, für das Taxi aus dieser Richtung schwer zugänglich.

    „Ist okay. Sie können mich hier rauslassen", wies sie den Fahrer also noch auf der Hauptstrasse an.

    Er war ein junger Farbiger, wie so viele seiner Taxifahrerkollegen.

    Er war ruhig und freundlich. Vivien zahlte, rundete nach oben auf und verabschiedete sich mit einem höflichen Lächeln. Dann ging sie über die feuchten Pflastersteine. Es hatte geregnet, und die Luft roch frisch. Herrlich. Um

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