Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Risse im Schafspelz: Erzählungen
Risse im Schafspelz: Erzählungen
Risse im Schafspelz: Erzählungen
eBook136 Seiten1 Stunde

Risse im Schafspelz: Erzählungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

»Ganz ehrlich: So einen leichten Tod hatte er nicht verdient.«

Risse im Schafspelz - das sind die Momente, wenn das wahre Gesicht von Menschen oder Dingen hervortritt. Wenn die Zahlen zurückschlagen, innere Stimmen rufen oder Kunden zu Entführern werden. Wenn Schülerinnen beginnen, die Lehrerin zu mobben und ehemalige Partygäste zu Mördern werden.

Zehn raffiniert gewebte Erzählungen über die Welt von heute und ihre manchmal dunkle, manchmal aber auch überraschend heitere Seite.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Sept. 2022
ISBN9783347721982
Risse im Schafspelz: Erzählungen

Ähnlich wie Risse im Schafspelz

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Risse im Schafspelz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Risse im Schafspelz - Hermann Rath

    EVELYN

    Eine friedliche Stille lag in den ersten Stunden des 16. Juli über den Mietshäusern in der Havelgasse. Die Luft war sauber, die Nacht angenehm warm und im Schutz der Dunkelheit schliefen ihre Bewohner tief und fest. Eigentlich war alles wie immer.

    Doch um 3.23 Uhr zerriss ein furchtbarer Schrei die nächtliche Stille. Obwohl es, wie sich später herausstellte, der Hilferuf eines Menschen war, ähnelte er doch eher dem Aufheulen eines wilden Tieres, das entsetzliche Todesqualen leidet. Mehrere Mieter, die bei offenem Fenster schliefen, wurden schlagartig wach und schlossen, von einer unbestimmten Furcht getrieben, hastig ihre Fenster, kontrollierten die Wohnungstüren und wählten die Notrufnummer der Polizei.

    Nur wenige Minuten vergingen, dann jagte ein Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn heran. Vor dem mehrgeschossigen Wohnhaus stand bereits eine ältere Frau in Hausschuhen und zeigte aufgeregt auf ein dunkles, angekipptes Fenster im dritten Stock. Der Hausmeister, der im Erdgeschoss wohnte, beantwortete noch schlaftrunken die Fragen der beiden Polizisten und führte sie die Treppe hinauf.

    Hinter der verdächtigen Wohnungstür war jetzt alles ruhig. Erst mit dem Klingeln setzten die Schreie wieder ein. Sie waren lauter und qualvoller als zuvor und gingen allmählich in ein Schluchzen über. Da trotz wiederholten Klingelns und lauter Ansprache keine Reaktion erfolgte, musste der Hausmeister die Tür mit seinem Generalschlüssel öffnen.

    Die beiden Beamten betraten die Wohnung um 3.42 Uhr. Im Flur wurden sie von feuchtwarmer Luft und tiefer Dunkelheit empfangen. Sie schalteten das Licht an und horchten in die wieder eingetretene Stille. Der Flur, von dem die anderen Zimmer abgingen, wirkte sauber und ordentlich, nur ein angeschlagener Koffer mit mehreren bunten Aufklebern passte nicht so recht zu diesem Eindruck. Die Streifenpolizisten, zwei erfahrene Beamte, zogen ihre Dienstwaffen, verständigten sich mit Handzeichen und begannen mit der Durchsuchung der Wohnung.

    Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt und ließ sich geräuschlos öffnen. Der Raum dahinter war mit hellen, modernen Möbeln ausgestattet. Sowohl auf dem Fensterbrett als auch auf einem Bücherregal standen Grünpflanzen, mehrere davon an Spalieren und Rankgittern befestigt. Eine Person wurde nicht angetroffen.

    In der Küche befanden sich zwei leere Töpfe auf dem Herd, aber nirgends stand benutztes Geschirr herum, das Tischtuch war makellos sauber, sogar die in einer Obstschale liegenden Äpfel glänzten, als ob sie gerade poliert worden wären. Anscheinend handelte es sich um einen sorgfältig, schon fast penibel, geführten Haushalt.

    Auch im Bad gab es nichts Ungewöhnliches. Auf einem Wäschetrockner hingen Socken, Shirts und schwarze Kurzfingerhandschuhe, wie man sie im Fitnessstudio trägt. Außerdem waren da zwei Zahnbürsten, zwei Bademäntel und Rasiercreme; alles deutete auf die Anwesenheit zweier Menschen hin.

    Das letzte Zimmer am Ende des Flures war das Schlafzimmer. Dort fanden die Beamten, wie vermutet, zwei Personen vor. Die weibliche Person, später wurde bestätigt, dass es sich um die Mieterin Evelyn B. handelte, saß mit angezogenen, eng umschlungenen Knien auf einem Stuhl in der Nähe der Heizung. Sie hatte Lärmschutzstöpsel in den Ohren und starrte auf das Doppelbett.

    Dort lag eine männliche Person mit aufgerissenem Schlafanzug und wimmerte vor sich hin. Die zusammenhanglosen Klagelaute wurden immer wieder von anfallartigen Krämpfen unterbrochen, die den ganzen Körper durchschüttelten. Mehrmals unternahm der Mann den Versuch, sich aufzurichten, wohl um den Polizisten etwas mitzuteilen, hatte aber offensichtlich nicht mehr die Kraft dazu. Auf seinem Nachttisch lagen eine Armbanduhr, ein Reiseführer und eine angebrochene Packung Schlaftabletten.

    Im Polizeibericht steht, dass Frau B. trotz der Nachtzeit vollständig angekleidet war und ihr Haar einen frisch frisierten Eindruck machte. Als die Polizisten sich dem Bett nähern wollten, sprang die Frau auf und warf mit einer Gießkanne nach ihnen. Sie war sehr erregt, schrie unverständliche Worte und versuchte, in den Besitz einer Dienstwaffe zu gelangen. Nach einer kurzen körperlichen Auseinandersetzung gab sie ihre Widerstandshandlungen auf. Zu den nächtlichen Vorkommnissen machte sie keine Angaben. Da es keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit einer dritten Person gab, gilt Evelyn B. als dringend tatverdächtig.

    Unter Beachtung der Auffindesituation, so heißt es weiter, lasse sich folgender Tathergang rekonstruieren: Frau B., wohnhaft in der Havelgasse 23, hat in der Nacht vom 15.07. zum 16.07. auf dem Elektroherd ihrer Küche Wasser bis zum Siedepunkt erhitzt. Anschließend füllte sie mithilfe eines Trichters das Wasser in eine Zehn-Liter-Gießkanne aus verzinktem Stahlblech und ging damit in das gemeinsam genutzte Schlafzimmer. Dort hat sie gegen 3.23 Uhr ihrem schlafenden Mitbewohner das kochende Wasser in den offenstehenden Mund gegossen.

    Der nur wenige Minuten nach den Beamten eingetroffene Notarzt fand einen Patienten vor, der großflächige Verbrühungen an Kopf und Hals sowie am Oberkörper und an den Armen aufwies. Er litt unter akuten, starken Schmerzen und sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Schon während der Erstversorgung setzte der Atem immer wieder aus und der Kreislauf drohte zu versagen. Unter ständiger Überwachung der Vitalfunktionen, gelang es Arzt und Notfallsanitäter die Transportfähigkeit des Patienten herzustellen, und ihn anschließend ins Unfallkrankenhaus zu überführen. Die toten, verbrühten Augen des Mannes und das krampfartige Röcheln, äußerte der Notfallsanitäter am Ende seiner Schicht gegenüber einem Kollegen, werde er wohl nie vergessen.

    Als Ulrich Fischer, Reporter einer Berliner Tageszeitung, am nächsten Morgen die Pressestelle der Polizei anrief und sich nach besonderen Vorkommnissen der letzten Nacht erkundigte, erhielt er nur eine ungenaue, widersprüchliche Information über den Vorfall in der Havelgasse. Auch seine Nachfragen bei der Feuerwehr und Staatsanwaltschaft brachten keine neuen Erkenntnisse. Da er nicht zu denen gehörte, die nur die amtlichen Meldungen der Pressestelle umarbeiteten und daraus reißerische Boulevardgeschichten produzierte, begann er mit eigenen Nachforschungen. Schon bald fand er heraus, dass Evelyn B. zwei Tage vor der Tat eine private Unfallversicherung in fünffacher Höhe ihres Jahreseinkommens abgeschlossen hatte. Der Versicherungsschutz umfasste außerdem eine ungewöhnlich hohe Todesfallsumme, die gegebenenfalls an die Schwester auszuzahlen wäre. Vor wem oder was fürchtete sich Evelyn B.? War es nur ein unbestimmtes Gefühl oder gab es eine konkrete Bedrohung?

    Die Befragung der Festgenommenen begann um 10.17 Uhr. Aus dem Protokoll geht hervor, dass sie sechsundzwanzig Jahre alt ist, ledig, kinderlos und als Operationsschwester in der Charité arbeitet. Zum Zeitpunkt der Tat war sie nicht alkoholisiert und stand, nach eigenen Angaben, auch nicht unter dem Einfluss von Medikamenten oder Drogen.

    Zu den Personalien ihres männlichen Mitbewohners gab sie an, dass er Harald S. heiße, seit sechs Monaten in ihrer Wohnung lebe und als strategischer Einkäufer bei einem weltweit handelnden Medizintechnikunternehmen angestellt sei.

    Die Beschuldigte gestand die Tat, zum Tatmotiv äußerte sie sich jedoch trotz mehrmaliger Nachfragen nicht.

    Während der gesamten Vernehmung zeigte sie ein auffälliges Verhalten. Sie wirkte verwirrt, unterbrach den Fragesteller ständig durch Zwischenrufe und wechselte sprunghaft das Thema. Ihre verworrenen, unlogischen Äußerungen erschwerten die Verständlichkeit in erheblichem Maße. Wenn sie antwortete, sprach sie gehetzt und behielt immer die Tür im Auge. Mehrmals versuchte sie, den Vernehmungsbeamten tätlich anzugreifen.

    Aufgrund ihres Zustandes und der von ihr ausgehenden akuten und erheblichen Fremdgefährdung erfolgte eine Einweisung in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses. Dort soll geklärt werden, ob die Frau vermindert schuldfähig oder sogar – hier hatte der protokollierende Beamte wohl versehentlich die Umschalttaste gedrückt – SCHULDunfähig ist.

    Schon im Rettungswagen auf dem Weg ins Unfallkrankenhaus fiel Harald S. ins Koma. Er starb zweiundsiebzig Stunden später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

    Die Leute redeten. Und wie sie redeten. Vermutungen, Verdächtigungen und üble Nachrede machten die Runde. Hinter vorgehaltenen Händen wurden Tatmotive erwogen, leise zischelnd ausgetauscht, wieder verworfen und von Neuem aufgegriffen.

    »Bei der waren die Fenster immer geschlossen. Nie hörte man Geräusche aus der Wohnung. Kein lautes Wort, kein Fernsehen, keine Musik, keine Waschmaschine. Nichts. Als ob die Wohnung unbewohnt wäre. Ich bitte Sie, das ist doch nicht normal.«

    »Und dann hat sie sich auch noch grün ernährt. In ihrem Einkaufswagen waren immer nur solche Sachen wie Gurken, Kohlrabi, Brokkoli, Salat und sogar grüne Nudeln. So etwas ist doch nicht gesund. Kein Wunder, dass sie so blass aussah und immer dünner wurde.«

    »Ein richtiger Mann braucht doch Fleisch. Der Ärmste! Dabei war er so ein Netter. Gutaussehend, gut angezogen und immer gut riechend. War immer freundlich und hat gegrüßt, selbst wenn er erst spät abends von der Arbeit kam.«

    »Wahrscheinlich konnte sie ihn nicht mehr halten. Er war doch jünger als sie und er hatte wohl auch seinen Koffer schon gepackt. Da hat sie vermutlich beschlossen, wenn er nicht bei ihr bleibt, soll er auch keiner anderen gehören.«

    Zur Klärung der Todesursache wurde eine Obduktion durchgeführt. Die Untersuchung des Rechtsmediziners ergab, dass durch das heiße Wasser fast vierzig Prozent der Körperoberfläche teilweise bis in die tiefen Hautschichten geschädigt waren. Diese Verbrühungen zweiten Grades führten schließlich zum Tod durch Multiorganversagen.

    Der Hausmeister konnte sich erinnern, im Winter bei der B. ein Thermostat ausgetauscht zu haben. Keine große Sache. Aus der Küche habe es damals wunderbar nach frischem Hefekuchen gerochen. Unwillkürlich seien bei ihm Kindheitserinnerungen wach geworden und er … Nein, aufgefallen sei ihm nichts.

    Doch. Sie habe viele Bücher besessen. Zahlreiche medizinische Nachschlagewerke, wahrscheinlich Berufsliteratur, und eine beeindruckende Sammlung an Science-Fiction-Romanen und Verschwörungstheorien. Er lese

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1