Schneewand: Erzählung
Von Peter Weibel
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Über dieses E-Book
Sollen sie bleiben und auf Hilfe warten? Oder sollen sie handeln und die Schneewand durchbrechen? Sie schwören sich, dass sie zusammenbleiben werden, was auch geschehen mag.
Die Glieder werden steifer, die Vorräte knapper. Im kargen Bunker, umgeben von alles verschluckendem Weiss, sind die drei auf sich selbst zurückgeworfen, darauf, wer sie sind und wer sie waren: die empathische Ärztin, der müde gewordene Lehrer, die junge Cellistin auf der Suche nach ihrer Rolle.
Wird es je wieder einen Alltag für sie geben?
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Buchvorschau
Schneewand - Peter Weibel
AITMATOV
1
Der Schnee kam über Nacht. Er kam gewaltsam, wie ein Überfall, er fiel so dicht, dass am Morgen beides unmöglich schien: Bleiben und gehen.
Sie traten alle paar Minuten ans Fenster, rieben die Scheiben blank. Sie horchten hinaus, als wären da Botschaften, Gegenzeichen. Aber da waren nur gequälte Pfeiftöne, das drohende Sirren des Sturmwinds, der an der Hütte rüttelte.
Sie blieben lange stumm, hingen den eigenen Gedanken nach. Aber auch im Schweigen war eine Vertrautheit zwischen ihnen.
Sie sahen, wie die schweren Flocken waagrecht durch die Luft trieben, wie draussen eine fremde Schneelandschaft entstand, die in ruheloser Bewegung war: Aufschichtungen, Zauberformen aus dem Nichts heraus. An einem anderen Ort und unter anderen Vorzeichen wären sie hinausgestürmt, sie hätten sich im Schnee gewälzt, sich mit Schnee überworfen –
Aber es gab keinen anderen Ort. Nur diesen Ort. Sie hatten ihn gewählt, sie konnten die Wahl nicht wiederholen.
Noch gestern waren sie im Licht hochgestiegen, der Tag war schwerelos gewesen. Sie hatten beim Aufstieg viel gelacht, über Pläne geredet, ein sorgloser Aufstieg wie immer, wenn sie zusammen waren, wenn sie die alte Freundschaft erneuern konnten: Vorfreude auf den gemeinsamen Abend im Berghaus, auf die Abfahrt am nächsten Tag. Keiner hatte an Umkehr gedacht, auch nicht, als das Licht plötzlich weg war, als sich die ersten Wolken zusammenballten und dunkel wurden, beinahe schwarz, auch dann nicht. Die Wolken beunruhigten sie nicht, sie hatten oft gesehen, dass die Wolken gegen Abend kommen, dass sie manchmal über Nacht wieder gehen, manchmal nicht. Und Leon kannte den Berg, die Launen des Schnees, Myriam und Kathrin wussten, dass er ein umsichtiger Berggänger war, sie wussten es, seit sie sich in einer gemeinsamen Tourenwoche gefunden hatten. Sie vertrauten ihm.
Aber der Schnee war nie so gewesen. Nie wie der Schnee an diesem Morgen: Bestürzend, feindselig, fremd.
Bleiben oder gehen?
Sie setzten sich an den Tisch, um zu beraten. Sie schauten sich ungläubig an, sie mussten eine Antwort finden, sie mussten sie jetzt finden, sie konnten nicht einfach abwarten, konnten nicht so lange warten, bis das Warten selbst zur Antwort würde. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten, beide pressten den Atem zusammen, beide lagen wie eine Drohung in der Luft: Die Gefangenschaft hinter einer Wand aus Schnee oder die Flucht durch den Sturm.
Eine Zeit lang schwiegen sie nur, draussen das Krachen der Fensterläden, das Heulen der Windböen. Schnee, nichts als Schnee, hinter dem Schnee die verlorenen Spuren, weit zurück, schon sehr weit zurück, Haus und Garten, Abschiedsworte ohne Unruhe unter der Haut, ohne Vorahnung. Was wussten sie zu Hause über den Schnee, waren sie noch ruhig?
Myriam sagte es als Erste in die Stille hinein: Gehen. Wenn wir jetzt nicht gehen, deckt der Schnee alles zu, begräbt Hütte und Wegmarken, das kann lange dauern, tagelang. Was dann? Dann warten wir eben. Kathrin legte ihre Hände schützend übereinander: Dann warten wir, bis die Zeit eine Antwort bringt.
Die Antwort von oben? Und wenn sie nicht kommt? Die Zeit hält immer eine Antwort bereit, beharrte Kathrin. Im schlimmsten Fall kann uns ein Hubschrauber holen, wenn es aufklart, wenn wir durch diesen Schnee nicht mehr hinunterkommen. Dann wollen wir die Verantwortung einer Rettungsmannschaft übergeben? Es ist verlockend, aber kann es richtig sein, alle Verantwortung einfach wegzugeben? Myriams Stimme stockte, tönte abwägend, wurde plötzlich bestimmter: Nehmen wir einen Anlauf. Wenn wir jetzt gehen, jetzt gleich, gefährden wir uns weniger, und keine anderen dazu. Wir haben uns schon gefährdet, sagte Kathrin tonlos. Und wenn wir uns jetzt falsch entscheiden, wächst aus der ersten Gefährdung eine zweite, noch grössere, und dann eine dritte, wollen wir das?
Leon war mit einem Ruck aufgestanden, er legte seine Arme um Kathrin: Es gibt keine gute, nur eine weniger falsche Entscheidung, und wir müssen sie alle zusammen tragen. Er zögerte, seine Hände mahlten, zeichneten Kreise in die Luft. Er schob das Gefühl von Ohnmacht weg, eine Unruhe presste ihn zusammen, er hatte die Gefährtinnen heraufgebracht, er musste sie wieder hinunterbringen. Er sah Bilder, er sah sie mutlos am Tisch hocken, während draussen Schneewände wuchsen, während Tagen weiterwuchsen, dann sah er sie trotzig durch den Schnee fahren, er sah eine ungenaue Schneespur, aber kein Ende der Spur. Er hatte schon viele Entscheidungen am Berg treffen müssen, eine Entscheidung wie diese nie. Eine Geschichte ging ihm durch den Kopf, er begann zu erzählen. Nach einer Notlandung in den Alpen, erzählte er, das liegt Jahre zurück, waren die Überlebenden übereingekommen, gemeinsam auf dem Gletscher auf ihre Rettung zu warten. Sie wussten: Der Abstieg in Eis und Schnee ist gefahrvoll, und er ist weit, keiner weiss, wo er hinführt. Nach drei Tagen, die Vorräte sind schon aufgebraucht, beschliessen sie, dass es jedem freisteht, die Gruppe zu verlassen, den Abstieg zu riskieren. Am vierten Tag geht der erste, er kommt am nächsten Tag wieder hinauf. Am sechsten Tag geht ein anderer und kehrt am achten Tag entkräftet und kältestarr zurück. Am zehnten Tag werden sie gerettet, alle zusammen. Aber jede Erfahrung steht nur für sich selbst, sagte Leon dann, als würde er