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Auch Krawattenträger sind Naturereignisse: Miniaturen
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Auch Krawattenträger sind Naturereignisse: Miniaturen
eBook177 Seiten2 Stunden

Auch Krawattenträger sind Naturereignisse: Miniaturen

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Über dieses E-Book

Wie schon in früheren seiner neunzehn Prosa-Bände geht der Autor in seinem neuen Miniaturen-Band den als bekannt geltenden Vorgängen des Landlebens nach im Bestreben, die allzu fest stehenden Zustände geistig wieder locker zu stellen und für eine andere Sichtweise frei zu machen, eine meist desillusionierende, kühl registrierende, aus unmittelbarer Nähe aufgenommene.

Den Stoff bezieht der Autor sowohl aus der direkten Umgebung wie auch aus der erinnerlichen Kindheit im Gebirge und den dortigen Naturereignissen, zu denen auch die Naturen einzelner Bewohner gehören. Die Achse, um die sich die Studien drehen, ist "ein schrottreifer Altpädagoge", der sich als bedingt im Sinne von determiniert erlebt und dessen Mechanik des Verhaltens aus nächster Nähe beobachtet und durchleuchtet wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2019
ISBN9783990471043
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    Buchvorschau

    Auch Krawattenträger sind Naturereignisse - Engelbert Obernosterer

    Naturereignisse

    He, du, schrottreifer Altpädagoge, du allwissender, rüttelt einer im Wirtshaus an meiner Schulter, kannst du mir sagen, warum – glotz nicht so blöde! – wa-rum, ich, ein Mensch, der niemandem etwas getan hat, warum ich eigentlich da bin, da hier bei euch Langweilern … so ähnlich redet er, beziehungsweise lallt er auf mich ein und verfällt in ein geradezu ernsthaftes Grübeln, warum es mit ihm denn so weit gekommen sei, warum gerade er so einer geworden sei, wie er nun einmal geworden ist, mehr breit bereits als hoch, ein alter, zu nichts nützer Krauterer, der schon lange nicht mehr in den Spiegel schauen wolle, es sei denn, um die Krawatte zurechtzurücken. Nie, zu keiner Zeit hätte er so einer werden wollen, wie er hier da sitze bei seinem lauwarmen Achtel, nicht einmal ein Säufer sei er geworden, geschweige denn ein Bösewicht! Solche Mixturen aus abgestandenen Üblichkeiten habe er von Kind auf verachtet.

    He, hörst du mir überhaupt zu? Dann sag mir doch, du Schmalspur-Philosoph, warum das alles so gekommen ist.

    Ich greife nach meinem Achtel und nehme verlegenheitshalber einen Schluck davon. Meistens, wenn ich nicht weiter weiß – und das geschieht mir ziemlich oft –, überbrücke ich die Kluft mit einem Getränk. Zu Hause ist es der Merlot aus der Fünf-Liter-Packung oder etwas aus dem Kühlschrank, was zur Folge hat, dass rund um meine Leibesmitte sich so einiges angesammelt hat, von Verlegenheit herrührender, mich belastender und befremdender Papp. Im Übrigen stecke ich wohl in einer ähnlichen Misere wie er, der mit mir immerhin Geschlecht, Alter und derzeitige Situation gemeinsam hat.

    Sieht ja wirklich verfahren aus, diese Akkumulation, aus der heraus mich das dazugehörige Augenpaar um eine Antwort anfleht. Ich krame in den Resten meiner etymologischen Kenntnisse. Warum, das dürfte wohl aus dem Fragesatz Was (ist) herum? zusammengezogen worden sein, also auf die Frage hinauslaufen: Was befindet sich rings um den Fragesteller, was be-dingt ihn?

    Nun, das wäre immerhin eine Frage, der man nachgehen könnte. Auch in meinem Fall. Dass ich mich, wie nun folgt, mehr für meine als für seine Bestimmungsstücke interessiere, hat seinen Grund einzig darin, dass ich die meinen besser kenne. Darüber hinaus handelt es sich in beiden Fällen um nichts Besonderes, sondern um so alltägliche Situationen, dass man sie normalerweise gar nicht der Rede wert findet.

    Bisher habe ich mich mit der Einschätzung meines Aussehens selbstgefälligerweise an den Fotos meiner mittleren Jahre orientiert und bin damit ganz leidlich über die Runden gekommen. Gewiss, es gibt ebenmäßigere, imposantere, sympathischere Anordnungen von Augen, Nase und Mund; im Großen und Ganzen schien aber auch meine Gesichtsausstattung auf einen Menschen hinzuweisen.

    Gestern habe ich mich davon verabschieden müssen. Ich habe nämlich das Foto eines seriösen Porträtfotografen bekommen: eine detail- und nuancenreiche Aufnahme. Schrecklich! Das ist die Wende, ist der Abschied von der alten Selbsteinschätzung. Wo einmal das Menschliche für einige Zeit seine Zelte aufgeschlagen hatte, da herrscht nun ein Zerbröseln, Zerklüften und Erodieren von gleicher Sachlichkeit wie auf dem Mauerstein des Hintergrundes. So wie ich beim Blick auf irgendeinen Ausschnitt der nordafrikanischen Wüste nicht sehe, welchem Land dieses Geröll zuzuordnen ist, sehe ich auch in diesem beiläufig herumliegenden Nasentrumm, der seitlich davon abwärts verlaufenden Einfurchung und den umliegenden Buckeln und Mulden nicht, dass das etwas mit meinem Namen zu tun haben sollte. Das Foto lässt mir, wie ich mich bisher selber gesehen habe, keine Chance. Ein kreuz und quer zerfurchtes Gelände, ein ständiges Hoch-Tief als Ergebnis des Geschiebes, das früher einmal mit glatter Haut überspannt war, nun aber die Abdrücke der darunter herrschenden Spannungen ans Tageslicht kommen lässt.

    Alles zusammen lese ich als eine Dokumentation und Summe dessen, was in mir im Laufe der Jahre vorgegangen sein mag, wovon ich das meiste, um meine Mitmenschen nicht zu erschrecken, unter die Decke einer glatten Visage zu kehren versucht habe. Wie das Foto zeigt, ist mir das nicht gelungen; aus hundert Unebenheiten hebt es nun sein Medusenhaupt aus der Dunkelheit.

    Schön ist so etwas wahrlich nicht! Aber wahr! In diesem Sinne begrüße ich die Offenlegung meiner bisher notdürftig verdeckten inneren Vorgänge.

    Im Ganzen fühle ich mich einigermaßen normal und unauffällig, zumindest war das in den mittleren Jahren der Fall. Kann natürlich sein, dass ich seither es verabsäumt habe, meine Begriffe den laufenden Veränderungen, insbesondere den Folgen des unvermeidlichen Abbaus der Kräfte anzugleichen.

    Diese Befürchtung befällt mich eines Morgens, als, von den Händen auseinandergehalten, einen Moment lang der geweitete Bund der Hose vor mir aufklafft, in deren Röhren ich hineinsteigen soll. Was für eine befremdend hässliche, unappetitliche, abstoßende Grube dieser Gesäßbehälter, ein unförmiger Krater, den sich die im Laufe der Jahre angefallenen Bestände hier ausgebeult haben!

    Der Spiegel verschont mich auch nicht vor dem Anblick meines Bauches, dieser hässlich sich nach vorne wölbenden Kalotte. Von ihr aus betrachtet, hockt sie durchaus daseinsfreudig auf meinem Becken und verlangt knurrend und ohne Rücksicht auf das sich bietende Gesamtbild unbarmherzig wieder nach Stärkung, diese selbstsüchtig gewordene Akkumulation. Von ihr aus verständlich, es naht ja wieder eine Essenszeit, wo ich dem wacker arbeitenden Verdauungstrakt allerlei Bekömmliches zuzuführen pflege. Bis mich, vom dazugehörigen Bier schwer gemacht, die Müdigkeit erfasst und ich beseligt zur Seite sinke.

    So läuft das diesmal nicht. Du Sau, du, schimpfe ich den unverschämt vorgewölbten, selbstgefällig in der Leibesmitte sich breit machenden Leibeshügel. Du kriegst heute gar nichts, verstanden, gar nichts!

    Da zieht er sich aber beleidigt ein, zwei Zentimeter zurück.

    Meine alten Fotos kehren allesamt eines hervor: wie ich sein wollte, wenn ich eine Kamera auf mich gerichtet sah: sympathisch, seriös, natürlich, interessant, nachdenklich und so weiter. Nicht anzusehen diese vermutlich auf irgendwelche Komplexe zurückgehenden Grimassen! Erst seit ich weiß, wie sehr sie ins Leere gehen und meine Gesichtsgewebe mit dem nicht mehr mitmachen, wie ich Komplexler den anderen erscheinen möchte, bemerke ich einen überzeitlichen Zug in der Gesichtslandschaft: den der Gravitation: etwas weit über die Person Hinausreichendes. Indem ich ihn in meinem Spiegelbild hervortreten sehe, geht von ihm eine wohltuende Ruhe aus, denn die Gesichtsgewebe, die im Alltag je nach Situation hin und her gerissen wurden, nähern sich nunmehr der Ernsthaftigkeit und Würde eines Steines.

    Ich habe keine Kraft mehr, bin müde, lustlos: ein unbrauchbar gewordener, zum baldigen Austausch bestimmter Bestandteil der großen Landmaschine. Am liebsten möchte ich den ganzen Tag im Bett bleiben, zu den Mahlzeiten pro forma etwas essen, dem Abend zu mir etwas Flüssiges suchen, was mir über den toten Punkt hinweghilft.

    Da ruft man nach mir. Ich müsse dringend in die Stadt, die Zutaten für den Hollersirup besorgen. Ich staune, wie frisch ich auf einmal bin. Die Landmaschine hat mich doch noch einmal als kleines Rädchen für ihr unbeirrbares Dahinrattern verwendet und ich genieße es, wie viel Schwung sie mir auf einmal verleiht.

    Während mir die Mitmenschen zusehends unverständlicher, fremder und abweisender erscheinen, wächst mir mein PC mehr und mehr ans Herz. Geduldig disputiert er mit mir über einzelne Textstellen, sträubt sich gegen unpassende Formulierungen; manches, was ich ihm anvertraue, nimmt er zwar stirnrunzelnd auf, aber nur bis zur nächsten Durcharbeitung, anderes stößt er von sich, will es nicht auf dem Bildschirm dulden, schilt mich einen Stümper und Hohlkopf, zeigt sich aber bereit, auf sachlicher Ebene mit mir weiterzumachen.

    Ich arbeite manchmal ziemlich verbissen, strenge mich an, spanne meine bescheidenen Kräfte und Fähigkeiten auf gewisse Ziele hin an. Was dabei herauskommt, naja: aus einigem Abstand betrachtet, doch sehr nach Schule riechendes Zeug.

    Wenn ich damit nicht mehr weiterkomme, vertrolle ich mich aus dem Schreibzimmer, über die Stiege hinab vors Haus und setze mich, die Füße frei vom Leib gestreckt, die Arme seitlich herabbaumeln lassend in den Gartensessel und lasse geschehen, was geschieht.

    Und horch, es arbeitet in mir, arbeitet natürlich anders, als ich es von mir aus täte, arbeitet ohne Ziel und völlig ungeschult. Dieser Art von Arbeit gegenüber könnte man schon die Lust verlieren, von sich aus zu arbeiten.

    Ich als Zentrum und Bezugspunkt eines nach außen hin offenen Feldes, das sind weniger die in meinen Personaldokumenten aufscheinenden Daten, es sind, um ihnen endlich einmal die gebührende Ehre zu erweisen, die Vorgänge in den Zellen und Zellkolonien mit ihrem eigengesetzlich ablaufenden Stoffwechsel und verlässlichen Energielieferungen unter anderem herauf ins Zerebrale.

    Vielen, vielen Dank an all die selbstlosen, mir nur vom Hörensagen her bekannten Teilkräfte, die am Zustandekommen und der Aufrechterhaltung meiner Person beteiligt sind. Zu ihnen, die im Unsichtbaren rackern, bekenne ich mich, ihnen gestehe ich die drei Buchstaben ich zu.

    In der ungeheuren, an die Ewigkeit gemahnenden Schweigsamkeit der Gebirge, aus denen ich komme, hat das Reden nie viel bewirkt. Eine mit dem Verlauten schon wieder verwehende Vordergründigkeit war es, ein durchsichtiger Lautvorhang, wahr nur für Sekunden.

    Dort, in der Abgeschiedenheit, machen sich die Dinge ihre Lage unter sich aus. Gerät der Fuß ins Abschüssige, stellen Gelenke und Sehnen sich automatisch auf die jeweilige Winkelung ein und geben Halt. Fällt Schnee, kommt die Schaufel zum Einsatz; bei Kälte Wollhandschuhe und wüste Kopfbedeckungen, so wie bei der sommerlichen Hitze kühlende Getränke.

    Was einigermaßen feststeht, sind die 36,8 Grad Celsius. Um sie aufrechtzuerhalten, erfordern die Außentemperaturen vom Organismus entsprechende Reaktionen. Hitze treibt in den Schatten, dazu braucht es keine eigene Intelligenz; das ist ein Ausgleichsvorgang, nicht mehr. Dabei dürfen die Betroffenen es ruhig so sehen, dass sie es gewesen seien, die den Schatten aufgesucht hätten.

    Mit den Augen eines Physikers betrachtet, beruhen Warentausch, Handel und politische wie auch zwischenmenschliche Beziehungen auf der natürlichen Tendenz zum Ausgleich zwischen Ungleichem.

    Das spüre ich, als ich einer meiner ehemaligen Schülerinnen, ohne ihr schmeicheln zu wollen, sage, dass sie seinerzeit bemerkenswerte Aufsätze geschrieben habe. Sie errötet und weiß nicht recht, wie sie darauf reagieren soll, befreit sich aber aus der ungleichen Verteilung des Lobes, indem sie mir ein paar faktisch kaum verdiente Lobesworte zurückgibt. Wahrscheinlich hätte sie diese nicht aus der Gesamtheit der Erfahrungen mit mir ausgesucht, wenn sie sie nicht als Ausgleich und Entgelt gebraucht hätte.

    Ich habe geschrieben. Innerlich leer, begebe ich mich die Stiege hinunter, wo soeben ein Besuch angekommen ist: hoch gestimmt durcheinanderschnatternde Verwandte, Partikel eines nicht besonders bekömmlichen Meinungsbreis.

    Als ich mich unauffällig wieder in mein Schreibzimmer verdrückt habe, braut sich etwas Ungutes in mir zusammen: So etwas wie ein Schuldgefühl ihnen gegenüber, ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht in den Brei habe einkneten lassen.

    Aus der Erwerbswelt in die Pension entlassen, erübrigt es sich eigentlich, sich für etwas zu erhitzen, Partei zu ergreifen, sich für oder gegen jemand einzusetzen. Recht oder nicht recht, das war einmal, daran kann ich mich erinnern, ebenso an Objekt und Subjekt. Je mehr ich mich aber in meiner neuen Lage umsehe, desto mehr fallen die Unterscheidungen wieder in eins zusammen.

    Von einem Gegenstand zum anderen geschoben tschure ich um mein altes Bauernhaus. Seine Pflege und Bedienung erfordernden Verrichtungen hängen mir längst zum Hals heraus, ich bin ihrer müde. Wie ich am Vormittag an der südseitigen Stadelwand Holzscheit auf Holzscheit aufgeschlichtet habe, reihen sich nunmehr die Sekunden als bloße Zeitstücke aneinander. Ich bräuchte etwas Anderes, mich Erfrischendes, eine Fahrt in die nahe Kleinstadt zum Beispiel.

    Bald sitze ich in einem Korbsessel vor dem Café am Hauptplatz, meine Vorderseite der Straße zugewandt. Herrlich die zerhackten Eindrücke von bewegten Objekten: abwechslungsreiche, nur kurz akut werdende Reize, durch die Geschwindigkeit so leicht gemacht, dass sie nie zur Schwere

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