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Tôkyô 2020: Olympia und die Argumente der Gegner
Tôkyô 2020: Olympia und die Argumente der Gegner
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eBook314 Seiten3 Stunden

Tôkyô 2020: Olympia und die Argumente der Gegner

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Über dieses E-Book

Die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tôkyô 2020/21 stießen in Japan von Anfang an nicht nur auf Zustimmung. Große Bedenken äußerten z.B. Atomkraftgegner und Betroffene der Dreifachkatastrophe von 2011. Sie kritisieren nach wie vor, dass die "Wiederaufbau-Spiele" dazu missbraucht würden, den Atomunfall von Fukushima vergessen zu machen.

Andere lehnen zudem sportliche Megaevents im Kern ab. So steht Olympia als Motor von Gentrifizierung und Sozialabbau auch in Tôkyô in der Kritik. Ferner werden wachsender Nationalismus und zunehmend Gefährdungen der demokratischen Kultur mit Sorge beobachtet und mit Olympia in Verbindung gebracht.

Mit der 2. Auflage des Bandes rücken die Korruptionsvorwürfe gegen Tôkyô 2020 noch stärker in den Mittelpunkt. Beleuchtet wird auch Japans problematischer Umgang mit der Corona-Krise, der die auf 2021 verschobenen Spiele an den Rand des Scheiterns brachte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Sept. 2019
ISBN9783749494200
Tôkyô 2020: Olympia und die Argumente der Gegner
Autor

Andreas Singler

Andreas Singler ist freier Autor, Japanologe und Sportwissenschaftler. Seit langem beschäftigt er sich mit den problematischen Seiten des modernen Hochleistungssports. Als Japanologe forscht er zu den Protesten gegen Atomkraft und gegen Olympia 2020 sowie zur Situation in Fukushima. Im Berliner EB-Verlag erschien 2018 der Band "Sayônara Atomkraft. Proteste in Japan nach 'Fukushima'". Mit Steffi Richter und Dorothea Mladenova gab er 2020 im Leipziger Universitätsverlag den Band "NOlympics. Tokyo 2020/1 in der Kritik" heraus.

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    Buchvorschau

    Tôkyô 2020 - Andreas Singler

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Vorwort zur 2. Auflage

    Einführung: Tôkyô 2020 zwischen punktueller Kritik und fundamentaler Gegnerschaft

    Tôkyô 2020 im Wettbewerb der Global Cities – Visionen aus dem Rückspiegel

    „Abe-Lüge, Korruptionsverdacht, „Verfassungsbruch: Olympiakritische Debatten

    3.1 Die „Abe-Lüge" von Buenos Aires

    3.2 Tôkyôs Bewerbung unter Korruptionsverdacht

    3.2.1 JOC-Vorsitzender Takeda und Millionenzahlungen für „Beratung"

    3.2.2. Die Vorwürfe verdichten sich: Ergebnisse der FinCEN-Files 2020

    3.2.3 Ratgeber für korrupte Olympiabewerbung? Die vielfältige Rolle der Werbeagentur Dentsû

    3.2.4 Immer wieder Takahashi: Millionen für die „Kriegskasse" des Trouble Shooter

    3.2.5 Vernichtung von Unterlagen: Noch mehr Geld und dunkle Kanäle

    3.2.6 Korruption von ganz oben? Pachinko-König Satomi, dubiose Stiftungen und die angebliche Rolle von Japans neuem Premier Suga

    3.2.7 Olympisches Amakudari: Korruptionsverdacht beim Bau des Athletendorfes

    3.3 Kritik an der Instrumentalisierung der Kaiserlichen Familie

    3.3.1 Politische Instrumentalisierung des Kaisers als verfassungsrechtliches Problem

    3.3.2 Zum Auftritt Prinzessin Hisakos bei der IOC-Session in Buenos Aires

    3.3.3 Die Befürchtungen des Kaiserlichen Hofamtes

    3.3.4 Medien- und Wissenschaftsdiskurse über die Einbindung Prinzessin Hisakos

    3.3.5 Takamado Hisakos Rechtfertigung für ihren Auftritt in Buenos Aires

    3.4 Kritik an der Kostenexplosion als Gesellschaftskritik: Der Architekt Maki Fumihiko

    3.5 Karôshi am Bau – der Suizid eines jungen Bauarbeiters und drei weitere Todesfälle

    3.6 Plagiatsverdacht: Der Austausch des Olympia-Emblems

    3.7 Geschützte Tropenhölzer für Olympiabauten

    3.8 Gewaltexzesse im japanischen Sport

    3.9 Sexismus im olympischen Golf-Club – und dann auch noch OK-Chef Moris Frauenfeindlichkeit

    „Im Augenblick sollten wir das nicht tun": Atomkraftgegner zu Tôkyô 2020

    4.1 Olympia und Kernenergie: OK-Chef Moris Plädoyer für Atomkraft

    4.2 Gegenpositionen prominenter Atomkraftgegner

    4.2.1 Yamamoto Tarô: Kritische Fragen im Parlament

    4.2.2 Hirose Takashis Brief an die Olympiateilnehmer

    4.2.3 Koide Hiroaki: Olympiagegner und „Landesverräter"

    4.3 Protagonisten der landesweiten Gegenbewegung

    4.4 Stimmen repräsentativer Einzelpersonen aus Fukushima

    4.4.1 Nakajima Takashi (Vorsitzender der Klägervereinigung Nariwai-Soshô)

    4.4.2 Konno Sumio („Prozess zum Schutz der Kinder vor radioaktiver Strahlung")

    4.4.3 Die düsteren Prognosen Yoshizawa Masamis

    4.1.4 Probleme beim Wiederaufbau: Die Bedenken des Rentners U. K.

    Die Gruppen der genuinen Olympia-Gegner und ihre Argumente

    5.1 Die „Versammlung gegen die Olympischen Spiele" (Hangorin no Kai)

    5.1.1 Protagonisten der Hangorin no Kai: Ichimura Misako und Ogawa Tetsuo

    5.1.2 Aktivitäten, Themen, Argumente: Zum Framing des Anti-Olympia-Diskurses

    5.1.3 Das Schreiben an IOC-Präsident Thomas Bach

    5.1.3.1 Repräsentative Inhalte des Schreibens

    5.1.3.2 Analyse des Schreibens an Bach

    5.1.4 Verbindung der Hangorin no Kai mit internationalen Olympiagegnern

    5.1.5 Olympia als Gefahr für Demokratie und Bürgerrechte

    5.2 Die „Verbindungskonferenz Nein Danke zu ‚Olympischen Desastern 2020’"

    5.2.1 Gründung der Okotowari-Verbindung 2017

    5.2.2 Das Manifest der Okotowari-Verbindung

    5.2.3 Der Literaturwissenschaftler Ukai Satoshi und seine Argumente

    5.2.3.1 Biografisches: Tôkyô 1964 als abschreckendes Beispiel

    5.2.3.2 Olympia als Quelle für einen „Recycle-Nationalismus"

    5.2.3.3 Fukkô monogatari: Das Narrativ vom Wiederaufbau

    5.2.3.4 Olympia als politisches Instrument gegen die Anti-Atomkraft-Bewegung

    5.3 Wissenschaftler*innen gegen Olympia 2020: Das „Manifest gegen Olympische Spiele in Tôkyô"

    5.4 Der Einwurf Donald Keene’s

    Japan in der Corona-Krise

    Zusammenfassung

    Literaturverzeichnis

    Tôkyô 2020: Olympics and the arguments of the opponents

    VORWORT

    Die Beschäftigung mit dem Thema Olympische und Paralympische Spiele 2020 in Tôkyô als Journalist, Japanologe und Sportwissenschaftler geht für mich auf Feldforschung und Recherchen zurück, die ich für mein 2018 erschienenes Buch „Sayônara Atomkraft. Proteste in Japan nach ‚Fukushima‘" unternommen habe. Dabei rückte mit der Vergabe der Spiele an Tôkyô im September 2013 der internationale Wettkampfsport mit seinen vielfältigen Einwirkungen auf Gastgeberländer großer Veranstaltungen automatisch mit ins Blickfeld.

    In Gesprächen, die ich mit Vertretern der japanischen Anti-Atomkraft-Bewegung zu Olympia 2020 führen konnte, gewann früh ein narrativer Topos Kontur, der die besondere Bedeutung der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 für dieses Ereignis herausstrich und der von der Skepsis vieler Menschen in Japan gegenüber Olympia zumindest zum jetzigen Zeitpunkt zeugte. Damit wurde zugleich die besondere Verantwortung deutlich, die auf Veranstalter und Ausrichter des größten Sportfestes der Welt gegenüber den von der Katastrophe betroffenen Regionen und ihren Menschen zukommt.

    Der Wunsch zu untersuchen, ob die Organisatoren, die japanische Regierung und das Internationale Olympische Komitte und mit ihm die internationale Gemeinschaft des Sports dieser Verantwortung im Rahmen der von ihnen so bezeichneten „Wiederaufbau-Spiele" gerecht werden würden, war eine wichtige Antriebsfeder für diese Arbeit. Da ich mich seit langem als Journalist und Sportwissenschaftler mit den problematischen Seiten des Hochleistungssports und der ihn repräsentierenden Organisationen beschäftige, hielten sich meine Erwartungen in Bezug auf die Sensibiliät, Seriosität und Glaubwürdigkeit dieser Sommerspiele gegenüber den von der Katastrophe Betroffenen allerdings von vorneherein in überschaubaren Grenzen. Dies sei vorausgeschickt.

    Dieser Band stellt die überarbeitete Fassung einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit dar, die an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt/M. am Fachbereich 09, Sprach- und Kulturwissenschaften, Institut für Japanologie, im Dezember 2017 als Masterarbeit angenommen wurde.¹ Die Arbeit trägt den Titel „Olympia 2020 in Tôkyô: Kritische Diskurse repräsentativer Akteure und Gruppierungen". Einige Teile der ursprünglichen Arbeit wurden für diesen Band gestrichen, andere kamen hinzu. Außerdem wurden bis zum Redaktionsschluss Mitte August 2019 fortlaufend Aktualisierungen vorgenommen.

    Für die Betreuung der Arbeit und ihre Begutachtung danke ich Frau Professorin Dr. Lisette Gebhardt von der Japanologie der Goethe-Universität Frakfurt am Main sehr herzlich. Für die Transkription von Interviews im Japanischen sowie die Empfehlung und Vermittlung wichtiger Gesprächspartner in Fukushima gilt mein Dank Hishinuma Iyoko, die bereits das Projekt „Sayônara Atomkraft" tatkräftig unterstützt hat. Wertvolle Hilfen in Fukushima habe ich auch von Kodama Naoya, dem Leiter der Hilfsorganisation EarthWalkers erhalten. Für die Bereitschaft zu mehreren Treffen und Gesprächen sowie für Hinweise zu anderen gegen Tôkyô 2020 engagierten Organisationen, habe ich den Vertretern der Hangorin no Kai, Ichimura Misako und Ogawa Tetsuo, besonders zu danken. Weitere wichtige Hinweise und die Gelegenheit zu einem für diese Arbeit zentralen Interview mit ihm verdanke ich Professor Dr. Ukai Satoshi von der Hitotsubashi-Universität Kunitachi, Tôkyô.

    Andreas Singler

    Mainz, im August 2019


    ¹ Wie in japanologischen Arbeiten üblich, wird auch in diesem Band bei japanischen Namen der Familienname zuerst genannt.

    VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

    Die zweite und erweiterte Auflage dieses Bandes wurde durch neue Erkenntnisse und Verdachtsmomente zu Korruption und Bestechung im Zusammenhang mit der Bewerbung Tôkyôs für die Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 motiviert. Wo bislang von einzelnen Tätern ausgegangen wurde, zeichnet sich mittlerweile das Bild einer regelrechten Verschwörung ab. An ihr sind augenscheinlich Spitzenkräfte aus Politik, Wirtschaft und Sport beteiligt, die das Staatsziel Tôkyô 2020 einte.

    Die weltweite Corona-Pandemie hat die Olympischen und Paralympischen Spiele von Tôkyô dann aber doch noch an den Rand des Scheiterns gebracht. Die im Frühjahr 2020 nach zunächst wochenlanger Weigerung des IOC schließlich doch noch ergangene Verschiebung der Spiele um ein Jahr erwies sich kaum als zufriedenstellende Lösung, sondern sie verlagerte nur die Durchführung des Spektakels in ein anderes, für Japan sogar noch wesentlich dramatischeres Stadium der Krise.

    Angesichts der Überforderung des Gesundheitssystems, die sich während der „vierten Welle in Japan im Frühjahr 2021 so überraschend schnell einstellte, erwuchs im ganzen Land eine Stimmung, die von einer unzweideutigen Ablehnung des möglichen Superspreader-Events getragen war. Fast schon entsetzt nahmen viele Menschen, die dem Event vorher vielleicht noch positiv gegenübergestanden haben mochten, nun ernüchtert zur Kenntnis, wie kalt und rücksichtslos Olympia seine Interessen an den „Pandemischen Spielen durchzusetzen wusste, während gleichzeitig Vertreter*innen des Gesundheitssystems Alarm schlugen.

    Die in Umfragen nun mit überwältigenden Mehrheiten von über 80 Prozent abgelehnten Spiele des Jahres 2021 gaben den diversen Kritiken an diesen Spielen wie an Olympia im Prinzip noch einmal ganz neue Nahrung. Spielte der Widerstand gegen Tôkyô 2020² vorher in den weltweiten Medien überhaupt keine oder allenfalls eine marginale Rolle, gehörten Hinweise auf „wachsenden Protest gegen die Olympischen Spiele inmitten der Pandemie" (der US-Fernsehsender CNN) nun plötzlich zum gängigen narrativen Reservoir für Tôkyô 2020.

    Redlich war dies allerdings nicht immer, denn die jetzt endlich einmal zur Kenntnis genommenen Proteste wurden in den Berichten zumeist – wieder einmal – als neu in einem ansonsten angeblich so konformistischen Land ausgewiesen. Auf den Bildern, die von diesen Protesten gegen die Spiele 2021 um die Welt gingen, waren dann aber zumeist genau jene Aktivist*innen zu sehen, die von Anfang an ihre Argumente gegen Olympia auf der Straße – von den Medien ignoriert – sichtbar gemacht und vertreten haben.

    Andreas Singler

    Mainz, im Juni 2021

    Abbildung 1: Schauplatz „Olympischer Wiederaufbau-Spiele": das Azuma-Baseball-Stadion in Fukushima-Stadt (Aufnahme 2018)


    ² Auch wenn die Olympischen und Paralympischen Spiele in Japans Hauptstadt nun, aller Voraussicht nach, 2021 und damit ein Jahr später als geplant stattfinden werden, bleibt der Titel der Doppelveranstaltung unverändert: Tôkyô 2020.

    1 EINFÜHRUNG: TÔKYÔ 2020 ZWISCHEN PUNKTUELLER KRITIK UND FUNDAMENTALER GEGNERSCHAFT

    Die olympische Bewegung hat es derzeit nicht leicht. In der demokratischen Welt ist die Ausrichtung Olympischer Spiele der lokalen Bevölkerung in Bewerberstädten und den Steuerzahlern seit geraumer Zeit kaum mehr vermittelbar. Der Bewerberkreis für die Ausrichtung der Olympischen Spiele, sei es im Winter oder im Sommer, ist nach der Jahrtausendwende stetig zusammengeschrumpft. Und dort, wo in den vergangenen Jahren die Bevölkerung nicht nur in Form von methodologisch nicht immer transparenten Umfragen befragt worden ist, sondern durch verbindliche Referenden, zeigen die Daumen der Mehrheit der sich beteiligenden Menschen regelmäßig nach unten.

    Ökologisch und ökonomisch ist Olympia den Menschen immer weniger vermittelbar. Reibungslose Bewerbungs-, Vorbereitungs- und Durchführungsphasen von Olympischen und damit automatisch assoziiert auch Paralympischen Spielen sind, so scheint es, fast nur noch in autokratisch regierten Staaten bzw. in Staaten mit offenkundigen Demokratiedefiziten zu realisieren. So fanden sich nach zahlreichen Absagen und Rückziehern für die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2022 lediglich noch Peking, das den Zuschlag erhielt, und die kasachische Stadt Almaty als bis zur Entscheidung durchhaltende Bewerberstädte. Die Olympischen Sommerspiele 2024 und 2028 wurden mangels Konkurrenz 2017 erstmals unter den einzigen verbleibenden Bewerbern im Rahmen einer Doppelvergabe aufgeteilt, an Paris 2024 und Los Angeles 2028. Die olympische Bewegung mit dem Internationalen Olympischen Komitee an der Spitze befindet sich offensichtlich in einer der größten Legitimitätskrisen ihrer Geschichte, und es ist eine weltweit zu detektierende Krise ihrer eigenen moralischen und politischen Integrität.

    Am 7. September 2013 hatte Tôkyô im Rahmen der IOC-Session von Buenos Aires den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele 2020 erhalten. Die Bilder, die von der Rezeption dieser Nachricht in Japan in westlichen Medien kursierten, zeugten von jubelnden Massen, die in der früheren und künftigen olympischen Gastgeberstadt den Sieg der japanischen Bewerbung feierten. Zweifellos traf dies die Stimmung für einen großen Teil der Bevölkerung Tôkyôs, innerhalb derer die Zustimmung unter dem Eindruck beachtlicher Olympiaerfolge japanischer Sportler in London 2012 zuletzt deutlich zugenommen hatte. Was solche Bilder spontaner Freude aber nicht transportieren konnten: Es gab und gibt auch entschiedene Gegner von Olympia in Tôkyô. Viele.

    In dieser Arbeit sollen die Diskurse um die Ausrichtung der Olympischen und Paralympischen Spiele 2020/1 aus Sicht von Gegnern, Skeptikern und Kritikern untersucht werden. Welche Argumente werden gegen die Ausrichtung – oder gegen die Art und Weise, wie die Ausrichtung geplant und vorangetrieben worden ist – hervorgebracht? Welchen gesellschaftlichen Gruppierungen und sozialen Bewegungen sind die jeweiligen Argumente zuzuordnen, welche Interessen sind damit verknüpft?

    Nicht nur Gegenargumente, sondern eine ausgemachte Gegnerschaft gegen Olympia 2020 in Tôkyô sind – das zeigen Vorarbeiten, die im Zuge eines Buchprojektes zur japanischen Anti-Atomkraft-Bewegung insbesondere in den Jahren 2013 und 2014 geleistet wurden (Singler 2018) – am deutlichsten aus zwei sozialen Bewegungen zu vernehmen. Diese hat man sich allerdings nicht als homogene Organisationen mit formalen Mitgliedschaften und institutionalisierten Strukturen vorzustellen hat, sondern eher als Bündnisse mit zumeist niedrigem Organisationsgrad bei hoher Identifikation mit den politischen Zielen der jeweiligen Bewegungen:

    aus Reihen der Anti-Atomkraft-Bewegung, die sich nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Folge des 11. März 2011 überall im Land etabliert bzw. die auf Basis jahrzehntealter Strukturen enormen Zulauf erhalten hat (Kapitel 4)

    aus dem in Japan wie überall in olympischen und paralympischen Bewerberstädten und –ländern anzutreffenden Kreis an überzeugten Olympiagegnern, die ihre Gegnerschaft häufig mit sozialpolitischen und bürgerrechtlichen Argumenten begründen und die mit Olympiagegnern in aller Welt assoziiert sind (Kapitel 5).

    Darüber hinaus bietet der öffentliche Diskurs zum Thema Olympia 2020 in Tôkyô eine Fülle von Ansatzpunkten, an denen die Olympiagegner ebenfalls andocken. Zu unterscheiden ist hier zwischen Fundamentalkritikern einerseits, die die Spiele ablehnen und für ihr Arsenal an Gegenargumenten aus dem weiten Reservoir an peinlichen Ereignissen, Pannen und Skandalen rund um den Bewerbungs- und Realisierungsprozess zu Tôkyô 2020 schöpfen. Andererseits haben derlei Ereignisse eine Fülle von Kritiken und Kritikern auf den Plan gerufen, deren Widerspruch nicht mit einer grundsätzlichen Gegnerschaft zu Olympia insgesamt oder der Olympiaausrichtung 2020 in Tôkyô gleichgesetzt werden kann. Dies gilt insbesondere für den Umgang der japanischen Regierung mit der Corona-Pandemie bzw. für deren Festhalten an Olympia inmitten einer weltweiten Pandemie von historischen Ausmaßen. Mit Eintritt der „dritten und „vierten Welle im Winter 2020/21 und im Frühjahr 2021 musste man beileibe kein Olympiagegner sein, um gegen diese Olympischen Spiele zu sein. Die nachdrücklichsten Appelle zu ihrer Absage stammen von Angehörigen solcher Berufsgruppen, die sich mit politischen Interventionen normalerweise deutlich zurückhalten – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gesundheitssystems.

    Insofern ist auch eine präzise Zuordnung von Aktivisten zu bestimmten sozialen Bewegungen nicht immer auf Anhieb möglich. Unterscheidungskritierien sind zu definieren. Im Rahmen dieser Arbeit soll deshalb unter einem genuinen Olympiagegner eine Person verstanden, deren öffentliches Engagement vor allem darin besteht, gegen Olympische Spiele in Japan und weltweit zu agitieren, jedenfalls gegen Großwettbewerbe in ihrer augenblicklichen Gestalt. Ein Atomkraftgegner, dessen Engagement sich auch gegen die Olympischen Spiele im Jahr 2020 in Tôkyô richtet, widmet hingegen sein Engagement in erster Linie dem Ziel des japanischen und weltweiten Atomausstiegs.

    Die japanologische Forschung zur olympischen Gegenbewegung zu Tôkyô 2020 vor den Spielen blieb nach der Vergabe durch das IOC lange Zeit noch überschaubar. Erste Beiträge wurden im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im November 2013 vorgestellt. Christian Tagsold (Universität Düsseldorf) operierte in seinem Vortrag zu Olympia 2020 dabei mit dem auf die Soziologin Saskia Sassen (1991) zurückgehenden Begriff der Global Cities (vgl. Tagsold o.J.). Steffi Richter (Universität Leipzig) gab wie auch der Autor dieser Arbeit damals erste Hinweise zur „Versammlung gegen die Fünf Ringe" (Hangorin no Kai), einer im Rahmen dieser Arbeit näher untersuchten Gruppe von genuinen Olympiagegnern um Aktivistinnen und Aktivisten aus der Parkbewohner-Gemeinschaft und ihrem Unterstützungsumfeld. In der Folge legte Richter (2016) einen historizierenden Aufsatz zu Olympischen Spielen in Tôkyô vor, in dem sie in Bezug auf Tôkyô 2020 die Begriffe Feier-Kapitalismus (Jules Boykoff) und Katastrophen-Kapitalismus (Naomi Klein) anwendete. Darin stellte sie auch die Hangorin no Kai und deren prägende Mitglieder vor.

    Zu Meinungen und Einstellungen in der japanischen Anti-Atomkraft-Bewegung hat der Autor dieser Arbeit mit dem Band „Sayônara Atomkraft verschiedene Hinweise geben können (vgl. Singler 2018). Auf das Phänomen von Diskursverwandtschaften, die ein breites Themenspektrum umfassen, wurde im Rahmen eines Vortrags an der Universität Frankfurt zu Beginn des Jahres 2014 erstmals hingewiesen (Singler 2014). Wer öffentlich gegen Atomkraft opponiert, tut dies häufig auch gegen die Pläne der Revision des Artikels 9 der japanischen Verfassung, gegen Handelsabkommen wie der letztlich von US-Präsident Donald Trump gekippten Transpazifischen Partnerschaft TPP oder dem 2013 verabschiedeten „Gesetz zum Schutz besonderer Geheimnisse des Staates – und gegen Olympische und Paralympische Spiele zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

    Zur Verbesserung der Quellenlage hat zudem mit regelmäßigen Berichten und Analysen vor Ort der als Autor und Übersetzer in Tôkyô lebende britische Japanologe und Historiker William Andrews mit seinem Blog „Throw Out Your Books" wie kaum ein anderer beigetragen.³ Eine internationale Kontextualisierung lieferte ferner die Berichterstattung über einen bislang beispiellosen einwöchigen internationalen Protest und Austausch von Olympiagegnern in Tôkyô ein Jahr vor der ursprünglich geplanten Eröffnung der Spiele zwischen dem 20. und 27. Juli 2019 (vgl. z.B. Zirin und Boykoff 2019).

    Zuletzt haben Steffi Richter, Andreas Singler und Dorothea Mladenova 2020 als Herausgeber mit NOlympics. T ōkyō 2020/1 in der Kritik einen Band vorgelegt, der den kritischen Stimmen zu diesem Mega-Event in Japans Hauptstadt eine Plattform verschaffte, wie es sie im deutschsprachigen Diskurs bislang noch nicht gab und wie sie außerhalb Japans beispiellos ist.

    Auf ihr verschränken sich japanische Diskurse mit internationalen Kritiken, diskutieren Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen gemeinsam zu einem brennenden Problem unserer Zeit: nämlich, am Beispiel Tôkyô 2020, zur gesellschaftlichen Legitimität und zur Moral Olympischer Spiele im 21. Jahrhundert – einer Zeit also, die gezeichnet ist von wieder einmal rapide wachsenden (welt)gesellschaftlichen Diskrepanzen und Ungerechtigkeiten. Immer mehr werden diese ausgerechnet anlässlich Olympischer Spiele freigelegt, und immer offener denunzieren sich die Spiele selbst als unheilbringender Teil dieses fatalen Prozesses.

    Abbildung 2: „Gerade jetzt braucht Nippon die Kraft dieses Traumes"; Aufnahme in Tôkyô, März 2013, nähe Ueno-Park


    ³ Siehe https://throwoutyourbooks.wordpress.com

    2 TÔKYÔ 2020 IM WETTBEWERB DER GLOBAL CITIES – VISIONEN AUS DEM RÜCKSPIEGEL

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