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Nanninga: Gemälde des Todes. Ostfrieslandkrimi
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Nanninga: Gemälde des Todes. Ostfrieslandkrimi
eBook345 Seiten4 Stunden

Nanninga: Gemälde des Todes. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

Erben ist mitunter eine wunderbare Sache. Das Wiener Ehepaar Rembrandt wurde von einer verstorbenen Tante mehr als großzügig bedacht: Nie wieder Geldsorgen! Dazu ein Haus im malerischen Greetsiel. Doch die ostfriesische Erbschaft entpuppt sich rasch zu einer tödlichen Falle. Ein verschollenes Gemälde des Wiener Malers Gustav Klimt soll in Ostfriesland versteckt sein. Plötzlich gibt es erste Mordopfer in Ostfriesland zu beklagen. Die wenigen Spuren zwischen Ostfriesland und Wien führen die Ermittler ständig in die Irre. Viele Interessenten jagen nach dem verschollenen Klimt-Gemälde - und sie schrecken vor nichts zurück...

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum9. Sept. 2019
ISBN9783990740620
Nanninga: Gemälde des Todes. Ostfrieslandkrimi

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    Buchvorschau

    Nanninga - Günther Zäuner

    Chr.)

    Prolog

    November 2017

    Allerheiligenwetter – nasskalt und unwirtlich.

    Nebelfetzen und ein wolkenverhangener Himmel hängen über der Stadt, bedecken sie wie ein riesiges Leichentuch. Die Dämmerung setzt ein. Eisiger, kräftiger Wind verleidet den Aufenthalt draußen. Jeder will schleunigst nach Hause in die Wärme.

    Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Längst ist die stets wiederkehrende, völlig unverständliche Hektik um die bevorstehende Adventszeit und das Weihnachtsfest ausgebrochen. Do They Know It’s Christmas und Last Christmas dröhnen als nervende Vorboten aus den Radiolautsprechern, in Kaufhäusern und Einkaufscentern.

    Auf dem Rathausplatz laufen bereits die Vorbereitungsarbeiten für den Christkindlmarkt, dessen Eröffnung in Kürze bevorsteht. In den nächsten Tagen wird der mächtige Weihnachtsbaum, jährlich von einem anderen Bundesland gestiftet, aufgestellt. An der Stirnseite des riesigen Platzes thront das beeindruckende Rathaus im neogotischen Stil, gegenüber dem Burgtheater. Dazwischen die prunkvolle Ringstraße und wie immer um diese Tageszeit mit unvermeidlichem Verkehrsstau, laut bimmelnden Straßenbahnen, rücksichtslosen Kamikaze-Radfahrern auf den Radwegen. Erste Adventstouristen bummeln herum und knipsen ihre Selfies.

    Das Ehepaar in dem Skoda Combi älteren Baujahrs schiebt sich langsam im Strom der Fahrzeuge vorwärts, vorbei am Café Landtmann. Der Lenker wechselt in die linke Spur, biegt bei der Universität ab und fährt weiter Richtung Reichsratsstraße. Es grenzt nahezu an ein Wunder, um diese Zeit direkt vor dem Café Einstein einen freien Platz zu ergattern.

    »Das nenne ich Glück«, meint er deshalb auch zu seiner Frau. Nachdem er eingeparkt hat, aktiviert er auf seinem Handy den elektronischen Parkschein. Die Parkplatzsheriffs des Wiener Magistrats sind gnadenlos und kennen selten Pardon.

    Eigentlich passt das abscheuliche Wetter gar nicht zu dem freudigen Ereignis, dem wiederum ein trauriger Anlass zugrunde liegt. Immerhin ist ein Mensch gestorben, liegt nun auf dem Zentralfriedhof begraben.

    Nutznießer ist dieses Ehepaar, das gerade von einem Notartermin kommt, seit zwei Stunden durch diesen Todesfall unverhofft sehr vermögend geworden ist. Zwar war das Ableben der Dame aufgrund des hohen Alters absehbar, dass der Neffe jedoch Alleinerbe wird, ist dennoch eine Überraschung gewesen, die erst einmal verdaut sein will.

    Momentan befindet sich das Ehepaar im Zwiespalt, ob es sich darüber freuen soll oder ob es ein Danaergeschenk ist. Niemals bisher ist es mit derartigen Summen konfrontiert gewesen, die nun zu seiner Verfügung stehen. Oder vielmehr Rupert Rembrandt, dem Neffen der Verblichenen, die ihn so großzügig bedacht hat.

    Natürlich wissen Herta und Rupert Rembrandt, dass Tante Thea zeitlebens nie am Hungertuch nagen musste, doch als das Testament verlesen wird, fassen sich beide mehrmals an den Händen, begreifen nicht sofort, was die alte Dame an Vermögen angehäuft hatte und sie nun in den Genuss kommen, diese Früchte zu ernten.

    Die Rembrandts haben es nie darauf angelegt, sich als Erbschleicher einzuschmeicheln, damit spekuliert, überhaupt in diesem Testament Erwähnung zu finden. Vielmehr bestand, besonders in den letzten Jahren vor Theas Tod, nur mehr ein sporadischer Kontakt.

    Mit dieser unbekannten, neuen Situation ist das Paar völlig überfordert. Jetzt, gleichsam über Nacht, in ihrem letzten Lebensdrittel plötzlich zu gemachten, sorgenfreien Leuten aufzusteigen. Bisher erbte erst Herta Rembrandt ein einziges Mal, und das war nicht der Rede wert.

    Zwar führen die Rembrandts ein durchaus angenehmes Leben, auch wenn es ihnen keine allzu großen Sprünge erlaubt. Doch sie wohnen in einer schön eingerichteten geräumigen Gemeindebauwohnung, es gibt immer genug zu essen auf dem Tisch. Ein Auto steht zur Verfügung, und ein jährlicher Urlaub ist ebenfalls drin. Eben guter, schuldenfreier Mittelstand. Wer sein Leben lang nichts anderes gewohnt, das tägliche Leben leistbar ist, darf sich erlauben, ab und zu über die Stränge zu schlagen und kann rundum zufrieden sein.

    Sicherlich haben sie ihre Träume, spielen wöchentlich im Lotto und den Euromillionen, mit in dem Wissen, dass sie vergeblich einer Illusion nachjagen, da Fortuna stets ihr Füllhorn über andere ausschüttet.

    Plötzlich ist das bisherige Leben auf den Kopf gestellt, sämtliche Träume können realisiert werden. Tausend Gedanken schwirren in den Köpfen des vor einem Jahr pensionierten Straßenbahnfahrers der Wiener Linien und seiner Frau herum, die noch als Ordinationshilfe arbeitet, während sie vor dem Wohnhaus mit der prächtigen Fassade in der Reichsratsstraße stehen.

    Natürlich ist ihnen das Gebäude von früheren Besuchen bei Tante Thea bekannt, doch ihr letzter Besuch liegt lange zurück. Kein Vergleich zu ihrem Gemeindebau im Arbeiterbezirk Ottakring.

    Nun sind sie stolze Besitzer einer riesigen Wohnung mit sämtlichem Inventar an einer der ersten Adressen in der Innenstadt. Dazu noch Sparbücher mit unterschiedlich hohen Einlagen und ein beträchtliches Aktienpaket. Die Rembrandts fühlen sich wie in Watte gepackt.

    Börsenindex, ATX, Dow Jones, DAX sind für sie spanische Dörfer. Da wird wohl auch der Betreuer ihrer Hausbank w. o. geben müssen. Doch an wen sollen sie sich wenden? Das Image der Banken ist schwer angeschlagen. Wem kann man vertrauen, der dieses Vermögen zuverlässig und gewinnbringend verwaltet?

    Hinzu kommen die künftigen steuerlichen Verpflichtungen, von denen sie absolut keine Ahnung haben. Nun werden sie wohl einen erstklassigen Steuerberater engagieren müssen.

    Heute Morgen hatten sie noch keinerlei Probleme. Nun sind sie mit Schwierigkeiten konfrontiert, von denen sie bis dato nicht wussten, dass solche überhaupt existieren.

    Damit nicht genug, erbten sie noch ein Sommerhäuschen in Greetsiel auf Krummhörn in Norddeutschland, genauer in Ostfriesland. Dort waren sie noch nie in ihrem Leben. Rupert Rembrandt musste sich erst auf einer Karte in der Notariatskanzlei zeigen lassen, wo dieser Ort genau liegt. Und als Draufgabe ein Boot, das in der Marina von Emden ankert.

    Zwar hatte Tante Thea sie öfters nach Krummhörn eingeladen, doch irgendwie kam immer etwas dazwischen.

    Der pensionierte Straßenbahnfahrer schließt das schwere Haustor auf. Bereits das imposante Treppenhaus mit den dunklen Wandvertäfelungen, die kunstvollen Malereien, die Marmorstufen und das reich verzierte Geländer versetzen jeden Besucher in ehrwürdige Bewunderung.

    Ein Gründerzeithaus, als in der österreichisch-ungarischen Monarchie das Geld noch locker saß, zahlreiche Glücksritter aus dem Nichts über Nacht zu Großbürgern aufsteigen konnten, vielfach auch in den Adelsstand durch den Kaiser erhoben wurden.

    »Irgendwie fühle ich mich wie ein Leichenfledderer«, sagt Rupert Rembrandt zu seiner Frau und klingt eingeschüchtert, während sie mit dem Lift in das letzte Stockwerk hochfahren. »Schließlich war ich ihr letzter Verwandter. Besonders in letzter Zeit habe ich mich kaum noch um sie gekümmert. Die Grußkarten zu Weihnachten, Ostern und an ihrem Geburtstag waren doch mehr als schäbig. Jetzt holt mich das schlechte Gewissen ein, und ich komme mir richtig mies vor.«

    »Mach dir keine Vorwürfe«, versucht Herta ihren Mann auf andere Gedanken zu bringen, und sieht es pragmatisch. »Jetzt ist es ohnehin zu spät. Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben, warum sie dich als Alleinerben einsetzte.«

    »Ich fühle mich total überrumpelt. Wir sind doch einfache Leute, die solche Situationen nur aus dem Fernsehen kennen. Wie sollen wir damit umgehen? Wie damit fertigwerden? Momentan wissen wir doch gar nicht, wo oben und unten, vorne und hinten ist.«

    »Dann werden wir es eben lernen«, lautet Herta Rembrandts trockene Antwort.

    »Ich dachte eher, die Kirche, der Tierschutzverein oder andere karitative Organisationen würden das große Los ziehen. Immerhin war sie sehr gläubig, eine richtige Betschwester und große Tierfreundin.« Der Lift hält mit einem sanften Ruck. Er drückt die Türe auf, steigt aus, gefolgt von seiner Frau.

    »Weißt du, Herta, als kleiner Junge durfte ich oft bei ihr zu Besuch sein und glaubte, sie wäre eine Königin, weil sie in einem solchen Palast wohnte. Sie hatte mir immer sehr viel Spielzeug geschenkt, was meinen Eltern gar nicht recht war. Doch die Thea-Tante hat mich immer sehr gern gehabt. Wie du weißt, stamme ich doch aus kleinen Verhältnissen. Wir mussten uns ordentlich nach der Decke strecken. Da konnten meine Eltern nicht mithalten. Wiederholt hatte sie ihnen Geld angeboten und meinte, mitnehmen kann sie sich ohnehin nichts. Doch mein Vater war viel zu stolz, die Unterstützung anzunehmen. Als ich größer war, steckte sie mir schon heimlich den einen oder anderen Schein zu. Jetzt schäme ich mich dafür, dass ich sie ausgerechnet in ihren letzten Lebensjahren so links liegengelassen habe.«

    »Eigentlich hat die Thea-Tante selbst nichts zu ihrem Reichtum beigetragen«, sieht Herta es nüchtern, »zweimal verheiratet und das Geld brachten ihre Männer mit in die Ehen. Keine Kinder und beide überlebt. Der Erste ein Chirurg mit eigener Privatklinik, die er nach seiner Pensionierung um schweres Geld verkaufte. Sein Nachfolger kam selbst aus reichem Haus. Es stimmt schon. Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Zum bereits Vorhandenen noch zwei üppige Witwenpensionen. Das läppert sich. Da lässt sich einiges horten und auf die Seite legen. Wir sollten uns darüber nicht allzu viele Gedanken machen, Rupert, sondern ab sofort nur mehr genießen. Von wegen schlechtem Gewissen. Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn, und jetzt sind es endlich einmal wir.«

    Rupert Rembrandt bleibt eine Antwort schuldig, nestelt an einem Schlüsselbund herum, der ihm vom Notar ausgehändigt worden war. Seine Frau deutet auf die Wohnungstüre, die mit drei Sicherheitsschlössern der neuesten Generation und mit einer Alarmanlage gesichert ist.

    »Die alte Dame ließ sich auf nichts ein«, sagt sie, »recht hatte sie. Liest man doch jeden Tag in der Zeitung, dass Einbrüche und Überfälle ansteigen.«

    »Hast du dir den Code für die Anlage gemerkt?«, fragt ihr Mann.

    »Ja, ich habe es notiert.« Sie fischt einen Zettel aus ihrer Handtasche. »1918. Klingt nach Jahreszahl, komisch nicht?«

    »Die Thea-Tante war immer gerne eine Geheimniskrämerin«, misst Rupert Rembrandt dem nicht allzu viel Bedeutung zu, »mir fällt dazu nur ein, dass 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen war.«

    Während er nach dem passenden Schlüssel sucht, öffnet sich die Türe der gegenüberliegenden Nachbarwohnung, und ein Kopf mit vollen, schlohweißen, korrekt geschnittenen Haaren und einem gepflegten Vollbart lugt hervor.

    »Was tun Sie hier?«, fragt er misstrauisch. »Wer sind Sie?«

    »Guten Tag«, grüßt Rupert Rembrandt. »Ich bin der Neffe der verstorbenen Thea Berghoff. Meine Frau Herta, und ich bin Rupert Rembrandt.«

    »Oh, ein außergewöhnlicher Name«, lächelt der Weißhaarige. »Sind Sie mit dem großen Meister verwandt?«

    Er tritt hinaus in den Flur.

    »Mein Name ist Hubert Frankenthal, Professor Doktor Hubert Frankenthal«, korrigiert er sich selbst. »Sehr erfreut.« Er reicht ihnen die Hand. »Ich bin der Nachbar der seligen Frau Berghoff, wie Sie sehen. Entschuldigen Sie meinen Argwohn und das Misstrauen, aber heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein. Da helfen auch kaum mehr Gegensprechanlagen und Alarmeinrichtungen.«

    »Da haben Sie wohl recht«, sagt Rupert Rembrandt. »Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, meines Wissens bin ich nicht mit diesem Maler verwandt. Vielleicht sehr weitschichtig und über hundert Ecken. Aber ich muss gestehen, ich habe mich damit nie befasst, weil es mich, ehrlich gesagt, auch nicht interessiert.«

    Der sichtlich gebrechlich wirkende alte Mann tritt näher an Rembrandt heran, mustert ihn genau.

    »Wissen Sie, ich wohne seit Ewigkeiten hier. In ein paar Monaten werde ich zweiundneunzig, ein biblisches Alter. Aber ich muss dankbar sein. Noch bin ich mobil, kann mich selbst versorgen, bin auf niemanden angewiesen. Und mein Gedächtnis ist noch intakt.« Wieder ein weiterer prüfender Blick. »Kann es sein, dass ich Sie kenne, als Sie noch ein kleiner Bub und öfters bei Ihrer Tante zu Besuch waren?«

    »Ja, das stimmt«, bestätigt Rupert Rembrandt.

    Auch ihm ergeht es ebenso. Der Greis kommt ihm bekannt vor. Allerdings kann er sich nicht mehr erinnern, wann er Frankenthal zuletzt begegnet ist. Das muss viele Jahre zurückliegen.

    »Aber wie so oft im Leben, später hat man seine eigene Familie und einen Beruf. Es fehlt an Zeit. Immer funkt irgendetwas dazwischen, was wichtiger zu sein scheint, bis es irgendwann zu spät ist.«

    »Wem sagen Sie das«, Frankenthals brüchige Stimme klingt nun noch um einige Nuancen leiser, »ich kenne das aus eigener Erfahrung. Die wenigen, die von meiner Familie noch leben, sind in alle vier Windrichtungen verstreut. Wenn es hochkommt, lässt sich der eine oder andere einmal im Jahr blicken oder ruft an. Ab und zu ein paar lapidare Zeilen per Post.«

    Der alte Professor versucht, seinen leicht gebeugten Körper zu straffen, als wolle er auf diese Weise seiner Einsamkeit Einhalt gebieten, und wechselt das Thema.

    »Jedenfalls starb Frau Berghoff, wie man es sich nur wünschen kann. Abends einschlafen und morgens nicht mehr erwachen. Schmerzfrei ‒ ein friedlicher, schöner Tod.«

    Tatsächlich verschied Thea Berghoff im Schlaf im Krankenhaus. Die Tante lebte bis ins hohe Alter äußerst gesundheitsbewusst, ohne sich jedoch zu kasteien, war bis zuletzt auf der Höhe der Zeit. Einmal jährlich legte sie sich für ein paar Tage in eine Privatklinik, um sich gründlich durchchecken zu lassen. Doch gegen fortgeschrittene Altersschwäche sind ärztliche Kunst und Pharmazie machtlos. Nun liegt sie mit ihren beiden Ehemännern in einer Gruft auf dem Wiener Zentralfriedhof.

    Ordnungsliebend und nahezu pedantisch, wie sie nun einmal war, sorgte sie bereits rechtzeitig zu Lebzeiten für ihr Begräbnis vor, ohne ihrem Neffen zusätzliche Kosten zu bescheren.

    Im Tod sind alle gleich. Das wurde bei Tante Theas Begräbnis eindringlich vor Augen geführt. Egal, wie viel man besaß oder nicht, wer man im Leben war, etwas leistete oder nicht. Wenn die Augen für immer geschlossen sind, zählt nichts mehr.

    Nur drei Trauergäste folgten ihrem Sarg. Herta und Rupert Rembrandt mit ihrem Sohn Lorenz. Ein würdiger letzter Weg, zugleich aber armselig. Ein Kranz und zwei Buketts als letzte Blumengrüße.

    Gounods »Ave Maria«, gespielt auf dem Harmonium von einem professionellen Bestattungsmusiker in der Aufbahrungshalle. Keine Trauerrede, nur das übliche Abschiedsgeschwafel eines Pfarrers.

    »Woher wissen Sie, Herr Professor Frankenthal, dass Frau Berghoff friedlich eingeschlafen ist?«, will Herta Rembrandt wissen. Ihr kommt vor, dass ihre Frage dem Mann unangenehm ist.

    »Nun, wir waren doch über Jahrzehnte Nachbarn in harmonischer Gemeinschaft«, antwortet der alte Mann, »da ist es doch das Mindeste, dass ich in der Klinik anrief, um mich über den Zustand meiner Nachbarin zu erkundigen.« Er schlurft die paar Schritte zurück in Richtung seiner Wohnung. »Dann will ich nicht weiter stören. Es hat mich jedenfalls sehr gefreut. In der täglichen Eintönigkeit und in meinem Alter freut man sich über jede Ansprache und Abwechslung. Ich hätte Frau Berghoff gerne die letzte Ehre erwiesen, aber leider spielte meine Gesundheit nicht mit, und ich musste mich einem kleinen Eingriff unterziehen. Doch sie wird es mir verziehen haben. Na ja, irgendwer muss ja nun ihre Wohnung räumen. Oder haben Sie geerbt und werden nun meine neuen Nachbarn?«

    »Das müssen wir uns noch gründlich überlegen«, antwortet Rupert Rembrandt und erntet gleichzeitig einen verstohlenen Rippenstoß von seiner Frau wegen seiner Geschwätzigkeit.

    »Ich lasse mich überraschen. Auf Wiedersehen.«

    Der Professor zieht sich wieder in seine vier Wände zurück.

    »Komischer Alter«, flüstert Herta Rembrandt ihrem Mann zu, »irgendwie wirkt er unsympathisch. Ich mag den nicht, der gefällt mir nicht.«

    »Ach, was du immer hast.« Rembrandt schließt auf, öffnet einen Flügel der massiven Doppeltüre. »Komm, schauen wir, was uns Tante Thea alles hinterlassen hat.«

    Nachdem beide lange Zeit nicht mehr hier waren, sind sie von den Ausmaßen neuerlich schwer beeindruckt. Die ausladenden Räume mit den Stuckdecken, Kristalllüstern und Flügeltüren. Jeder Salon, jedes Zimmer zwar altmodisch, aber mit Stil, großer Liebe zum Detail und einem erlesenen Geschmack eingerichtet, voll mit Antiquitäten.

    Jeder Gegenstand, jedes Teil an dem ihm zugewiesenen Platz. Blitzblank, wenn sich auch klarerweise in den letzten Wochen eine Staubschicht wie ein schützender Schild darübergelegt hat. Die alten Parkettböden knacken und knarzen mit jedem Schritt.

    Hier ist das Rad der Zeit zurückgedreht. Kein Laut des Großstadtgetriebes dringt herein. Zwar lebte Tante Thea nicht in der Vergangenheit, war vielmehr sehr aufgeschlossen und durchaus mit den Entwicklungen im Laufe der Jahrzehnte vertraut, dennoch wirkt ihr Refugium wie ein Museum, aus der Zeit gefallen. Ihr ureigener Kosmos, vollgeräumt mit ihren persönlichen Erinnerungen. Jedes Bild, jedes Stück erzählt eine eigene Geschichte aus längst vergangenen Zeiten.

    Herta und Rupert Rembrandt können damit wenig anfangen. Daher nicht verwunderlich, dass sie sich in diesen Räumlichkeiten förmlich erschlagen fühlen. Das ist nicht ihre Welt. In jedem Raum mit der Vergangenheit konfrontiert zu sein, und obwohl Thea Berghoff nicht zu Hause verstorben ist, verfolgt vom Odem des Todes auf Schritt und Tritt. Zumindest bilden sie es sich ein.

    Die Rembrandts fühlen sich wie Eindringlinge, die hier nichts zu suchen haben. Zwar hat der Pensionist, auch wenn er einen berühmten Nachnamen trägt, mit Kunst überhaupt nichts am Hut, dennoch weiß er, was sich hier in dieser Wohnung befindet, hat sicherlich nichts mit billigem Kitsch und Plunder zu tun.

    »Wenn wir das alles verkaufen«, seine Frau scheint seine Gedanken lesen zu können, »bringt es sicherlich einen zusätzlichen Haufen Geld. Aber wie können wir uns sicher sein, dass man uns nicht übers Ohr haut? Schließlich sind wir keine Experten.«

    »Dafür haben wir unseren Lorenz«, Rupert Rembrandt ist zuversichtlich, »immerhin studiert er Kunstgeschichte.«

    Ihr einziger Sohn steckt mitten in der Endphase seiner Dissertation. Bereits in der Volksschule steckte er mit seinem Zeichentalent die Mitschüler in die Tasche. Die Lehrerin förderte ihn, meinte, mit so einem Namen wäre es sogar verpflichtend, später eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, und redete mit den Eltern.

    Nicht nur, dass sie besonders stolz auf die Fähigkeit ihres Sohnes sind, waren sie glücklicherweise so weitsichtig, hatten nichts dagegen, als der Bub sich später tatsächlich für die Kunst entschied. Immerhin wird er der erste Akademiker in der Familie sein.

    Während seine Freunde lieber auf dem Fußballplatz herumbolzten, hielt er sich im Kunsthistorischen Museum auf, besuchte Galerien und Ausstellungen, verschlang Unmengen an Kunstbüchern. Anfänglich galt er als Außenseiter, machte sich zum Gespött. Doch Lorenz Rembrandt wusste sich durchzusetzen und Respekt zu verschaffen.

    Schließlich wurde er von den anderen akzeptiert, nachdem sie begriffen, dass seine Welt nicht nur aus Leinwänden, Ölfarben, Skulpturen, Grafiken, Stichen, Aquarellen und Bilderrahmen bestand.

    Natürlich blieben auch Großtante Thea diese Ambitionen nicht verborgen. Wie sie bereits den Vater seinerzeit als Kind unterstützte, griff sie auch Lorenz unter die Arme, finanzierte ihm in großen Teilen sein Studium, was im Gegensatz zu Ruperts Eltern Lorenz’ Vater durchaus als willkommene Familienbudgetaufbesserung sehr gelegen kam. Natürlich ebenso seiner Frau Herta.

    Lorenz war es auch, der die alte Frau zuletzt lebend sah. Anders als seine Eltern besuchte er seine Großtante, wann immer er Zeit fand, nicht, weil er auf ihr Geld scharf war, sondern die alte Dame mit ihrem ausgeprägten Humor, mit diesem Schalk in den Augen und ihren Geschichten wirklich mochte.

    Thea Berghoff hatte ihn zwar nicht ausdrücklich in ihrem Testament bedacht, da sie sich sicher war, dass Lorenz von seinen Eltern nicht übergangen wird.

    Er enttäuschte nicht, erwies sich zuerst als fleißiger Schüler und später als eifriger Student, ohne ein versponnener Sonderling zu sein. Sein Traum ist es, einmal ein Museum zu leiten oder vielleicht sogar eines zu gründen. Junge Talente zu fördern, ihnen eine Chance zu bieten, im internationalen Kunstmarkt Fuß fassen und bestehen zu können. Wenn es mit einem Museum nicht klappen sollte, warum nicht eine Galerie eröffnen und in den Kunsthandel einsteigen? Und der junge Mann kennt seine Grenzen. Selbst zu Pinsel und Palette zu greifen, vor einer Staffelei zu sitzen, kam für ihn niemals infrage. Früh erkannte er, dafür reicht sein Talent nicht.

    »Was machen wir jetzt bloß mit dieser Wohnung?«, fragt Herta. »Für uns ist die doch viel zu groß.«

    »Wir werden sie verkaufen. Für Lorenz ist sie ebenfalls viel zu groß. Außerdem fühlt er sich in seiner WG pudelwohl. Diese Wohnung mit der Adresse werden sie uns aus der Hand reißen, wenn wir sie anbieten. Es gibt genug steinreiche Russen und Araber, die auf solche Objekte scharf sind und jeden Preis dafür zahlen. Wir müssen nur den passenden Makler finden, der auf solche Leute spezialisiert ist.«

    Herta Rembrandt sieht sich kopfschüttelnd um.

    »Ich frage mich«, dringt nun ihr Hausverstand durch, »wie die alte Dame diese Riesenbude sauber halten konnte? Ich könnte es nicht. Das wäre mir eindeutig zu viel.«

    »An einer Putzfrau wird es nicht gescheitert sein.«

    »Also sind wir uns einig, dass wir nicht einziehen wollen. Es passt einfach nicht zu uns. Ist doch alles viel zu weitläufig. Da drin kann man sich ja verlaufen! Und bis das Essen aus der Küche im Esszimmer auf dem Tisch steht, ist es bereits kalt.«

    »Das stimmt. Künftig müssen wir ohnehin sehr vorsichtig sein, weil wir plötzlich für unsere bisherigen Verhältnisse im Geld schwimmen. Bekanntlich ist der Neid ein Luder.«

    »Das sagst ausgerechnet jetzt du«, reibt seine Frau es ihm sofort brühwarm unter die Nase, »vorhin hast du deinen Mund vor dem Alten auch nicht halten können.«

    »Ach«, winkt Rupert Rembrandt ab, »dieser Frankenthal steht doch ohnehin bereits mit einem Fuß im Grab, der ist doch längst jenseits von Gut und Böse.«

    »Darauf möchte ich nicht wetten.«

    »Ich habe überhaupt keinen Plan, wie wir das auf die Reihe kriegen sollen. Sieh dir nur die Bilder an. Ein Glück, dass wir unseren Lorenz haben. Schau dir bloß mal die Signaturen an. Von diesen Malern habe ich nie etwas gehört. Ludolf Bakhuizen, Heinrich Becker, Martin Faber«, er beugt sich vor, um die Schriften besser entziffern zu können, »Leffert Thelen Poppinga, komischer Name. Gerhard Heinrich Nanninga …«

    »Darum soll sich unser Experte kümmern«, verschwendet Herta Rembrandt keinen weiteren Gedanken an die Gemälde.

    »Es sind sehr schöne Bilder. Viel Meer. Das können doch die heutigen Künstler gar nicht mehr. Diese ungeheure Detailverliebtheit. Ob es norddeutsche Künstler waren?« Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hat es mit diesem Greetsiel zu tun, wo dieses Sommerhäuschen steht. Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus.«

    »Aber völlig abgeschottet in der Vergangenheit hat sie nicht gelebt«, meint Herta und zeigt auf einige technische Geräte, »Flatscreen-Fernseher, DVD-Player, Stereoanlage vom Feinsten. Sogar einen Laptop hat sie besessen. Alle Achtung.«

    »Und eine Videokamera«, sagt Rupert Rembrandt und zeigt seiner Frau eine Sony-Kamera, die er zufällig in einer Kommodenlade entdeckt, »da steckt sogar noch eine Chipkarte drin, und der Akku ist auch aufgesteckt. Dann gucken wir doch, was Tante Thea sich so vor die Linse holte.«

    Er klappt den kleinen Kameramonitor auf und drückt auf die Play-Taste, bekommt große Augen und beginnt, hellauf zu lachen.

    »Was hast du denn?«, fragt seine Frau ihn verwundert.

    »Sieh es dir selbst an. Thea, die alte Betschwester und fromme Frau! Jetzt kommen die dunklen Seiten ans Tageslicht.«

    Seiner Frau drohen beinahe die Augen aus dem Kopf zu fallen, als sie das Geschehen auf dem kleinen Bildschirm verfolgt. Hat die Alte sich doch tatsächlich Stripper in die Wohnung geholt, die sich dementsprechend gebärden.

    »Das wurde in diesem Salon aufgenommen«, stellt Rupert Rembrandt fest, »ist eindeutig an den Möbeln im Hintergrund zu sehen. In diesem Fauteuil hat sie gesessen. Die Kamera stellte sie auf ein Stativ. Offensichtlich genoss sie die Darbietung. Ja, ja. Nach außen hin erzkonservativ, bieder und bigott. Aber kaum ist die Türe geschlossen, wird die Sau rausgelassen.«

    »Dreh sofort diesen Schweinkram ab!«, fordert seine Frau barsch.

    »Mein Gott, weshalb regst du dich auf, Herta? Schließlich war es ihr Leben und ihre Sache.«

    Herta Rembrandt ist nicht empört über die Eindeutigkeiten, die sie eben gesehen hat. Vielmehr ist sie neidisch auf Thea, die mit ihren fünfundneunzig Jahren noch Bedürfnisse verspürte und diese auch auszuleben wusste. Das lässt sie innerlich vor Wut kochen.

    Wann hat sie zuletzt mit ihrem Mann geschlafen? Daran kann sie sich gar nicht mehr erinnern. Kein Wunder, mit dieser Wampe geht ihm doch bereits nach zwei Minuten die Luft aus. Dabei ist sie erst sechsundfünfzig und zählt sich noch lange nicht zum alten Eisen.

    »Jetzt ist mir vollkommen klar«, dabei grinst Rupert Rembrandt hämisch, »warum sie ihre Männer überlebt hat. Mit dieser ausgeprägten Libido! Wer weiß, was wir noch alles finden werden.«

    »Eine steinalte Frau, die

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