All die Wege, die wir nicht gegangen sind
Von William Boyd
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Über dieses E-Book
Oder Schauspielerin? So schnell sie einen Plan fasst, so schnell ist er wieder passé. Irgendetwas kommt eben immer dazwischen. Und auch in der Liebe hat Bethany kein glückliches Händchen. An Verehrern ist kein Mangel, nur taugt leider keiner von ihnen. Und als wäre das alles nicht genug, muss Bethany sich auch noch mit den Liebeswirren ihrer Eltern befassen. So stolpert sie durch ihr Leben in London – von Job zu Job, von Mann zu Mann, von Pleite zu Pleite – und lässt doch nie den Kopf hängen: "Dinge gehen eben schief."
Schwungvoll und mit leichter Hand zeichnet William Boyd das Bild einer jungen Frau, der viele Türen offenstehen, die aber trotzdem ständig mit dem Kopf gegen die Wand rennt, und er erzählt von all den kleinen Entscheidungen und Zufällen, die unser Leben formen – ob wir wollen oder nicht.
William Boyd
William Boyd is also the author of A Good Man in Africa, winner of the Whitbread Award and the Somerset Maugham Award; An Ice-Cream War, winner of the John Llewellyn Rhys War Prize and short-listed for the Booker Prize; Brazzaville Beach, winner of the James Tait Black Memorial Prize; Restless, winner of the Costa Novel of the Year; Ordinary Thunderstorms; and Waiting for Sunrise, among other books. He lives in London.
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Buchvorschau
All die Wege, die wir nicht gegangen sind - William Boyd
Gatsby
EINS . . .
Bethany hält die Dauerbeschallung mit Bob Dylan nicht mehr aus. Sholto, ihr Freund, lässt ununterbrochen Songs von Dylan laufen, während er bei abgeschaltetem Ton Nachrichtensender schaut – Sky News oder CNN oder BBC News 24. Zwischen diesen Programmen schaltet er ständig hin und her, immer auf der Suche nach dem neuesten Bildmaterial des aktuellen Nachrichtengeschehens. Er scheint sämtliche Songs zu haben, die Dylan jemals veröffentlicht hat, inklusive Raubpressungen, und er lässt sie eine Spur lauter laufen, als gerade noch erträglich wäre – als Soundtrack zu den tonlosen Bildern von großen und kleinen Kriegen, sportlichen Triumphen und Niederlagen, Pressekonferenzen, Promi-Auftritten und einer Naturkatastrophe nach der anderen. Es sei ein einzigartiger, nie langweilig werdender Film von 365 Tagen Laufzeit, behauptet er, eine neue Kunstform, die er erfunden habe und die jedem zugänglich sei, der einen Fernseher besitze und dazu die Möglichkeit, Musik abzuspielen. Der Kontrast zwischen den ständig wechselnden Bildern und den zufällig dazu laufenden Songs von Bob Dylan sei der Hammer, sagt er, stimulierend ohne Ende, tragisch oder erhebend, witzig oder surreal, rund um die Uhr, solange es Nachrichtenmaterial und Dylans Begleitmusik dazu gibt.
Davon hast du bald genug, denkt Bethany, als sie ihren Mantel anzieht und die dröhnende Wohnung verlässt – Sholto verfolgt gerade eine Szene mit Kühen in einem Schneesturm, irgendwo in Nordengland, während dazu Like a Rolling Stone läuft. Draußen ist es kalt, ein dünner Eisregen fällt. Sie legt einen Schritt zu, um möglichst schnell zu ihrer Stamm-Sushi-Bar in der Meard Street zu kommen, wo sie Sushi mit Jakobsmuscheln und Thunfisch-Sashimi bestellt, dazu ein Glas Leitungswasser. Sie isst das ganze Jahr hindurch Sushi, auch im Winter: Reis enthält kein Cholesterin, und der rohe Fisch schmeckt so gruselig und jenseitig, dass einem der Appetit auf alles andere vergeht.
In der hell erleuchteten, chromblinkenden Küche arbeitet neben den japanischen Köchen auch eine junge Engländerin mit einer Art schwarzem Stoffschiffchen auf dem Kopf. Sie wirkt ernst und streng, mit dichten, dunklen Augenbrauen. Auf einmal hat Bethany ihre Zukunft klar vor Augen: Auch sie wird Sushi-Köchin, sie wird wunderschöne, saubere, gesunde Speisen zubereiten und eine Sushi-Bar in London eröffnen.
Als sie nach dem Essen das Restaurant verlässt, sieht sie die junge Engländerin mit einer Zigarette notdürftig untergestellt am Hinterausgang, der kaum Schutz vor dem Regen bietet. Bethany nimmt eine Zigarette heraus und bittet das Mädchen um Feuer. Sie rauchen zusammen und unterhalten sich. Wie lange dauert so eine Ausbildung zur Sushi-Köchin? Man absolviert eine zweijährige Lehrzeit, erklärt das Mädchen mit den Augenbrauen.
»Cool«, sagt Bethany. »Muss man dazu nach Japan?«
»Wenn es einem ernst damit ist, schon.«
Noch besser, überlegt Bethany, während sie sich bereits ihr neues Leben in Tokio ausmalt. In Tokio ist es eher warm, oder? Der Gedanke an eine Stadt, in der es ganzjährig warm ist, gefällt ihr.
»Und was macht man da genau?«, fragt sie.
»Nun«, sagt die junge Köchin, »die ersten beiden Jahre sieht man nur zu.«
»Man sieht zu?«
»Ja. Man steht einfach dabei und sieht einem Sushi-Meister bei der Arbeit zu, und nach zwei Jahren Zuschauen bekommt man ein Messer ausgehändigt und darf zum ersten Mal Fisch schneiden.«
Bethany kehrt nach Hause zurück.
»Ist arschkalt draußen«, ruft sie und sieht bei einem raschen Blick ins Wohnzimmer, dass Sholto vom Sofa auf den Boden gewechselt ist. Er blickt gebannt zum Fernseher, wo gerade Angehörige der Bangladesh Air Force Säcke mit Reis aus einem schwebenden Hubschrauber an die Opfer einer Überschwemmung verteilen, die sich dicht an dicht darunter drängeln. Er reagiert nicht auf ihre Worte. Soeben singt Bob Dylan It’s all over now, Baby Blue.
ZWEI . . .
Bethany überquert die Piccadilly Road und at- met tief durch, als sie den Park betritt. Sie verspürt dabei dieselbe Freude und Erleichterung wie jedes Mal, wenn sie die laute, hektische Stadt hinter sich lässt und ihr Blick auf die grüne, wohlgeordnete, in sich geschlossene Landschaft trifft, mit dem sauber getrimmten Rasen und den hochaufragenden, dicht belaubten Platanen, die sich bis hinauf zur Hyde Park Corner erstrecken. Sie macht sich auf den Weg zur »Stierkampfarena« und muss dabei dem Drang widerstehen, ihre Mittagszigarette jetzt gleich zu rauchen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, sagt sie sich.
Bei der Stierkampfarena handelt es sich um ein großes, asphaltiertes Rondell am östlichen Parkende, mit einem Laternenpfahl in der Mitte und vier Bänken, die gleichmäßig ringsherum angeordnet sind, als markierten sie die Quadranten auf einem Kompass. Sie hatte mit Sholto auf der Bank im Nordwesten gesessen, als er ihr eröffnete, dass ihre Beziehung beendet sei und er auf Reisen gehen werde – nach Namibia, nach Laos und Alaska –, und zwar allein. Jetzt steht sie am Laternenpfahl und kann die Sholto-Schwingungen in der Stierkampfarena am heutigen Tag sehr stark spüren – manchmal sind es gute Schwingungen; und manchmal fühlt sie sich davon so überwältigt, dass sie weinen muss. Sie entscheidet sich für die Bank im Südwesten und nimmt dort ihre Schreibkladde aus der Tasche.
Nach dem Abbruch ihres Studiums (Englische und Amerikanische Literatur) und dem Scheitern ihrer Bemühungen, einen Platz an einer Schauspielschule zu ergattern (insgesamt sechs Vorsprechtermine waren es), ist Bethany zu dem Entschluss gelangt, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, als Schriftstellerin zu werden. Wohl wissend, dass sie einen Job braucht, um sich beim Schreiben über Wasser zu halten, hat sie sich widerwillig an ihre Mutter gewandt und sie um Hilfe gebeten. Bethany weiß, dass ihre Mutter fast alles arrangiert, worum man sie bittet – es ist nur eine Frage der Zeit. Folglich arbeitet Bethany nun in einem kleinen, schmalen Lädchen in der Royal Arcade namens Pergamena, in dem es antike Füllfederhalter und erlesene Sorten von Papier zu kaufen gibt. Die Inhaberin Mrs Donatella Brazzi (die auf rätselhafte Weise um mehrere Ecken mit Bethanys Mutter bekannt ist) schaut hin und wieder mal vorbei und zieht sich dann immer nach hinten in das winzige Büro zurück, um stundenlang lautstark mit ihrer Familie in Italien zu telefonieren. Mitunter kommt es vor, dass sich drei Tage lang kein einziger Kunde in den Laden verirrt. Was Bethany nicht weiter stört, schließlich verdient sie auch so ihr Geld und hat obendrein reichlich Zeit, um über ihren Roman nachzudenken.
Bethany nutzt jede Mittagspause – sofern das Wetter mitspielt –, um im Park an ihrem Roman zu schreiben, da sie das Gefühl hat, dass ihr das Schreiben an der frischen Luft leichter von der Hand geht. Und natürlich ist die Stierkampfarena, in Anbetracht ihres letzten, quälenden Gesprächs mit Sholto, einer der besonderen Orte in ihrer persönlichen Geographie, ein ganz zentraler Punkt auf der Landkarte ihres Lebens. Der Green Park, so viel steht schon jetzt fest, wird für immer eine ganz eigene Saite in ihr zum Klingen bringen. Dieser Park, das weitläufige, asphaltierte Rondell der Stierkampfarena mit der Laterne in der Mitte und jene so harmlos wirkende Holzbank, all das wird ihr bis ins hohe Alter auf einzigartige, unvergessliche Weise präsent bleiben.
Bethany fehlt noch die Inspiration, deshalb gönnt sie sich ihre Mittagszigarette heute früher, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Der Tag ist sonnig und windig, mit dicken weißen Wolken hie und da, die schnell am Himmel vorbeiziehen. Sie sieht den alten Mann auf seiner üblichen Bank sitzen, in seinem üblichen Tweedmantel und mit seiner Baskenmütze, das Notizbuch aufgeschlagen auf den Knien, den Kopf hochgereckt, als wollte er die Luft selbst erschnuppern. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie diesem alten Mann nicht hier begegnet. Einmal, an einem sehr verregneten Samstag, als sie über Pfützen hinweg die Piccadilly Road entlanghastete, unterwegs zu einem Coffee-Shop, hat sie ihn von der Straße aus gesehen, hier an seinem Stammplatz in der Stierkampfarena, unter einem aufgespannten Regenschirm.
Sie schlägt ihre Kladde auf, hält bei der Titelseite kurz inne: KÖNIGIN IN EINEM KLEINEN LAND – Roman von Bethany Mellmoth. Sie genießt jedes Mal den wohligen Schauer, den diese schlichten Worte in ihr auslösen. Weil sie alles so wirklich erscheinen lassen, ein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.
Die Protagonistin von Königin in einem kleinen Land trägt den Namen Meredith Crowe. Sie ist ungefähr in Bethanys Alter, und der Roman zeichnet den leichten Nervenzusammenbruch nach, den sie nach der Trennung von ihrem Freund erleidet – Mungo, Cosmo, Aldo (der Name ändert sich laufend). Aldo und Meredith haben sich eines Abends im Green Park getrennt, unter Tränen und bitteren Vorwürfen auf beiden Seiten, nachdem Aldo gestanden hat, dass er zu einer früheren Freundin zurückkehren werde, seiner Sandkastenliebe.
Die unglückliche Meredith zieht es immer wieder in den Park zurück – sie kann einfach nicht anders –, und um sich zu trösten, verwandelt sie den Park in ihrer Phantasie in ein kleines Königreich mitten in London, über das sie selbst als milde Regentin herrscht. Meredith kennt jeden Winkel ihres kleinen, nur wenige Morgen Land umfassenden Reiches, kennt seine Straßen und Monumente (die Kriegerdenkmäler, den Zierbrunnen), die beiden Imbissbuden aus Holz, seine grünen Alleen, die sanften Hügel und Täler, die Tore an seinen verschiedenen Zugängen (manche prächtig-barock, andere schlicht funktional) und seine kleinen, gepflegten Wäldchen. Die Parkwächter mit ihrer Livree in Olive- und Forstgrün sind ihr treues Gefolge. Sie hat nichts gegen fremde Besucher und gewährt ihnen gern sicheres Geleit, während sie kreuz und quer durch ihr Reich ziehen, dessen Grenzen sie frühmorgens um fünf öffnet und um Punkt Mitternacht wieder gut verschließt. Wenn die Kehrfahrzeuge vorüberdröhnen, die mit ihren schnell rotierenden Bürsten zuverlässig für Sauberkeit auf ihren Straßen sorgen, neigt sie in stiller Anerkennung schweigend ihr Haupt, und