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Blaue Schatten: Roman
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eBook253 Seiten3 Stunden

Blaue Schatten: Roman

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Über dieses E-Book

Die taffe Wirtschaftsjournalistin Marlies verliebt sich bei einer ihrer Recherchen in Lebemann Tom. Als Barchef, Freizeitdealer und Frauenheld ist dieser auch mit Mitte 40 noch blendend im Geschäft. Täglich läutet es an seiner Tür und jeder will etwas von ihm: Lisi, seine Lieferantin, Dealerfreund Johannes, Erna, die Studentin von letzter Nacht und Kunden, Kunden über Kunden. Trotz chronischer Schmerzen und jeder Menge Paranoia windet sich Tom durch allerlei Querelen, Engpässe und Komplikationen, während er die Szene jahrelang mit Gras versorgt. Doch plötzlich gerät sein Partyidyll ins Visier der Drogenfahndung und damit einhergehend rutscht er in eine Abwärtsspirale aus Halbwelt, Drogen und Sucht.
SpracheDeutsch
HerausgeberDachbuch Verlag
Erscheinungsdatum16. Mai 2019
ISBN9783903263109
Blaue Schatten: Roman

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    Buchvorschau

    Blaue Schatten - Christian Moser-Sollmann

    21

    1

    Tom wachte auf, als es dämmerte. Im Schlafzimmer war es wegen eines geöffneten Fensters bitterlich kalt. Er ging pissen, trank drei Halblitergläser Wasser ohne abzusetzen und spürte ein Stechen in seiner Schulter. Beim Trinken bemerkte er Abschürfungen auf seiner Hand. Seine Lippen waren taub und geschwollen, auch mit seiner Nase stimmte irgendetwas nicht. Er hatte von blauen Elefanten geträumt. Seine Freundin Barbara lag nicht neben ihm. Sie hatten gestritten, so viel reimte er sich zusammen. Das war nicht ungewöhnlich. Beim Feiern krachten sie regelmäßig aneinander. Sie übernachtete dann bei ihrer Schwester, in ihrer alten Wohnung oder sonst wo und kam wieder. Nichts, worüber Tom weiter nachdachte. Er ging ins Bad und sah in den Spiegel. Aus der Nase quoll verstocktes Blut und er hatte eine Schramme auf der Stirn. Er musste gefallen sein. Was ihn mehr als sein Gesicht irritierte, war die mittelschwer beschädigte Tür zum Wohnzimmer. Warum war die so lädiert? Tom dachte angestrengt nach. Er hatte keine Ahnung, wie er heimgekommen war und versuchte sich an die Einzelheiten der vergangenen Nacht zu erinnern. Er blickte auf die Uhr, es war 19.30 Uhr. Alles hatte gestern ganz harmlos begonnen…

    Nach Dienstende begann er zu trinken, als er auf dem Sofatisch das Handy von Barbara liegen sah. Er konnte dem Drang nicht widerstehen, ihre WhatsApp-, Messenger- und SMS-Nachrichten zu durchforsten. Bei einer Nachricht blieb er sofort hängen: »Bless you, Noah.« Was war denn das für ein Schwachsinn? Wer schrieb ihr so einen Quatsch? Was sollte das überhaupt bedeuten? Wer eine SMS mit einer solch heuchlerischen Allerweltsformel beendete, war für Tom nicht ernst zu nehmen. Und besaß einen zweifelhaften Musikgeschmack oder hörte Reggae. Wahrscheinlich sogar beides. Tom überlegte weiter. Noah, welcher Noah? In seinem Umfeld gab es keine Personen mit alttestamentarischen Namen. Er war prinzipiell weder eifersüchtig noch neugierig, aber das merkwürdige Verhalten seiner Freundin machte ihn misstrauisch. Barbara war seit kurzem freundlich und verabredete sich ständig mit ihrer älteren Schwester. Immer häufiger verbrachte sie ihre Abende mit ihr. Diese innige Schwesternbeziehung war neu. Da musste ein Mann dahinterstecken!

    Barbara liebte ihr Telefon, niemals ließ sie es unbeaufsichtigt. Da sie es aber vergessen hatte, konnte Tom endlich einmal ungestört in ihrem Privatleben schnüffeln. Zuerst zögerte er, weil er erschöpft und müde war von seiner Arbeit. Er hatte in den letzten zwölf Stunden 720 Kaffees zubereitet, 400 Mineral verkauft, 120 Proseccos und sicher an die 500 kleine Biere. 27 Jahre körperliche Arbeit in der Spitzengastronomie hatten ihn gelehrt, seinen Bewegungsapparat sorgsam einzusetzen. Schlussendlich aber siegte die Müdigkeit über die Neugier – bald schon hatte Tom sämtliche Textnachrichten durchforstet und die Liste der eingegangenen Anrufe studiert. Bis auf die seltsame Bless-you-Abschiedsfloskel hatte er nichts Verdächtiges gefunden: Tratsch mit Freundinnen und der Schwester, Streitereien mit ihrer Mutter, Bettelbriefe an den gut verdienenden Vater mit dem schlechten Gewissen sowie häufige Krankmeldungen wegen Unpässlichkeit bei ihren zwei Arbeitgebern; bei ihrem Lebenswandel unvermeidlich.

    Tom ging ins Bad, reinigte sich mit Zahnseide sorgfältig die Zahnzwischenräume und roch dabei abgewürgte Zigaretten und den fahlen Hansl. Kalter Rauch, abgehangene Erinnerungen, wahr im Augenblick und gut. Dämmern und konzentrierte Ruhe wechseln sich ab im Rausch, philosophierte Tom. Die Taschen schmerzten weniger, wenn er regelmäßig einen Faden durch die Zahnzwischenräume zog. Er war geduscht, hatte frische Jeans an und legte sich auf die Couch. Erneut studierte er die beunruhigende SMS: »Hoffe, wir sehen uns beim Lee Scratch Perry Konzert. Bless you, Noah.« Je öfter er die Textnachricht las, umso rätselhafter erschien sie ihm. Den Dub-Reggae-Pionier kannte Tom. Aber wer war Noah? Einer ihrer unzähligen Reggaebekanntschaften? Wenn jemand Reggae hörte oder Dreadlocks trug, am besten beides, hatte er Startvorteile bei Barbara. Selbst Tom war mittlerweile unfreiwilligerweise Reggae-Experte. Ständig schleppte Barbara ihn auf Reggaekonzerte. So gut es ging, vermied er es, mitzugehen. Die dort vorherrschenden Schwingungen – oder »Vibes«, wie sie es mit gekünstelter, leicht affiger Aussprache nannte – machten ihn unterschwellig aggressiv. Neben schwarzen Zuwanderern aus Afrika, die Jamaikaner imitierten, tummelten sich dort weiße Wiener mit Dritte-Welt- und Kolonialismus-Komplex. Die schämten sich alle für ihr Leben. Das einzig Erträgliche an dieser Szene waren die Rastas. Die ruhten in sich selbst. Tom ignorierte bei solchen Besuchen Gäste und Musik, beschränkte sich aufs Feiern. Ihn nervte Barbaras Musikgeschmack, sie hörte ausschließlich Roots-Reggae. Sie fühlte sich der Szene verbunden und empfand Reggaehörer als auserwählte Gruppe, als Erleuchtete, als eingeschworenen Haufen Gleichgesinnter. Dieses vermeintlich Elitäre erheiterte ihn; Barbara gab sich besonders elitär. Selbst Dancehall oder moderne Spielarten dieses Musikstils akzeptierte sie nicht. Immer nur dieser fragwürdige Katalog außer Streit gestellter und kanonisierter Klassiker. Ständig spielte sie die gleichen zehn Tonträger. Barbara kultivierte Hörvorlieben, die sich weder biografisch noch mit aktuellen Trends erklären ließen, zudem war sie launisch, zickig, ungebildet, oberflächlich und illoyal. Ihre körperlichen Vorzüge wogen diese unbedeutenden Nachteile für Tom allerdings mehr als auf. Ein winziger Hintern, den sie gerne in Micro-Minis verpackte, superheldinnencomichaft aufgeblasene Brüste, lange, glatte, dunkelbraune Haare, je nach Tageslaune mit Mittelscheitel oder zum Dutt gebunden. Angorakatzenartige, grün-braune Augen, die abwechselnd strahlten oder spöttisch funkelten, wenn sie Tom verarschte, rechtfertigten seine sporadischen Besuche geschmacklich fragwürdiger Reggae-Hochämter. So lange sie ihn wollte, konnte sie hören, was immer sie mochte.

    Zwei, drei Jahre führten sie schon eine Beziehung. Dieses Wort war aber unpassend für ihre Art des Zusammenlebens. Verliebt war er nie gewesen. Barbara scherzte gerne auf seine Kosten und er erahnte das Ablaufdatum ihrer Lebensgemeinschaft. Sie wohnte bei ihm, betrat ihre eigene Wohnung oft Monate nicht. Er kochte, sie bügelte seine Arbeitshemden, gemeinsam tranken sie. Beim Feiern verfügte Barbara über erstaunliches Talent. Acht Bier prügelte sie in ihren dünnen 1,75-Meter-Körper ohne zu wanken, wofür ich sie beneidete. Diese für ihren mädchenhaften Körperbau beachtlichen Mengen schoss sie sich mehrmals wöchentlich rein. Solche Mengen hätte ich als Frau nie vertragen. Sie trank zu viel; zu Hause am Sofa, in Bars, auf Reggae-Festen oder sonstigen Clubnächten, wenn sie ausging. Wie bei ihrem Musikgeschmack, hatte sie auch beim Ausgehen erklärungsbedürftige Vorlieben. Sie nahm alle Arten von Drogen und liebte Alkohol, nur Kiffen verabscheute sie. Und das als Reggaehörerin.

    Toms Vorlieben waren musikalisch und feiertechnisch breiter gestreut. Seine Gewohnheiten waren einfach: er trank, rauchte und aß alles. Nur beste Qualität, nie zu viel. Auch mit 45 blieb Feiern sein Lebensinhalt. Mit 14 hatte er zu feiern begonnen und, bis auf eine Trinkpause von acht kärglichen, eintönigen und einsamen Jahren, nie damit aufgehört. Saufen war die Basis und Drogen der Ausgleich für sich endlos ziehende Arbeitswochen. Weichmacher aller Art tapezierten sein Arbeiterleben samtrot.

    Tom kontrollierte seine Eskapaden trotz 60-Stunden-Woche. Routiniert pendelte er zwischen hinter der Bar und vor der Bar. Er führte das Leben, welches er sich als Jugendlicher erträumt hatte. Er lebte mehr Rock ’n’ Roll als jeder Popgott mit Ausnahme von George Michael, Jimmy Somerville und Ol’ Dirty Bastard. Tom führte ein Starleben, nur ohne Tonträger aufzunehmen und Autogramme zu schreiben.

    Mehr Geld zu verdienen als zu versaufen und niemals zu buckeln waren seine zwei einzigen Prinzipien, die er nie verriet. Wer von ihm was wollte, musste kommen. Er arbeitete hinter der Bar. Diese Grenze war ihm heilig. Wegen seiner ausufernden Lebensweise streikte gelegentlich seine Erinnerung. Tom vergaß Sachen oder erzählte wieder und wieder die gleichen Geschichten. Er nannte seine Erinnerungslöcher scherzhaft Feiervergesslichkeitsringe. Als Gedächtnisstütze half meistens ein Joint, also zog er an. Das THC führte ihn verlässlich auf die verborgenen Pfade seines Lebens. Doch er grübelte vergeblich. Beim Namen Noah fiel ihm nur die Geschichte mit der Arche ein. Mit Bibelsprüchen protzten Reggae-Jünger häufig, überall witterten sie die Hure Babylon. Bestimmt hatte ihm Barbara Noah sogar irgendwann einmal vorgestellt. Bei seinem Lebenswandel konnte er sich unmöglich alle Gesichter und Namen merken, die ihm die Nacht vor die Nase spülte.

    Noah, dieser lächerliche Name war sicher ein selbst gewählter Spitzname. Im echten Leben war der Typ sicher ein Großbürgerkind mit Eigentumswohnung und studierte im 15. Semester Wirtschaft, internationale Entwicklung oder ein ähnlich sinnloses Fach. Berufskinder aus den Nobelbezirken Döbling und Währing nahmen sich milieubedingt gerne eine kurze Auszeit aus ihrem Dasein und imitierten dann die Bräuche der Unterschicht. Meistens scheiterten sie dabei, sich zu vergnügen und waren selbst zum Feiern zu feige. Nach ein, zwei Jahren besannen sie sich auf ihre Herkunft, arbeiteten als Rechtsanwälte, Banker oder Lehrer, gründeten Kleinfamilien und zogen in kernsanierte Altbauwohnungen mit Balkon. Nur die Niederträchtigsten zogen nach Niederösterreich in den Speckgürtel. Niederösterreich war Toms Erfahrung nach weit vor Vorarlberg, Oberösterreich und Tirol das verkommenste Bundesland Österreichs. Warum hasste Tom Niederösterreich nur so? Vor allem wegen Barbara. Tom überlegte weiter: Ein Versager, der sich Noah nannte, konnte unmöglich ein Schwarzer sein. Die afrikanische Gemeinschaft in Wien war zwar auf 20.000 Menschen angewachsen und auf den Reggae-Festen, wo ihn Barbara hinschleppte, waren vier von fünf Gästen schwarz. Die Zuwanderer verhielten sich ähnlich beschränkt wie die Wiener Bürgerkinder. Aber sie verschonten Tom mit ihren Lebensweisheiten und politischen Meinungen. Die Zuwanderer suchten in der Diaspora dasselbe wie er: Entspannung, Weiber, Rauch und Tanz. Nur die Bürgerkinder adelten Reggae zu einem politischen Widerstandsakt.

    Tom leerte weitere Dosen Puntigamer, um seinen Ärger abzudämpfen, während er auf Barbara wartete. Um Barbara auskunftsfreudig zu stimmen, hatte er eine Flasche burgenländischen Blauburgunder geöffnet, er wollte den Wein atmen lassen, und Spaghetti Puttanesca mit extra Kapern gekocht. Von seiner Küche aus sah Tom direkt zum Riesenrad. Er ist noch nie mit dem Wiener Wahrzeichen gefahren, beobachte nur gelegentlich gerne dessen gemächliche Umdrehungen vom Küchenfenster aus. Vor zwölf Jahren ist er in die Heinestraße gezogen, nur wenige Häuserblöcke entfernt vom Gasthaus »Hansy«. Schon bei der Besichtigung stach ihm das Riesenrad als erstes ins Auge. Die Wohnung im zweiten Stock war abgewohnt, hatte aber drei große Zimmer, einen geräumigen Balkon für seine Pflanzen, einen Lift und war teilmöbliert, was ihn, weil er überstürzt aus Innsbruck abgereist war und einen Schlafplatz brauchte, sofort überzeugt hatte, die Wohnung zu mieten. Diese als Übergangslösung geplante Behausung war seitdem sein Zuhause. Die nach wie vor kärgliche Inneneinrichtung unterstrich ihren provisorischen Charakter. Tom hatte die erste Wohnung gemietet, die er in Wien je betrat und diese Entscheidung nie bereut. Barbara hatte er übrigens an seinem Arbeitsplatz kennengelernt, wo sie als Empfangsdame im schwarzen Minirock arbeitete. Nach intensivem Studium ihrer Beine und einigen kollegialen After-Work-Drinks passierte das Unvermeidliche. Von ihren angeblich fabelhaften Beinen hat er mir oft erzählt.

    Während Tom den Knoblauch für die Puttanesca dünstete und frische Minitomaten viertelte, stimmte er sich auf ein gemütliches »falsches Wochenende« ein. Es war Sonntag, darauf folgten also seine zwei dienstfreien Tage. Für die freie Zeit hatte er nichts geplant. Nach dem Essen wollten Barbara und er feiern, eventuell einen Club besuchen, wahrscheinlich aber am Sofa bis in die frühen Morgenstunden weitertrinken. Seine Vorfreude konnte auch diese sonderbare SMS nicht trüben.

    Es läutete. Tom ging mit Freizeitschritt Richtung Sprechanlage, drückte ohne zu fragen, öffnete die Tür einen Spalt weit und kochte weiter. Arbeitskollege Dimitri wollte nur schnell seine Monatsration Gras abholen. Mit treuen Stammkunden, wie dem griechischen Wirtschaftsflüchtling, besserte Tom sein Facharbeitergehalt um bis zu 1.000 Euro monatlich auf. Tom mochte die Annehmlichkeiten, die sein Zweitjob in der informellen Dienstleistungsökonomie mit sich brachte. Er stellte den Kochtopf vom Gasherd, holte aus seiner Schatzkammer Waage und Vorratsdose und Dimitri fragte er nach der gewünschten Menge. Um 50. Typisch. Immer diese Minimengen, ärgerte sich Tom. Grasverkaufen war ein Groschengeschäft. Besonders bei paranoiden Kunden wie Dimitri verdiente man praktisch nichts. Kaufte er mehr als fünf Gramm, sah er gedanklich schon die Polizei seine Wohnung stürmen. Oder er fürchtete, seine Freundin könnte seinen Vorrat entdecken und alles ins Klo schmeißen. Tom kannte die Konsumgewohnheiten, Ängste und Wahnvorstellungen seiner Kunden. Er nahm wortkarg eine Handvoll Gras, legte die Buds auf die Waage, gab eine mittelgroße Blüte zurück in die Dose und packte den großen Batzen in ein verschließbares Plastiksäckchen. Geruchsneutrale Verpackungen waren eine Grundvoraussetzung für sein erfolgreiches Geschäftsleben in der Schattenwirtschaft. Frisches Gras hatte nämlich die Unart zu riechen. Der Gestank in Treppenhäusern und U-Bahn-Waggons verriet den Rauchwaren-Liebhaber. Bei ängstlichen Kunden wie Dimitri war eine geruchsneutralisierende Verpackung daher also mehr als nur eine psychologische Vorsichtsmaßnahme. Tom gab seinem Arbeitskollegen das Päckchen und schickte ihn weg; er wollte sein Hirn nicht mit Gesprächen über Lohnarbeit belasten.

    Kaum hatte er Dimitri abgewimmelt, klingelte es schon wieder. Tom hörte statt dem vertrauten Klang von High Heels nur ein resigniertes Keuchen. Was war da los? Er wollte den heutigen Tag nicht mit Dealereien verbringen. Das Leben war ungerecht. Während ganz Österreich Freitag und Samstag soff, arbeitete Tom auf Hochtouren bei seinem Nobelitaliener in der Vorstadt und sah in vom Arbeitsleid befreite Gesichter. Wenn er sonntags gegen 17 Uhr endlich heimfuhr, änderte sich jedoch die Perspektive. Dann sah er in mit Ekel vor der kommenden Arbeitswoche gezeichnete Gesichter. Und jetzt sollte er auch noch seine karge Freizeit opfern, um die ganzen Kiffköpfe in seinem Bekanntenkreis zu versorgen? Der Nachteil an »falschen Wochenenden« war offensichtlich: Kaum jemand hatte sonntags und montags Zeit, Lust oder Reserven, um mit Tom zu feiern. Bis auf die üblichen Verdächtigen und einige Kellnerkollegen war die Stadt an diesen Tagen wie ausgestorben. Das Ausgehverhalten der Menschen hatte sich seit der Dauerwirtschaftskrise geändert. Herdentiere und Amateurtrinker feierten nur noch an Wochenenden. Selbst der Donnerstag war wieder zum Herrentag geworden. Sonntag nach zehn war die Hauptstadt Österreichs menschenleer. Die Ausgehgewohnheiten der Wiener kannte Tom seit seinem Quereinstieg in die Gastronomie genau. Die Trinkgewohnheiten seiner Gäste zu studieren, gehörte zu seinen Berufspflichten.

    Das Husten und Keuchen gehörten Willi, einem ebenfalls langjährigen Kunden. Willi arbeite als Beamter im Wiener Landesarchiv, war 60 und wartete auf seine Frühpensionierung. Tom hatte ihn beim Arbeiten kennengelernt. Gelegentlich tranken sie gemeinsam Kaffee und unterhielten sich über die richtige Pflege und Wartung von Kaffeemaschinen. Willi quatschte die meiste Zeit, ohne ihm richtig zuzuhören. In den Archiven des Wiener Magistrats verbrachte er zu viel Zeit allein und vernachlässigte als Junggeselle seinen Bekanntenkreis. Der komische, mit seinen strähnigen Haaren leicht verwahrlost aussehende Archivar brauchte hie und da eine Ansprache. Wenn er Tom nicht an seinem Arbeitsplatz besuchte, läutete er spontan und unangemeldet an seiner Wohnungstür. Er kaufte fünf Gramm, erzählte ein paar Nichtigkeiten aus seinem Alltag und verschwand. Willi kaufte nur Gras, um mit Tom zu quatschen. Rauchen sah er ihn nie. Kaum hatte er Willi versorgt und abgewimmelt, läutete es erneut. Der allgemeine Notstand schien ausgebrochen! Sein kleiner Nebenerwerb war nicht planbar. Wann und warum Kunden Lust auf eine Extraportion Gras verspürten, entzog sich selbst Toms ausgeklügelter Warenwirtschaft. Seine Sorge verflog erst beim vertrauten Klang hochhackiger Schuhe. Barbara hatte neben ihrem Handy auch ihren Schlüssel vergessen, das passierte ihr gelegentlich. Bevor sie ihn küsste, öffnete sie den Kühlschrank und schnappte sich eine Dose Bier. Bei ihrer Trinkerei machte sie keine Kompromisse. Sie trank drei große Schlucke, zügig und voller Genuss. Ihr Arbeitstag musste hart gewesen sein. Barbara drehte sich zu Tom und hob den Deckel des Kochtopfs.

    »Bist bald fertig? Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Du, heute ist eine Goa-Party. Hat mir meine Schwester geschrieben. Reggae-Nacht im Fluc mit Augustus Pablo gäb’s auch noch.«

    Ihre Augen lachten erwartungsfroh. Feiertechnisch konnte sich Tom nicht beschweren. Obwohl schon 32, zeigte Barbara noch keine Spuren von Partymüdigkeit. Bei der Freizeitgestaltung stimmten ihre Vorlieben – bis auf vernachlässigbare musikalische Differenzen – völlig überein. Tom klapste ihr auf den Hintern.

    »Klar gehe ich mit. Ich hab frischen Speck. Morgen spritzt du die Arbeit. Deine Regelschmerzen quellen dir förmlich aus den Augen.«

    Barbara aß einen gehäuften Teller Puttanesca und trank ein zweites Bier. Als Nachspeise servierte Tom zwei Straßen Speed mit zwei abgeschnittenen Strohhalmen. Der blaue für Tom, der rosafarbene für Barbara. Speck, die einzige gute Nazi-Erfindung, das Geschenk findiger germanischer Chemiker an die Menschheit. Von allen Drogen, die er nahm, war ihm arbeitsbedingt nach Gras und Alkohol, Speed die Drittliebste. Für seine Schicht musste er sich manchmal wachdopen. Er fragte sich, warum in Wien Speed alle »Speck« nannten, denn fettig war nichts daran. Weniger stark als Crystal, leistbarer und weniger aufgeblasen als Kokain und festlich-feierlicher als die Alltagsbegleiter Nikotin, Gras und Alkohol. Nach einer Line konnte er klar denken, ruhig und emotionslos über sich und sein Leben reflektieren, trinken, ohne betrunken zu werden, stundenlang ficken, ohne zu kommen und problemlos durchfeiern. Speed überlistete sein biologisches Alter. Tom war Humanist. Er setzte die Droge nur zur Ausdehnung gelungener Feiern und nicht für Endlösungen ein. Er zündete sich eine Gitanes an und Barbara legte ihre Beine auf seinen Schoss. Er streichelte ihre makellosen Oberschenkel, auf die er so abfuhr. Diese Beine waren unbezahlbar, wie er ihr immer wieder versicherte.

    »Arg, nur mehr Budweiser und Pilsener Urquell gibt es unter einem Euro in der Dose im Supermarkt, zumindest von den Trinkbaren«, sagte Tom. Er war kein nur der exklusiven Handwerkskunst von Kleinbrauereien verpflichteter Biersnob, Sammler oder Sommelier, er trank nicht nur spontan vergorene belgische Hefen, aber er war Kenner, besaß Berufsstolz und Geschmack. Kaiser, Schwechater und andere Industriebiere verweigerte er.

    Auf Goa-Partys hatte Tom nach weiteren sechs Bieren keine Lust mehr. Sie tranken und unterhielten sich ohne Musikuntermalung. Tom besaß eine ansehnliche Plattensammlung, nur streikte sein Verstärker. Bei seinem Arbeitspensum fand er nie Zeit, Sachen reparieren zu lassen. Da Barbara jedoch nur Reggae hörte, störte ihn auch die kaputte Anlage nicht. Tom hatte früher gerne Musik gehört. Durch die Jahre hinter der Bar, ständig einem unerträglichen Geräuschpegel und dem Geschnatter der Gäste ausgesetzt, lernte er Ruhe zu schätzen. Barbara wollte aber Musik hören, um in Partystimmung zu kommen. Sie ging ins Schlafzimmer und holte ihren Laptop, um mit zwei angesteckten Miniboxen dünnen Sound zu erzeugen. Tom seufzte gleichgültig. Dann tranken sie weiter und um zwei kam ihnen die grandiose Idee, auf einen Absacker im Fluc vorbeizuschauen…

    Bis zum Aufbruch ins Fluc konnte sich Tom minutiös, aber nicht wörtlich an alle Details jener Nacht erinnern. Aber das war es dann auch schon. Tom hatte keine Ahnung vom Ende der Nacht. Er hatte Bier und Whiskey getrunken, wahrscheinlich mit Barbara gestritten, am Praterstern einen Freak getroffen und mit diesem weitergefeiert. Wo und wie die Nacht zu Ende gegangen war, fiel ihm nicht mehr ein. Die Schramme auf seiner Nase war der einzige optische Hinweis

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