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Die Wunderzelle: Ein Schicksalsroman
Die Wunderzelle: Ein Schicksalsroman
Die Wunderzelle: Ein Schicksalsroman
eBook277 Seiten3 Stunden

Die Wunderzelle: Ein Schicksalsroman

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Über dieses E-Book

Die Wunderzelle erzählt die bewegende Geschichte von Katharina und Enno. Das junge Paar wünscht sich sehnlichst Kinder. Doch Katharina erleidet eine Fehlgeburt nach der anderen. Eine genetische Untersuchung des Fötus deutet schließlich auf eine schier unglaubliche Ursache hin: Die Kindseltern sind vermutlich verwandt miteinander. Katharina und Enno können es nicht fassen. Fieberhaft machen sie sich auf die Suche nach der Wahrheit.
Zur gleichen Zeit ist Ennos Schwester Lara einem obskuren Biologen auf der Spur. Die Gynäkologin stößt auf dubiose Machenschaften und allerlei mysteriöse Ungereimtheiten im Labor eines Kinderwunschzentrums. Und auf eine Mauer des Schweigens. Was steckt dahinter? Und wer sind die Beteiligten? Sind Machtgelüste der Grund für die Manipulationen? Ist es Geldgier oder purer Geltungsdrang? Und hat das am Ende etwas mit der Verwandtschaft zwischen Enno und Katharina zu tun? Schließlich kommt alles ans Licht. Die Hintergründe sind ungeheuerlich. Verstörend und erschütternd zugleich.

Darüber hinaus beleuchtet Die Wunderzelle das Schicksal von Paaren, die ihre ganze Hoffnung in die Reproduktionsmedizin setzen. Auf diese Weise verleiht der Roman all jenen eine Stimme, die sich mit ihrer Kinderlosigkeit nicht abfinden wollen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Jan. 2019
ISBN9783837221893
Die Wunderzelle: Ein Schicksalsroman

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    Buchvorschau

    Die Wunderzelle - Dr. Rainer Rau

    Rainer Rau

    Die Wunderzelle

    Schicksalsroman

    AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

    FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

    Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.

    Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

    ©2019 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

    Ein Unternehmen der

    FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE GMBH

    Mainstraße 143

    D-63065 Offenbach

    Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

    E-Mail lektorat@frankfurter-literaturverlag.de

    Medien- und Buchverlage

    DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

    seit 1987

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

    Websites der Verlagshäuser der

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    www.frankfurter-verlagsgruppe.de

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    www.weimarer-schiller-presse.de

    www.deutsche-hochschulschriften.de

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    www.haensel-hohenhausen.de

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    Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

    Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorgehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

    ISBN 978-3-8372-2189-3

    Vorwort

    Welche Möglichkeiten gibt es? Wo sind die Grenzen? Wo lauern gar Gefahren? In diesem Spannungsfeld bewegen sich Mediziner auf der ganzen Welt. In jedem Zeitalter gab es stets ganz spezielle Herausforderungen zu meistern. Und jeder wissenschaftliche Teilbereich hat seit jeher eigene Problemstellungen und Gesetzmäßigkeiten. Doch kaum irgendwo ist das ethische Limit wohl schneller erreicht, als auf dem Gebiet der modernen Gentechnologie, beziehungsweise in der Reproduktionsmedizin. Was, wenn innerhalb des komplexen Ablaufs einer Fruchtbarkeitsbehandlung Standards nicht eingehalten werden – aufgrund mangelnder Professionalität, aus den diversesten persönlichen Gründen oder aus purer Profitgier? Welche Folgen hätte beispielsweise die artifizielle Verwechslung von Eizellen oder Embryonen? Was, wenn daraus Geschwister entstünden, von verschiedenen Müttern ausgetragen? Geschwister, von denen niemand weiß? Schon gar nicht sie selbst? Was, wenn Bruder und Schwester, die nichts von ihrem Verwandtschaftsverhältnis ahnen, miteinander ein Kind zeugen wollen?

    Was passiert, wenn …? Das ist eine Frage, die mich umtreibt, seit ich vor mehr als 20 Jahren in Aalen eine Kinderwunsch-Klinik gegründet habe. Zudem ist mir während dieser Zeit bei meiner täglichen Arbeit so viel Schönes, Schmerzliches, Skurriles und auch schier Unglaubliches begegnet, dass in mir nach und nach der Wunsch reifte, über all das zu schreiben – natürlich, ohne gegen das Ärztegeheimnis zu verstoßen. Von Anfang an schwebte mir das literarische Genre der Belletristik vor. Unterhaltsam und informativ zugleich.

    Dass es schließlich möglich war, Die Wunderzelle zusammen mit einer Journalistin zu verwirklichen, die sich selbst bereits mehreren Kinderwunschbehandlungen unterzogen hatte, kann ich nur als glückliche Fügung bezeichnen. Niemand anderes als eine Betroffene wäre besser in der Lage gewesen, sich in die Gefühlswelt der Protagonisten hineinzuversetzen. In all die Höhenflüge und Abstürze – eine rasante Berg- und Talfahrt zwischen Euphorie und Resignation. Und in einen Behandlungsverlauf, der per se einen immensen Kraftakt darstellt. Emotional, aber auch körperlich. Vom Finanziellen ganz zu schweigen.

    Und genau diesen Menschen widme ich das vorliegende Buch: meinen Patientinnen und Patienten samt ihren Partnern. Ihnen allen gebührt mein größter Respekt. Nicht nur, weil sie, meist ohne zu zögern, dazu bereit sind, ihre gesamte Alltagsplanung den oft zeitraubenden klinischen Erfordernissen anzupassen. Sondern auch, weil sie darüber hinaus in ihrem privaten Umfeld häufig auf Unverständnis stoßen, sogar mit Anfeindungen zu kämpfen haben. Und sich dennoch nicht von ihrem Weg abbringen lassen.

    Ein Grund mehr, dieses Werk zu veröffentlichen: Mir liegt viel daran zu zeigen, welche Schicksale sich hinter den Patientenakten verbergen und möchte gerne all jenen die Augen öffnen, die nicht nachvollziehen können, dass man für die, wie sie meinen, natürlichste und einfachste Sache der Welt, medizinische Hilfe benötigt. Die in kursiver Schrift gesetzten, in den Gesamtverlauf eingeflochtenen Kapitel beleuchten die ganz individuelle Situation von Paaren, die Probleme mit dem Schwangerwerden haben und machen deutlich, was Menschen auf sich nehmen in der Hoffnung, am Ende etwas Großartiges zu erleben: das Wunder der Geburt und das tiefe Gefühl der Liebe zum eigenen Kind – die vielleicht intensivste Empfindung, zu der wir fähig sind.

    Aber nicht zuletzt soll das Lesen der Wunderzelle Spaß machen. Denn in erster Linie handelt es sich dabei um eine spannende Story. Und die vielen kleinen, italienischen Momente in der Erzählung sind meiner besonderen Leidenschaft für die mediterrane Kultur geschuldet. Auch die Religion, die Kunst und die Musik haben mich seit jeher berührt und inspiriert und deshalb genügend Raum erhalten – in einem Roman, der so viele Parallelen zu meinem eigenen Leben aufweist.

    Rainer Rau im Januar 2019

    Anmerkung des Autors: Obwohl die Geschichten auf wahren Begebenheiten beruhen, ist alles, was in diesem Buch erscheint, reine Fiktion. Das, was mir meine Patientinnen und Patienten im Vertrauen mitteilen, ist und bleibt geheim und wird niemals, unter keinen Umständen nach außen kommuniziert.

    1

    Die Sonne sticht gelbe Schwerter in die vom muffigen Kaffeedunst erfüllte, warme Luft. Enno verfolgt mit müden Augen Flusen und Staubkörner, die in den schillernden Lichtbahnen über dem hölzernen Tresen der kleinen Bar hüpfen und tänzeln. Im Kreis. Auf und ab. Hin und her. Wie um ihn aufzumuntern. Ohne Erfolg. Seine Lider sind geschwollen und schwer.

    Es ist früh am Morgen. Das Caffè Greco hat gerade eben erst geöffnet. Enno ist der erste Gast. Er hat schlecht geschlafen. Wie so oft in letzter Zeit. Unter größter Anstrengung gelingt es ihm, den Blick auf die mit kitschigen Engelsbildchen verzierte Tasse zu lenken, die dicht vor seinem aufgestützten Unterarm steht. In brennendem Rot ziehen sich feine Wellenlinien am oberen Rand entlang. Enno hebt die zentnerschwere rechte Hand und rührt dann in Zeitlupentempo mit dem kleinen Silberlöffel in der schwarz glänzenden Flüssigkeit. Dabei beobachtet er, wie sich eine Kette zarter Bläschen in einer schlingernden Bewegung über die Oberfläche zieht. „Wetten, dass die Crema zu dünn ist? Während Enno noch griesgrämig die Farbe des Kaffeeschaums betrachtet und darüber nachsinnt, ob das sandige Grau auf die mangelnde Frische der Röstung oder eher auf eine zu geringe Brühtemperatur bei der Zubereitung zurückzuführen ist, spürt er einen dumpfen Schmerz. Mit nachhaltigem Druck bohrt sich ein fremder Ellbogen in seinen Oberarm. „So ein Mist. Enno hat keine Lust auf ein Gespräch. Zu spät. Holpriges Italienisch drischt auf ihn ein. Sätze ohne Punkt und Komma. Über die weltpolitische Lage im Allgemeinen. Und die allzu nachlässige mediterrane Lebensart im Besonderen.

    Enno beobachtet seinen Nebenmann aus den Augenwinkeln. Modell deutscher Tourist. Viel zu weite Shorts. Am Bund mit einem abgeschabten Gürtel zusammengezogen. Und weiße Socken in ausgetretenen Riemensandalen. Ennos Laune sinkt dem Tiefpunkt entgegen.

    Vom Eingang her schallt ein munteres „Buon giorno durch den Raum. Enno dreht den Kopf. In der Tür steht ein dunkelhaariges Mädchen mit Pferdeschwanz, vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht auch erst achtzehn. Ihre weißen Zähne strahlen. Sie winkt dem Mann, der weiter hinten an einem Regal steht und Flaschen sortiert. „Guten Morgen. „Nichts ist gut an diesem Morgen", murmelt Enno verdrossen.

    Selbst sein Lieblingskellner Giovanni, der Enno das morgendlich aufmunternde Getränk bisher stets in vorgewärmten Tassen serviert hat, ist heute seltsam abweisend. Und irgendwie frostig. Kalt wie der Espresso, der eigentlich ein Doppio, ein Doppelter, hätte sein sollen. Alles, aber auch wirklich alles hat sich gegen ihn verschworen, da ist sich Enno mittlerweile hundertprozentig sicher.

    Wie ärgerlich. Ist er doch nach Salerno gereist, um zu vergessen und wieder auf andere Gedanken zu kommen. Vermutlich ein Fehler. „Den wunderschönsten Fleck auf Erden", haben sie die Amalfiküste immer genannt und dabei stets ein bisschen gegrinst, weil sie die Beschreibung so gefühlsduselig fanden. Aber es ist stets ihr Sehnsuchtsort gewesen, an den sie bei allen möglichen Gelegenheiten immer wieder zurückgekehrt sind: an den Geburtstagen, an ihrem Jahrestag. Einmal sogar über Weihnachten. Ein bisschen kühl und regnerisch ist es gewesen, aber, angesichts der tosenden, weiß bespritzten Wellen, dennoch ausgesprochen malerisch und von wildromantischer Stimmung.

    „Doch das ist jetzt vorbei. Enno ignoriert den erstaunten Augenaufschlag seines Sitznachbarn, springt mit einem entschlossenen Satz vom Barhocker, wirft einen Geldschein auf die Theke und verlässt mit schnellen Schritten den Raum. Er setzt einen Fuß nach draußen. Die gleißende Helligkeit spiegelt sich in den marmornen Platten der Piazza. Enno bleibt mit einem Ruck stehen und kneift krampfartig die Augen zusammen. Es dauert eine Weile, bis er wieder klar sehen kann. Dann biegt er um die Ecke und geht die dunkle, enge Gasse hinunter. Auf dem Weg zum Bootssteg dröhnen ihm die verletzenden Worte Gerards in den Ohren. Immer noch. Er kann sie nicht vergessen: „Du bist zu unzuverlässig, du bist zu chaotisch, nie bist du für mich da.

    Dabei war der Anfang so vielversprechend gewesen: Auf der Geburtstagsfeier einer gemeinsamen Freundin hatten sie sich ineinander verliebt. Er, der kreative Maler, und Gerard, der stets korrekte Banker mit einem ausgesprochenen Hang zur Pedanterie. Drei Jahre lang ein Paar wie Blitz und Donner. Zu Beginn waren es gerade die Unterschiede gewesen, die sie am jeweils anderen faszinierend fanden. Doch irgendwann war Gerard offensichtlich nur noch genervt von einem Partner, der in Gedanken immer ein wenig abwesend wirkte, weil dieser unablässig an seine geliebten, vom Expressionismus inspirierten Bilderzyklen dachte, an denen er fast Tag und Nacht arbeitete.

    „Vorbei, vorbei, skandiert Enno im Takt seiner Schritte. Jetzt kann ihm nur noch ein Besuch in Axel Munthes Refugium helfen. Seit er denken kann, ist der 1949 verstorbene Mediziner und Künstler sein großes Vorbild – ein Meister der Selbstinszenierung und des Savoir-vivre zugleich. Auf Capri hat er sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Haus gebaut, „San Michele. Eine Villa mit einem atemberaubenden Ausblick über die Insel und den Golf von Neapel: „Offen für Licht und Sonne und die Stimme des Meeres. So hat es Munthe in seiner Biografie einmal selbst beschrieben. In letzter Minute erreicht Enno das Boot. Er setzt sich auf die in düsterem Petrol lackierten Planken und blickt zurück auf das sich entfernende Ufer. Die pittoresken, pastelligen Häuser, die an den schroffen Felsen zu kleben scheinen wie Schwalbennester, schrillen heute im grellen Licht der Morgensonne in schreiendem Pink, phosphoreszierendem Grün und beißendem Gelb. „Als hätten sie angesichts ihres hohen Alters zu viel Make-up aufgetragen.

    Enno wendet den Blick ab und starrt auf die Reling, aus deren schmutzig weißem, von dunklen Sprüngen durchzogenen Anstrich über die gesamte Fläche dicht an dicht dicke, schwarze Rostbeulen sprießen. Eine Gruppe von etwa zehn Kindern macht sich einen Spaß daraus, über Ennos ausgestreckte Beine zu springen. Immer wieder. Sie hören nicht auf, herumzualbern. Ihr lautes Lachen verbindet sich mit dem Schreien der Möwen zu einer unerträglichen Kakofonie. Enno ist froh, als die kleine Fähre am Landesteg anlegt. Er springt pfeilschnell auf und quetscht sich zwischen den anderen Passagieren hindurch, um als einer der ersten von Bord zu kommen .

    Er flüchtet in das schmale Sträßchen, das nach Anacapri, zur Villa „San Michele" hinaufführt. Die Morgenluft ist eisig. Enno würdigt die schmucken Häuser und mediterranen Vorgärten keines Blickes. Bloß weg von der lärmenden Touristenmeute, weg von den hupenden Taxis und den nach Abgasen stinkenden Bussen, weg von den Geschäften mit dem überteuerten Schnickschnack, weg von den überfüllten Barken, die zur Blauen Grotte fahren, und weg von den Einheimischen mit den Dollarzeichen in den Augen.

    Oben ersteht Enno eine Eintrittskarte. Ein kleines, blaues Rechteck aus Pappe, das er der freundlich lächelnden Verkäuferin mit der kupferfarbenen Klammer im zurückgebundenen Haar aus den Händen reißt, um so schnell wie möglich in das wohltuende Halbdunkel des alten Hauses eintauchen zu können. Doch erst als Enno das von fast unwirklichem Dämmerlicht erfüllte Atrium erreicht und vor dem großen, einladenden Esstisch steht, wird sein Atem ruhiger, gleichmäßiger.

    Zärtlich fahren seine Finger über die samtig raue Eichenholzoberfläche. Erinnerungen steigen in ihm hoch. An Apfelkuchen mit dicken Streuseln samt Schlagsahneklecks. An aromatisch duftende Choucroute aus dem Schmortopf. Und an fröhlich laute Familienfeste. Er denkt an die Großmutter, an ihre liebevollen Gesten und daran, dass die Grand-Mère immer ein aufmunterndes Wort für ihn parat gehabt hat, selbst wenn das Zeugnis einmal nicht so gut ausgefallen war, wie sein strenger Vater es erwartete. Da kommen ihm fast die Tränen.

    „Mensch, reiß dich mal zusammen." Enno spricht laut mit sich selbst. Erst jetzt bemerkt er, dass er nicht alleine ist. Am Fenster stehen zwei Frauen, die sich leise unterhalten. Auf Deutsch, wie er zu erkennen glaubt.

    Da wird ihm klar, woher seine Assoziationen kommen. Der sanfte Singsang des Dialekts erinnert ihn an das kleine Dorf im Elsass. An das urige Häuschen der Großeltern, in dem in den Ferien die ganze Verwandtschaft zusammenkam und wo stets der Geruch nach krossem Speck und das belebende Aroma von sonnenverwöhntem Obst in der Luft lagen.

    Vorsichtig tritt Enno näher und mustert die beiden. Die eine trägt knielange Shorts und ein rot geringeltes Top, einen sportiven dunklen Hoody lässig über die Schultern geworfen, dazu Chucks in edlem Silbergrau. Die blonden Haare sind hinten locker zum Zopf gebunden. Enno schätzt sie auf Mitte zwanzig, ungefähr wie er selbst. Die andere, um einiges älter, ist eher stilvoll als trendig gekleidet. Der Ähnlichkeit nach zu urteilen, ihre Mutter.

    Von Weitem ist Musik zu hören – getragen, wohlklingend. Zu den Flötentönen gesellen sich Klavierakkorde. Jetzt wenden sich die beiden Unbekannten dem Gartenausgang zu. Enno folgt ihnen, wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen.

    Draußen empfängt ihn saftiges Grün in allen Schattierungen von Schilf bis Smaragd. Ein alter Olivenbaum breitet armdick mächtige Äste aus. Die Melodie ist jetzt deutlich zu erkennen. Sie scheint aus der kleinen Kapelle zu kommen. Johann Sebastian Bach. G-Moll. Eine der Lieblingssonaten von Sophie, seiner hochmusikalischen Mutter. Zarte, flüssige Läufe, technisch virtuos und lyrisch zugleich. Balsam für Ennos verwundete Seele. Dann steigert sich das behutsame Adagio zum rasanten Allegro.

    Die junge Frau steht mittlerweile direkt vor ihm. Sie dreht sich um und blickt ihn an. Mit fragend erhobenen Augenbrauen. Enno wendet sich sofort ab, wie ein Kind, das bei einer verbotenen Tat erwischt worden ist. Doch der Bruchteil einer Sekunde hat ausgereicht, um ihre makellose Haut zu bewundern sowie den leichten Duft einzuatmen, der ihrem schlanken, athletischen Körper entströmte. Ein Geruch nach blühenden Gräsern und nach etwas Herb-Würzigem wie warmer Sommerregen.

    Ein ferner Glockenschlag reißt Enno unsanft aus seinen Träumereien. Er muss das nächste Boot zum Festland erreichen. Er hat in einer Trattoria einen Tisch bestellt. Und er will sich nie mehr vorwerfen lassen, unzuverlässig zu sein. Dennoch kann er sich kaum losreißen. Vom Garten und vor allem von der jungen Frau. „Wer ist sie?, ist alles, was Enno auf dem Rückweg denken kann. Und schließlich: „Ich muss sie wiedersehen.

    Zurück auf dem Festland, steigt Enno den Berg hinauf, wo er eine kleine Ferienwohnung gemietet hat. Die Gassen und Plätze sind um diese Zeit am späten Mittag gut besucht. Die Kellner ziehen mit hocherhobenen, angewinkelten Armen vorbei. Auf den flach ausgestreckten Händen thronen wagenradgroße Pizzafladen, die über den Sitzenden zu schweben scheinen wie bunte Sonnenhüte.

    Er setzt sich in der kleinen Trattoria ganz nach hinten, gleich an die große Fensterfront. So weit hinten würde er nicht so schnell bedient werden und kann die Geschehnisse des Tages im Geiste Revue passieren lassen. Er versucht, sich an die Musik zu erinnern, an die Hochbeete und Springbrunnen des Gartens, an die kleinen, dunklen Räume mit den Kupfertöpfen, Pfannen und Kuchenformen aus einer anderen Zeit. Aber seine Gedanken schweifen ab, drehen sich im Kreis und kehren wieder und wieder zum Ausgangspunkt zurück: „Ich werde sie nie wiedersehen."

    Der Himmel verdunkelt sich, blauschwarze Wolken hängen dicht über den geduckten Steinhäusern. Ein paar dicke Tropfen klatschen aufs Pflaster und trommeln auf die ausgefahrenen Markisen. Jetzt kommt der junge, adrette Kellner und bringt ihm die Pasta. Lange Nudelfäden schlingen sich um feuerrote Tomatenstücke, um fleischige Oliven und kissenweiche Kapern. Es schmeckt nach Sonne, Meer und nach purer Lebenslust. Das Gewitter verzieht sich so schnell, wie es gekommen ist, und Enno bestellt erst einen und dann noch einen zweiten Espresso. Schließlich beschließt er, noch einmal ans Meer zu gehen. Er steigt die Gasse wieder hinunter, in der jetzt ein modriger Dunst hängt, der tief aus dem Erdinneren zu quellen scheint. Er überquert den Küstenweg und krempelt die Hosenbeine hoch. Dann zieht er die Schuhe aus, knotet sie an den Bändeln aneinander und trägt sie in der rechten Hand wie eine Tasche. Die Wellen legen sich wie feine Seidengespinste über den verheißungsvoll glitzernden Sand und knabbern begehrlich an seinen Zehenspitzen. Der Strand ist um diese Zeit am frühen Nachmittag fast menschenleer. Enno stapft mit großen Schritten durch den glitschigen Schlick, bis er an eine schwer zugängliche, von Fels und Grasnarben übersäte Stelle kommt. Dort setzt er sich in den mageren Schatten eines dürren Baumes, legt den Kopf zurück und schläft sofort ein.

    Als Enno erwacht, steht die Sonne tief und glutrot über den Wellen. Er geht zurück, die Augen verquollen, die Zunge wie von Schmirgelpapier überzogen. Er bahnt sich einen Weg durch Bocciaspieler und am Meer entlangtrabende Läufer und steigt zwischen den düsteren Mauern mit den geschlossenen Fensterläden wieder hinauf. Die Steinquader atmen unter dem bröckelnden Putz inzwischen die Schwüle des Tages aus.

    Im kühlen Zimmer seiner Ferienwohnung lässt sich Enno in den mit einer plüschigen Decke in bräunlichem Goldton überzogenen Sessel fallen und greift nach der Nektarine, die achtlos auf dem Holztisch liegt. Vor zwei Tagen hat er die Frucht an einer windschiefen Holzbude unten am Wasser gekauft. Seine Zähne bohren sich durch die dellige Haut. Enno nimmt die verlockende Süße der Frucht wahr, noch ganz hinten, dort wo er das Gaumensegel vermutet. Er spürt die leichte Säure am ganzen Körper, bis in die Spitzen seiner aufgerichteten Härchen. Während er langsam und bedächtig kaut, jedem Bissen nachfühlend, läuft ihm der zähe, sirupartige Saft aus den Mundwinkeln, sammelt sich im Kinngrübchen und tropft als kerzengerade Perlenschnur zwischen seinen gespreizten Beinen auf die blutroten Terrakottafliesen, wo die klebrige Flüssigkeit zu schlangenförmigen Ornamenten zerfließt. „Eine Nektarine, dass eine Nektarine so köstlich schmeckt." Das ist ihm früher nie aufgefallen. Er nagt das letzte Stückchen Frucht vom Stein, klemmt den noppigen Kern zwischen Daumen und Mittelfinger und wirft ihn draußen, weit ausholend, mit ausgestrecktem Arm über die Balkonbrüstung. Mitten ins wirre Gestrüpp eines Bougainvillea-Strauches, der sich am benachbarten Haus emporrankt, als habe er vor, die Spitzen seiner pinkfarbenen Blüten ins Azurblau des Himmels zu rammen. Völlig erschöpft sinkt Enno drinnen

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