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Abwärts leben: – ein Weg in die Abhängigkeit
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Abwärts leben: – ein Weg in die Abhängigkeit
eBook743 Seiten10 Stunden

Abwärts leben: – ein Weg in die Abhängigkeit

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Über dieses E-Book

Was macht einen Alkoholiker? – Die Frage lautet bewusst nicht: Was macht einen Alkoholiker aus?
Denn Alkoholismus ist nicht, was es auf den ersten Blick zu sein scheint: Ein Leben an der Flasche, ein Leben außer Selbstkontrolle. Alkoholismus ist nicht bloß das einsame Leben an der Flasche. Es ist viel umfassender: ausgeliefert sein, einstecken – schlucken.
Wie geht das vonstatten – zwischen Tragik und Groteske – so ein Scheitern? Nicht erst am Alkohol, sondern schon am Leben?
„Finley“ nennt der Autor diesen Sohn einer deutschen Soldatenwitwe und eines britischen Besatzungssoldaten. Denn der Betreffende wollte anonym bleiben. Finleys Biografie ist kein Bericht über einen, der am Abgrund lebt, darbt, vor sich hin vegetiert. Kein Bericht von einem, wie er vom Alkohol abkommt – oder darin umkommt.
Diese Biografie ist die Geschichte einer Gefangennahme: Eines Weges in die Abhängigkeit hinein. Mit dieser Biografie zeichnet der Autor eine Zermürbung nach: Die Erschaffung einer Abhängigkeit, wo Unabhängigkeit nicht erlangt wurde.
Wie beiläufig bietet der Autor uns auch einen zynischen Blick auf die Gesellschaft.
Die Tragik jenes Lebens bleibt dem Alkoholiker – die Komik bietet uns der Autor. Denn die Lust am Formulieren lässt der Autor sich so wenig nehmen wie seinen Anspruch, den Leser auf seine Weise zu unterhalten. Dennoch, an keiner Stelle bekommt der Leser eine schnöde oder lästerliche Klamotte geboten, sondern der Autor wird dem Ernst seines Themas an jeder Stelle gerecht.
Mit einfühlsamer und schonungsloser Nähe, der ihm eigenen Lust an virtuoser Wortkunst, in häufig schockierend plastischer Weise kriecht der Autor nicht nur Finley unter die Haut, sondern auch manch anderem.
Fast beiläufig wirft der Autor auch Schlaglichter auf ein gutes Stück deutscher Geschichte, verliert sich jedoch nicht in themenfremden Betrachtungen.
Der Autor richtet sich mit seinem Werk nicht nur an Betroffene, denen er eine Fläche zur Selbstreflexion bieten möchte. Sondern er richtet sich auch an Jugendliche und junge Erwachsene, die darin vielleicht den einen oder anderen Weckruf finden mögen, ehe sie selbst einer Zwangsläufigkeit erliegen… Nicht weniger wendet der Autor sich dringlich an Außenstehende. Seien es nun Angehörige oder Freunde, die mit gebotenem Abstand einen Zugang zu einer ihnen nahestehenden Person finden möchten. Seien es Sozialpädagogen, Therapeuten oder Ärzte, die nach Verständnisgrundlagen jenseits der bloßen Theorie suchen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Juni 2016
ISBN9783741257506
Abwärts leben: – ein Weg in die Abhängigkeit
Autor

Gerhard Ochsenfeld

Als Quereinsteiger geht der Erfinder und Autor ganz unvoreingenommen an die Raumakustik heran - vor allem aber mit dem ihm eigenen Blick auf die Dinge: Mit einer gewissen Skepsis als stetem Begleiter, sind ihm sachliche Widersprüche eher ein Ausdruck von Mangel - und nicht hinnehmbar. Insbesondere jedoch ist seine Herangehensweise an die Akustik geprägt von der Blickrichtung und dem Leidensdruck derer, die der ganz besonderen Klarheit des gesprochenen Wortes bedürfen. Diese Art, niemals mit engem Fokus an seine Themen heranzugehen, kennen wir auch bereits von seinen bisherigen Publikationen.

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    Buchvorschau

    Abwärts leben - Gerhard Ochsenfeld

    Mein Dank gilt Michael, der mir wichtige Kritik geboten hat und mit dessen Unterstützung am Ende aus meinem Manuskript ein Buch werden konnte.

    Meinen größten Dank widme ich jenem Mann, den ich Finley nenne, der dieses Leben gelebt hat – der dieses Leben vor mir ausgerollt und mir erlaubt hat, darüber zu schreiben.

    Es war dessen ausdrücklicher Wunsch, unerkannt zu bleiben, weshalb ich das gesamte Werk anonymisiert habe. Personennamen sind fiktiv gewählt, Ortsnamen ebenso, wenn sie zu viel Aufschluss geboten hätten, oder ich habe Ortsnamen ganz ausgelassen.

    Gerhard Ochsenfeld, 2016

    Ein kühnes,

    manchmal geradezu waghalsiges

    Trotzdem

    ist das vermutlich erfolgreichste Lebenskonzept…

    Inhaltsverzeichnis

    Vorworte

    Vater

    Der stinkende Atem des heimtückischen Todes

    Ein wildes Tier bleibt selbst der zahme Löwe

    Kindheit

    Ohne Willkommen

    Von großen und von kleinen Verlusten

    Tage der Freude und des Feierns

    Reisen in neue Welten

    Kleine Lehre vom Komplemantärkontrast

    Wurzeln

    Frühe Balz

    Anstelle einer Rebellion

    Jugend

    Ränge und Rivalen

    Dem Gefängnis entfliehen nur die Träume

    ... und verharrte in hilflosem Taumeln zwischen Soll und Sein

    Die Flucht

    ... als müsse nicht ertrinken, wer vor dem Schiffbruch zu trinken lernt

    ... wie ein Engel des Friedens

    Auf seltsamen Lehrpfaden

    Metamorphose eines Rendezvous

    Zweite Heimat

    Die liebliche Spiegelung auf dem Wasser des Brunnens verbirgt nur dessen Tiefe

    Richtungslos, in irrer Flucht gehetzt, schließt sich der Kreis

    Angewandte Geometrie: Leben im Dreieck

    Die volle Breitseite – oder nur ein Warnschuss?

    Wieder daheim

    Über die Kunst, eine Dame zu begeistern

    Ein Verlust

    Happy New Year

    Ein merkwürdiger Geburtstag

    Ein Haus

    Freude durch Arbeit

    Trotzdem

    Ein feierlicher Anlass

    Alles hat zwei Seiten

    Knapp verfehlt ist auch daneben

    Ganz der Alte

    Dämonen

    Unerwachsen

    Hochzeit ist nicht gleich Hochzeit

    Endlich verheiratet

    Nachholbedarf

    Vielerlei Wege, zu schlucken

    Ein Loch im Bewusst-Sein

    Alles beim Alten

    Von der Geometrie des Kreises

    Überraschungen

    Hoffnungsläufe

    Ein Licht am Ende des Tunnels

    Neustart

    Hinweise in eigener Sache

    Vorwort

    (zur ersten Auflage)

    Die Gesellschaft verlangt Mittelmaß. In allem und von jedem. Mehr oder minder extreme Formen der Lebensgestaltung werden bewundert wie auch gefürchtet – häufig sogar in ein und derselben Person.

    Alkohol ist nur ein Beispiel unter vielen – legal oder illegal – zugänglichen Rauschmitteln. Aber genau an diesem Beispiel lässt sich der Zwang zur Mittelmäßigkeit recht gut veranschaulichen:

    Wer schon zum Frühstück etwas anderes trinkt als Kaffee, wird skeptisch beäugt; den Tee-Trinker duldet man noch so gerade. Wer um 10:00 Uhr beim Empfang von Geschäftsfreunden oder beim „Prost auf den Geburtstag des Kollegen oder des Chefs den Sekt verweigert (und mit vorgetäuschter Begeisterung am Orangensaft nippt, der ja als anstandshalber angebotener Ersatzstoff etabliert ist), der kassiert gerümpfte Nasen oder abfällig Mitleid geschwängerte Blicke. Dem zum Trotz ist Alkohol am Arbeitsplatz natürlich grundsätzlich tabu! In der Mittagspause darf es auch mal ein Bier zum Essen sein. Zumindest nach Feierabend – aber noch im Betrieb oder der Behörde – darf man mal locker mit Sekt, Bier oder Wein anstoßen auf den feierlichen Anlass. Und wer sich dann noch immer verweigert, der übertreibt es gehörig mit dem Grundsatz: „Kein Alkohol am Steuer. Ein Glas merkt man doch gar nicht… das zweite Glas ist folglich das erste und das eine, das nicht schaden kann. Und wer nichts verträgt, der ist nie erwachsen geworden oder eine Memme, ein Spielverderber aber wenigstens. Abends schließlich gibt es keinerlei Ausreden mehr. Wer dann aber zwei, drei Glas mehr trinkt und dann wenigstens verantwortungsbewusst ein Taxi nach Hause nimmt (statt sich noch selbst ans Steuer zu setzen), der wird ebenso beargwöhnt wie der, der gar nichts trinkt.

    Und so wird Alkoholkonsum zum Lackmus-Test für die Lust am Leben, für Geselligkeit, für Genussfähigkeit. Wer zu allen erdenklichen Anlässen manchmal oder stets zu viel trinkt, erregt vielleicht den Missmut der übrigen – das größere Misstrauen aber erntet der, der kaum oder gar keinen Alkohol trinkt.

    Der beschriebene, gesellschaftliche Umgang mit Alkohol unterliegt einem zaghaften Wandel. Werbung für alkoholische Getränke ist eingeschränkt worden. Der Zugang zu alkoholischen Getränken wird Jugendlichen unter 18 Jahren inzwischen zumindest erschwert. Der Umgang mit alkoholischen Getränken wird in der Arbeitswelt zwar zurückgedrängt, aber allzu oft gibt es bei Empfängen nur die Wahl zwischen Sekt, Orangensaft oder Mineralwasser.

    Wenn man andererseits bedenkt, dass in Familien, in denen mindestens einer der Elternteile stark getrunken hat oder Alkoholiker (-in) war, bei den Nachkommen durchaus die ganze Palette des Umgangs mit Alkohol zu finden ist – von der völligen Abstinenz über einen unauffälligen Umgang mit alkoholischen Getränken bis hin zu wiederum Alkoholikern – dann bedarf es wohl noch weiterer Faktoren als das reine Vorleben durch elterliche und andere Vorbilder, um einen Menschen am Ende schicksalhaft an den Alkohol zu ketten.

    Ich möchte mich gemeinsam mit der interessierten Leserin und dem interessierten Leser auf eine Reise begeben und beispielhaft einem Leben nachspüren, dessen Lehre es war, zu schlucken – und zu schweigen.

    Gerhard Ochsenfeld im Juli 2011

    Vorwort

    (zur Neuauflage)

    Eine neue Preisstruktur bei „Books on Demand" hat es ermöglicht, ein neues, etwas aufgeräumteres Layout anzubieten – bei dennoch einem um mehr als 40 % günstigeren Preis für die Printausgabe. Die eBook-Version ist mit unter 10 Euro außerordentlich attraktiv.

    Das finde ich sehr erfreulich, weil mich, diese Biografie zu verfassen, interessiert hatte, um das Leben von einem nachzuzeichnen, dem man von Anfang an und Schritt um Schritt Unzulänglichkeit anerzogen hat. Dabei stürzte er keineswegs irgendwann in die Alkoholsucht! Sondern er glitt ganz unspektakulär hinein in die Sucht.

    Genauso allmählich, in diesem Gleitflug abwärts, hatte es ihm das Ruder nicht entrissen, sondern schleichend immer mehr entzogen, das er dann auch nicht mehr in die Hand nehmen und nicht endlich herumreißen konnte. – Dennoch verrate ich an dieser Stelle: Jener Finley ist „im Original" seit über 30 Jahren trocken und hatte mich bei der Ersrtellung dieser Biografie begleitet.

    Die Neuauflage habe ich genutzt, um das Buch noch einmal komplett „in die Hand" zu nehmen. Textlich deutlich gestrafft, hat sich am Inhalt im Grunde nichts geändert. Sätze, ganze Absätze, manchmal Seiten habe ich komprimiert, gekürzt, gar gestrichen. Auch wenn es kaum weniger Seiten sind (das liegt allein am Layout), so ist es nun doch deutlich weniger Text – der insgesamt prägnanter formuliert ist.

    Aber auch: Ich habe an einer Stelle eine inhaltliche Erweiterung vorgenommen, um klarer und erläuternd auf die Suchtproblematik eingehen zu können.

    Es handelt sich also im Wortsinn um eine komplett überarbeitete Neuauflage.

    Gerade junge Leser waren mit dem einstigen Preis schwerlich ansprechbar, die ich gern erreichen möchte, um gegebenenfalls auch einen Blick auf das eigene Leben zu werfen. Aber auch Betroffene möchte ich ansprechen, die dieses fremde Schicksal betrachten mögen, um eine Reflexion des eigenen Schicksals anzustoßen. Und Personen aus dem Umfeld Süchtiger möchte ich erreichen, die – ob in helfenden Berufen oder tragisch im Umfeld verbunden – bemüht sind, nicht nur aus der Sucht hinaus zu begleiten, sondern diese auch zu begreifen.

    Gerhard Ochsenfeld im Mai 2016

    Vater

    Der stinkende Atem des heimtückischen Todes

    Hanna blühte auf in ihren Mutterfreuden. Wir beide waren stolz auf unsere Tochter. Unsere Tochter trieb weitere Veränderungen in unserem Haus vor sich her.

    Meine Eltern waren mit ihrem Schlafzimmer zurück ins Parterre gezogen, wo sie einst für meine Großmutter das Zimmer geräumt hatten. Nun trieb mein Vater mit schier wahnhafter Energie die Renovierung der Zimmer im Dachgiebel voran. Noch brauchten wir kein Zimmer für unsere Tochter. Aber mein Vater rackerte, als gelte es, dem bloßen Verrinnen der Zeit die wütende Faust zu zeigen. So kamen wir zum Kinderzimmer, einem recht großzügigen Bad und einem Gästezimmer unter dem Dach.

    Mein Vater hatte einen Schwager gebeten, die Anstreicharbeiten zu übernehmen, da er selbst die Farbgerüche nicht mehr vertragen konnte. Als der Schwager einen Samstag bei uns war und mein Vater ihm wenigstens helfen wollte, da bekam er starke Hustenanfälle. Er zog sich zurück, weg von diesen Dünsten. Er litt sichtlich unter Atemnot. Mein Vater jedoch war hart im Nehmen: Er nahm eben ein paar Mittelchen aus der Apotheke. „Was von allein kommt, geht auch von allein…" Es half nicht wirklich.

    Kaum später zeigte sich, wie leicht es einen an der Lunge erwischen kann: Ich selbst musste mit einer starken Bronchitis zum Arzt und wurde für eine Woche krank geschrieben. – Insgeheim schien mein Vater bestätigt.

    Einen Nachmittag passte ich allein auf unsere Tochter auf, wofür mein Krankenschein dann eben mal ganz gelegen kam. So konnte Hanna in Ruhe einkaufen. Als sie zurückkehrte, traute ich meinen Augen nicht...

    Windschief kam Hanna in die Wohnung geeiert, in der linken Hand sämtliche Einkaufstaschen, deren Gewicht sie aberwitzig ausbalancierte. Auf dem rechten Arm trug sie einen kleinen, dunklen, fast schwarzen Hund. „Hanna!? stammelte ich. Die Kinnlade war mir beinahe im Wortsinne heruntergefallen. „Wo hast du diesen Hund aufgegabelt?

    „Ich hatte von der Straße aus gesehen, keuchte Hanna und rettete sich mit ihrem Ballast in die Küche, „wie ein paar Burschen mit Steinen nach dem Hund warfen! Sie stellte unter einem Aufatmen die schweren Taschen ab. „Da bin ich stehen geblieben, aus dem Auto gesprungen und habe mir den Hund geschnappt! Als Hanna aus der Küche zurück kam, hatte sie die linke Hand frei, um das nervöse und verschreckte Knäuel Fell zu streicheln und zu liebkosen. „Der arme Kerl, spornte Hanna mich zu Begeisterungsäußerungen an: „Ist der nicht süß?"

    Wir hatten gerade einen Würmling von wenigen Wochen, der aus unserer ausgelassenen und feierlastigen Zweisamkeit eine solide Familie gemacht hatte. Und nun sogleich noch einen jungen Hund dazu? „Wie stellst Du Dir das vor, Hanna? Mit Julia... und dem Hund dazu?"

    Sie stellte sich gar nichts vor: Sie zuckte mit den Schultern.

    „Hanna! Bitte! Über Nacht lass den Hund hier... Aber morgen musst Du Dir mal überlegen, wie das weitergehen soll!"

    Aus „morgen" wurden Tage...

    „Hanna! Was ist nun mit dem Hund!? Der kann nicht einfach hier bleiben. Und wie alt ist der Hund eigentlich? Wie groß wird der noch? Hanna hatte keine Antworten. Aber Hanna rief die Hündin schon beim Namen: „Browny hieß sie, wie ich so ganz beiläufig bemerken konnte. Hanna nannte sie so, wegen ihres dunkelbraunen Fells. Und dass Hanna dem Hund schon einen Namen gegeben hatte, das beunruhigte mich doch sehr...

    Aus Tagen wurden Wochen, Monate... Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, mit dem Hund regelmäßig Gassi zu gehen, bisweilen auch von Kneipe zu Kneipe – was der Hündin aber nichts ausmachte. Freunde und Bekannte besuchte ich mit Hund – und löste stets Begeisterung, ja bisweilen Verzückung aus.

    Auch Hannas Vater, ein flammender Tierliebhaber, war hellauf begeistert. Und Hannas Mutter konnte von dem knuffigen süßen braunen Pelztier gar nicht genug bekommen. Aber schnell stellte sich heraus, dass der Hund meiner Schwiegereltern Browny nicht akzeptierte – selbst stets vernachlässigt, wenn wir dort waren… So wurden die Besuche bei den Schwiegereltern wieder selten.

    Einen Sonntag ging ich mit dem Hund zu dem Blumenladen, den Georgs Vater betrieb. Georgs Vater war ganz aus dem Häuschen: „Darf ich mir den Hund auch mal abholen und mit ihm Gassi gehen?"

    Aus „auch mal" wurde jeder zweite Tag, beinahe auf den Glockenschlag 17 Uhr. Schnell hatte Browny gelernt, dass die Klingel um 17 Uhr einen ausgiebigen und ausgelassenen Spaziergang ankündigte. So dauerte es nicht lange, und jedes Kommen von Georgs Vater und jedes Gehen waren von wildem Gekläffe begleitet, das auch stets noch lange anhielt. Denn Georgs Vater erfreute sich schon an der überschwänglichen Begrüßung unserer Browny, ebenso wie an ihrer Weigerung, ihn ohne großes Theater wieder ziehen zu lassen.

    Julia war bereits fünf Monate alt. Von Browny wussten wir es nicht genau. Browny eifersüchtelte. Browny ließ mit zunehmender Konsequenz Fremde kaum noch an Julia heran. Vielleicht hatte Browny sich nur selbst eine Aufgabe gesucht, die ihr sinnvoll und erfüllend erschien. Ansonsten nämlich war sie einfach nur ungebremst lebhaft und sehr verspielt.

    Bemerkenswert war, dass ihre edle Retterin keine Lust und keine Neigung zeigte, sich hinreichend mit der Hündin zu beschäftigen. Hanna hatte nicht nur zu wenig Geduld für eine Hündin, der auf Dauer nicht genügte, sich bloß retten zu lassen – mit Haustieren gibt es ein ähnliches Problem wie mit Kindern: Ein Kinderwunsch endet nicht mit der Begeisterung für leuchtende Kinderaugen, strahlende Kindergesichter, das helle Lachen zufriedener Kinder…

    Als Georgs Vater wieder einmal klingelte, reagierte ich nicht gleich, um zu öffnen. Hanna und ich waren gerade schwer mit Julia beschäftigt. Browny schlug an. Browny drängte noch mit zurückhaltendem Bellen. Plötzlich klingelte Georgs Vater Sturm – und Browny geriet vollkommen aus dem Häuschen. Browny bellte zügellos und ohrenbetäubend. Schließlich plärrte auch Julia... Als Georgs Vater oben war, gab es die übliche Begrüßung – nur einen Gang ausgelassener und lauter. Man mochte meinen, Browny wedelte nicht mit dem Schwanz, sondern die eigenmächtig wirbelnde Rute schlüge mit Browny nur so um sich. Im Hintergrund ging unsere Sirene – Julia – nicht mehr aus. Ich kürzte also die Begrüßung ab und scheuchte Georgs Vater, schnell die Leine in die Hand gedrückt, eiliger aus dem Haus als gewöhnlich.

    Die Ruhe währte nicht lang...

    Julia war wieder verstummt, da war auch schon ein Stampfen auf den Treppenstufen zu hören. Dann stand er in unserem Wohnzimmer: Der Koloss in alter Manier. Der Koloss in dem üblichen Bild von Kraft und Gewalt. Nur etwas angeschlagen eben, wie wir ihn in den letzten Wochen kannten. Erst als er losbrüllte, war klar, dass er vor Wut schnaubte, nicht vom Treppensteigen. Dennoch sah er blass aus. Überhaupt fiel in der letzten Zeit auf, dass meinem Vater alles schwerer fiel. Obgleich das nun schon ziemlich lange so anhielt, ging mein Vater nicht zum Arzt. – Das würde sich schon wieder kurieren…

    Mein Vater holte tief Atem. Dann brüllte er los. „Das ist nicht mehr zum Aushalten mit diesem Vieh! Dieses ständige Gekläffe! Das... Mein Vater ruderte mit den Händen verloren durch die Luft. „Das... das macht einen... ja ganz krank! Ich sah meinen Vater schockstarr an. Ich hatte den Mund offen stehen. Mal wieder hatte ich keine Worte... „Du kannst Dir das jetzt überlegen, brüllte mein Vater, während der Zeigefinger seiner rechten Pranke im Stakkato Luftlöcher in den Raum schlug und unmissverständlich klar machte, dass seine Geduld ausgereizt war: „Entweder der Hund kommt weg – oder Du fliegst raus aus meinem Haus!

    „Aber... wie... stammelte ich, „der Hund kann doch jetzt nicht...

    „Du hast eine Woche Zeit, Dir zu überlegen, wie Du das löst!" fauchte mein Vater. Dann drehte er sich zum Gehen. – Erst später, als ich guten Grund hatte, mich an diese Situation zu erinnern, fiel mir auf, dass mein Vater beinahe den Türrahmen mit der Schulter gerammt hätte. Er hatte das noch geschickt überspielt. Dann hämmerten seine Schritte mit unregelmäßigen Schlägen die Treppe wieder hinunter. In diesem Moment war ich mit meiner eigenen Not hinreichend beschäftigt, dass mir seine Not nicht auffiel...

    Ich ging zu Hanna hinüber. „Ja, Hanna, Du hast ja alles selbst mitbekommen..." – Hanna warf mir einen zornigen Blick zu, ohne zu antworten.

    „Was sollen wir jetzt machen?" drängte ich.

    „Wie? Was sollen... wir... jetzt machen?" blaffte Hanna mich an.

    „An sich müsstest Du das ja wohl bereinigen!" bellte ich Hanna an. „Schließlich hast Du den Köter ja auch angeschleppt!"

    „Wenn es nach mir ginge, schrie Hanna grell und mit rot angeschwollenem Kopf, „dann zögen wir hier sofort aus! Das Haus hat uns bisher sowieso nur Unheil gebracht!

    Für „nur Unheil hatte Hanna sich verdammt ins Zeug gelegt und bei der Renovierung unserer Wohnung tatkräftig mitgewirkt. Für „nur Unheil hatte Hanna sich nach der Ohrfeige meines Vaters verdammt schnell wieder versöhnt und gelernt, wieder mit ihrem Widersacher zu scherzen und zu lachen – und zusammen mit ihm zu arbeiten. Für „nur" Unheil hatte Hanna das neu hergerichtete Dachgeschoss, das jüngst nur für uns und unser Kind renoviert worden war, mit einer sehr leichten Dankbarkeit voll in Beschlag genommen.

    Unser Streit wurde durch die Rückkehr von Georgs Vater nur kurz unterbrochen. Wir stritten den ganzen lieben langen Abend über dieses Thema. Und wir kamen zu keiner Lösung. So beschloss ich ganz allein, Browny einschläfern zu lassen. Natürlich würde auch das allein an mir hängen bleiben – kein Zweifel. Am nächsten Tag rief ich einen Tierarzt an – der sich selbstverständlich sträubte, einen jungen, gesunden Hund einzuschläfern.

    Aber ich hatte mir alles gut zurechtgelegt. Der junge Hund – früh misshandelt – war schon gestört zu uns gekommen. Der noch immer junge Hund wachte zunehmend eifersüchtig über Julia und ließ niemanden mehr an unsere Tochter heran. Dieser Hund, der nur mit uns gemeinsam in der Wohnung leben konnte. Ich dramatisierte Hundehaare, die – tatsächlich – sogar schon in den Milchfläschchen unserer Tochter zu finden waren…

    Der Tierarzt willigte schließlich ein und gab mir einen Termin für den kommenden Samstag. Ich nahm mir also frei für jenen Samstag.

    Ich schnappte mir Browny, die sich auf einen Spaziergang freute. Ich ließ Browny ins Auto springen, die sich über die Autofahrt freute. Ich fuhr in die Stadt: Der Tierarzt hatte seine Praxis mitten in der Stadt. Ich suchte einen Parkplatz halbwegs in der Nähe der Praxis. Als ich ausstieg, hatte ich die Tränen schon in den Augen stehen, mein Kinn zuckte. Browny sprang fröhlich hinter mir her – ich sagte kein Wort. Browny kläffte – ich sagte kein Wort. Mit keiner Regung meines Gesichtes vermochte ich Browny Freundlichkeit entgegen zu werfen. Browny kläffte, stieß mich mit der Nase an, sprang mir an den Beinen hoch, stieb einige Schritte voraus, lief zurück und hopste vor mir her. Browny ertrug meine Traurigkeit nicht. Browny konnte mir meine Traurigkeit nicht nehmen. Browny sah endlich ein, dass ich nicht umzustimmen war. Browny trottete schließlich ohne Laune neben mir her, während ich stumm dem unklaren Bild folgte, das meine Tränen mir von dem Weg zur Tierarztpraxis zeichneten.

    Vor der Praxis lehnte ich mich an die Wand und starrte in den Himmel. Browny drückte sich mit ihrem Hinterteil an mein Bein, machte aber keine Anstalten mehr, mich zum Spielen aufzufordern. Ich tupfte mir mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen und rang um Fassung. Dann ging ich in die Praxis…

    Der Tierarzt sah mir nur ins Gesicht, während wir uns mit Handschlag begrüßten, dann schritt er zur Tat. Der Tierarzt ersparte mir wenigstens überflüssige Worte. Er gab mir kurze Anweisungen, wenn es nötig war. Ansonsten ging alles wortlos über die Bühne.

    Der Tierarzt spritzte Browny irgendeine Flüssigkeit ins Maul. Dann bat er mich, mit Browny solange spazieren zu gehen, bis sie erbrochen und ihr Geschäft verrichtet habe.

    Noch kämpfte Browny wohl nur mit dem üblen Geschmack irgendeiner widerlichen Flüssigkeit. Schnell zog ich Browny von dem Haus fort und ging die Wege auf und ab, immer Browny an Beeten und Grünanlagen entlang. Bald schon keuchte und würgte Browny. Ihre Schritte wurden langsamer, ihre Schritte wurden unregelmäßig. Immer häufiger blieb sie stehen, bis ich mit der Leine an ihr zerrte. Browny schwanden die Kräfte. Wie sehr sie Schmerzen haben mochte, wollte ich mir gar nicht vorstellen – und doch sah ich es ihr an. Dann ging nichts mehr: Browny schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Jedoch: sie erbrach nicht, und sie erledigte kein Geschäft, kein großes und kein kleines.

    Ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Es war zwecklos. Diese Prozedur war so zwecklos, wie Brownys Opfergang sinnlos war. Ich ging zurück zur Praxis, was nur noch quälend langsam ging mit Browny, die einfach nicht mehr konnte. Ich hätte Browny am liebsten auf den Arm genommen und getragen. Aber ich hatte Angst, dass sie sich genau dann endlich vorn und hinten entleeren könnte.

    Zurück in der Praxis schilderte ich dem Tierarzt diesen furchtbaren Kreuzgang – und dass Browny sich nicht hatte entleeren können. „Dann kommen Sie, wir wollen das jetzt nicht noch unnötig in die Länge ziehen! sagte der Tierarzt knapp und bestimmt. Er ging mir voran in den Behandlungsraum. „Wir müssen das dann hier auf dem Boden machen, sagte der Tierarzt leise und zeigte beiläufig auf die Fliesen, um mir eine Stelle anzuweisen. Dem Tierarzt war es nun also egal. Was sollte er auch machen?

    Ich hockte mich neben Browny und legte ihr eine Hand auf den Nacken. Browny lag da, legte ihren Kopf auf den Boden und sah aus dem Augenwinkel zu mir auf. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Immer wieder schaute sie schnell mal zu mir her, um sich meiner zu versichern. Welch ein Hohn! Ich war ihr doch nicht mehr sicher! Ihr Atem ging schwer durch die Nasenlöcher – zum Hecheln hatte sie gar nicht mehr die Kraft. Manchmal fiepste sie kurz und kläglich.

    Der Tierarzt hockte sich neben uns, zwei Spritzen in der Hand, und sah mich an. – Ich hätte es dem Herrn Vollstrecker nachgesehen, wenn er die eine Spritze für mich bestimmt hätte. – Er tat es selbst nicht gern. Er konnte es nicht verbergen. Dann sah er den Hund an und schritt zur Tat. Er öffnete Browny das Maul und setzte die erste Spritze hinein. Mir schossen die Tränen wieder in die Augen. Ich schluckte jeden Ton herunter. Mein Kinn zitterte fliegend. Er setzte die zweite Spritze. Ich beugte mich zu Browny hinunter. Ich hielt Browny mit beiden Händen. Ich schämte mich, dass ich Browny hier noch beruhigte mit gespielter Fürsorglichkeit – nachdem ich zuvor voll und ganz und allein für ihr Schicksal verantwortlich gezeichnet hatte, das sie nun durchlitt. Browny zuckte, Browny fiepste, Browny schnaubte unregelmäßig und mit blassen Kraftstößen. Woher nur nahm sie immer noch die Kraft, mich immer wieder, immer nur kurz, anzuschauen? Browny zuckte immer schwächer, Browny krampfte allmählich nur noch in zähen Bewegungen, Browny schaffte es nicht mehr zu fiepsen...

    Keine zwei Minuten kamen mir vor wie ein kleines Stück der Ewigkeit. Ein endloses Stück der Ewigkeit, währenddessen ich für Browny in die Bresche sprang und alle Vorwürfe gegen mich selbst erhob, die Browny gegen mich hätte erheben müssen. Keine zwei Minuten... und plötzlich sackte ihre Zunge aus dem Maul, fast wie in Zeitlupe. Dann rutschte etwas vom Mageninhalt hinterher. Der letzte Bruchteil ihres Atems warf eine Blase im Erbrochenen auf, in dem nun auch ihre eigene Nase lag. Es blubberte nicht – dafür reichte der letzte Atem nicht mehr. Als wollte sie noch einen Fingerzeig von Lebendigkeit erhalten, ließ sich die Blase Zeit, ehe sie zerplatzte. Wie mit einem grausam gedehnten Schlussakkord entleerte sich Browny dann auch hinten. Wie ein Fingerzeig dessen, was von ihr geblieben war.

    Es stank bestialisch. Aber wenn das alles war, was Browny mir auf den Weg zu geben hatte für das, was ich ihr angetan hatte, dann hatte Browny entweder himmelschreiend untertrieben oder war einfach ungerecht nachsichtig.

    Ich hörte es rascheln. Ich sah zu dem Tierarzt auf. Er schien eine Tüte oder eine Folie in die Hand zu nehmen. Ich sah es nicht genau durch den verschwommenen Filter meiner Tränen. „Nein! sagte ich, „lassen Sie! Ich hole ihre Decke! Es waren Bruchteile der Ehrerbietung, mit denen ich versuchte, Bruchteile von Selbstachtung noch zusammen zu kratzen – die ich nun brauchte, um überhaupt aufstehen zu können… um weiter zu tun, was zu tun war. Browny sollte nicht wie ein Stück Müll in einem Plastikbeutel enden. Wenigstens in ihrer Decke sollte sie würdig ruhen dürfen.

    Ich ging den kurzen Weg zum Auto, der mir endlos lang erschien, um die Hundedecke zu holen. Der Tierarzt half mir, Browny einzuwickeln in eine haarige, nach Hund riechende Decke, die sich gegen den Gestank in der Praxis nicht wirklich durchsetzen konnte. Eine gewöhnliche Hundedecke, die mir vorkommen wollte, wie ein heiliges Leichentuch. Ich wollte Browny gerade anheben, als der Tierarzt mir half und mir Browny mit einer ganz untheatralischen Ruhe und Würde auf die Arme legte. Ich ging den endlosen Weg zurück zum Auto. Ich legte Browny in den Kofferraum, schlug den Deckel zu und ging noch einmal zur Praxis. Der Rückweg schien mir noch länger als der Weg zum Auto – obgleich ich doch jetzt nicht einmal mehr die Last der toten Hündin trug.

    Ich musste noch zahlen für die Vollstreckung.

    Als ich dem Tierarzt das Geld in die Hand gedrückt hatte, versuchte ich ihn anzusehen. Ich sah ihn schon wieder nur verschwommen. Ich bekam keinen Ton heraus. Er legte mir stumm eine Hand auf die Schulter. Wir schwiegen einen Moment miteinander, währenddessen ich meinen Blick fahrig schweifen ließ. „Machen Sie es gut", sagte der Tierarzt, selbst mit erstickter Stimme. Kein Auf-Wiedersehen. Kein Danke. Kein Bitte.

    Ich selbst blieb stumm. Ich schämte mich – für Schleim und Tränen in meinem Mund, die mir ohnehin die Sprache verschlagen hätten.

    Ich drehte mich ab und ging. Ich spürte, wie mein Kinn nicht mehr zitterte, sondern unkontrolliert zu fliegen schien. Jetzt nur noch zum Auto... Jetzt nur von niemandem angesprochen werden... Jetzt nur niemanden begegnen, der mich kennt... Und bitte von niemandem gesehen werden, der mich kennt!

    Ich schlug die Autotüre neben mir zu und warf mich auf das Lenkrad, um hemmungslos zu schluchzen und zu heulen. Tränen und Tränen troffen über das Lenkrad, platschten auf den Wagenboden oder klopften auf meine Hose und zeichneten dunkle Flecken ab.

    Ungerecht war die Welt! Nicht der Bruchteil von Gerechtigkeit war dieser Schmerz, den ich litt, nachdem Browny stumm und duldsam meine Einfältigkeit und Einfallslosigkeit durchlitten hatte. – Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß. Irgendwann hatte ich mich wenigstens so weit gefangen, dass ich wieder in die Welt schauen konnte, ohne durch einen wässrigen Schleier zu starren. Ob ich in dieser Verfassung wirklich fahrtüchtig war, möchte ich lieber nicht abwägen.

    Ich fuhr zu meinem Freund Georg. Den Weg von der Straße zu seinem Haus hinauf sah ich schon wieder nur unter Tränen verschwommen. Ich hatte Glück: Er war daheim, er öffnete selbst. Er sah mich erschrocken an: „Fin!? Was ist mit Dir?!"

    „Ich..." Ich verstummte wieder.

    „Fin, komm erst mal rein!" forderte er mich auf und zerrte mich am Ärmel hinter die Haustür. Er schob die Haustüre zu. Ich ließ mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und rutschte hinunter, bis es in der Hocke nicht mehr tiefer ging. Dann erzählte ich meinem Freund alles. Alles von der Vollstreckung. Alles von meinem Entschluss, weil ich keine andere Idee gehabt hatte… Alles von Hanna, die mich damit allein gelassen hatte. Alles von einem Vater, der eine Entscheidung von mir erzwungen hatte. Alles von Hanna und einem kleinen braunen Fellknäuel, das es plötzlich gab in unserem Leben. – Alles unter Tränen, alles unter Schluchzen, alles zum Teil kaum verständlich.

    „Statt Deines Hundes hättest Du mal lieber jemand anders einschläfern lassen sollen", sagte Georg mit dünner Verächtlichkeit. Mehr sagte er nicht. Und ich hatte das Gesicht, ich hatte die schreiende Fratze meines Vaters vor Augen. Ich hielt mir den Kopf, indem ich meine Hände auf die Ohren stemmte, so als müsste ich das Schreien meines Vaters dann nicht hören. – Für den Bruchteil einer Sekunde flammte vor meinem inneren Auge Hannas Gesicht auf, keifend, mit zornigem Blick. Ich schob dieses Bild schnell beiseite. Ich redete mir ein, dass mein Freund nur meinen Vater gemeint haben konnte. Ich stellte keine Fragen.

    Georg sagte nichts und wähnte sich richtig verstanden.

    Ich bat meinen Freund, mir behilflich zu sein, den Hund im Wald zu begraben. Er willigte ein. Und ich spürte in mir eine größere Dankbarkeit für diese seine Hilfe in meiner tiefen Not, als ich Dankbarkeit für Hanna empfunden hatte, nachdem sie mir eine gesunde Tochter geboren hatte.

    Wir fuhren zu einem nahe gelegenen Wald. Langsam holperte ich mit dem Wagen einen schmalen Forstweg hinunter, soweit er befahrbar schien. Dann hielt ich an. Meine Knie schlotterten, mein Kinn flatterte, die Tränen strömten erneut. Ich spürte Georgs Blick, nicht einmal stechend. Ich sah ihn an, verschwommen. Ich zog die Augenbrauen hoch – das musste als Frage reichen. „Fin, sagte Georg ruhig, „geh im Wald spazieren! Ich komm alleine klar! Dann legte er mir seine linke Hand auf meine rechte Schulter und schob mich aus dem Auto.

    Ich ging ziellos fort. Irgendwann drehte ich mich um. Ich sah nur Wald. Und so strebte ich eher ungerichtet zurück zu meinem Auto. Ich hielt ständig Ausschau nach meinem Freund. Dann sah ich ihn. Ich sah, wie er längst, um tief genug zu gelangen, auf den Knien lag und Schaufelstich um Schaufelstich neben sich aufhäufte. Plötzlich stand er auf, klopfte sich die Knie ab und stapfte zum Auto.

    In Zeitlupe ging ich ihm entgegen, taumelte um Äste herum, wenn ich sie noch im letzten Moment sah, spürte manchmal, wie mir dünne Äste ins Gesicht schlugen. Georg war schneller als ich: Er hatte Browny schon aus dem Kofferraum genommen, hielt sie fürsorglich auf den Armen vor sich hin – als könne man Browny noch weh tun – und stapfte zurück zu dem Loch. Ich folgte ihm schneller. Dann sah ich, wie sich mein Freund vor der Grube auf die Knie fallen ließ, mit seinem Oberkörper etwas nach vorn wippte, die Arme weit nach vorn schwang und Browny wohl austariert waagerecht in den Abgrund fallen ließ. Ein wahrer Freund, der mir wenigstens dies noch abnahm…

    „Neee-iiin!" schrie ich. Ich begann zu laufen. Ich lief entkräftet. Ich trabte gar nicht schnell, aber es strengte an – mit so viel Blei im Leib. Georg sah sich erschrocken um und stand auf. Im letzten Moment nahm ich wahr, wie mein Freund sich mir in den Weg stellte und mir seinen linken Arm gestreckt entgegen warf. Ich prallte mit meiner Brust gegen seine flache Hand. Ich hustete…

    Ich sah Georg an: Im Wellenmuster meiner Tränen schüttelte er mit dem Kopf: „Tu Dir das nicht auch noch an, Fin!" empfahl er ruhig. Ich ließ mich fallen. Mein Freund riss an meiner Jacke, damit ich nicht so hart auf meine Knie stieße. Dann ließ er von mir ab.

    Ich sah in Richtung der Grube und entdeckte nicht einmal die Hundedecke. „Na, wenigstens tief genug, dachte ich, „wegen der Wildschweine.

    Ich beugte mich vor, stützte mich auf meine Arme und vergrub meinen Kopf in meinen Unterarmen. Ich schluchzte, weinte, flennte. Im Hintergrund hörte ich das regelmäßige Plomp-Plomp-Plomp, mit dem mein Freund Schüppe um Schüppe Browny unter Erde begrub. Ich sah plötzlich die Flammen, wie sie meinen Großvater gefressen hatten. Und ich erkannte, dass die Flammen nichts Endgültigeres haben als der dumpfe Klang der Erde, wenn sie Wurf um Wurf in der tiefen Grube landet und dem Reich der Lebenden entreißt, was der Tod sich längst genommen hat.

    Aber dann flogen Gedanken und Bilder plötzlich fort von Browny – mit jedem weiteren „Plomp". Vor meinem geistigen Auge flogen alle Menschen vorbei, die ich hasste... die mich verarscht, verulkt, gehänselt, gefoppt hatten, die mir geheißen, geboten, befohlen hatten. Ich hasste meinen Vater. Ich hasste seine schreiende Fratze, hasste seine harten Schläge, hasste seine bedingungslose Herrschaft. – Immer wieder zwischendurch Bilder von Kollegen, von meinen Chefs… – Ich hasste sogar meine Frau! Ich hasste ihre keifende Stimme, als sie meinen Vater verdammte, mit dem sie aber selbst paktierte! Ich hasste meine Frau, wie sie mit derselben Verachtung über mich hergezogen hatte, wie mein Vater das konnte. Ich hasste meine Frau, wie sie mich verhöhnte. Ich hasste, wie sie tat und machte, ohne mit mir abzustimmen, was uns gemeinsam betraf. Ich hasste, dass sie mir Leben abtrutzte, indem sie mich vor vollendete Tatsachen stellte wie meine Mutter. – Weshalb hasste ich eigentlich meine Mutter nicht? Weshalb flog ihr Bild nicht auch durch meinen Kopf? – Ich hasste das Betonwerk. Ich hasste meine Chefs. Ich hasste viele meiner Kollegen...

    Und endlich und zum ersten Mal… hasste ich auch mich selbst.

    Ich hasste mich für meine Feigheit. Ich hasste mich für meinen Verrat an diesem wehrlosen Geschöpf, das ich geopfert hatte, um nicht selbst aufrecht einfordern zu müssen. Vor meinem geistigen Auge schrie ich meinen Vater an: „Jaaah! Ich gehe!!" Doch im Stillen wusste ich, dass ich es nie tun würde. Und ich hasste mich dafür, dass mein ganzes Leben eine Kette des Ausweichens, des Zurückweichens, des Verbeugens, des Bückens war.

    Browny war nun nichts als ein kleiner, unbedeutender Teil Geschichte. Was diese Geschichte mit mir, in mir machte, war nicht Geschichte.

    Ich hasste mich dafür, dass ich erst jetzt erkannte: Leben hat nur eine Richtung – und keinen Rückwärtsgang. Jede Entscheidung, wenn sie erst Bewegung, Fortgang und eigene Geschichte in Gang gesetzt hat, ist nicht mehr umkehrbar. – Und doch hatte ich es ja gar nicht wirklich begriffen. –

    Georg hatte die Erde gestampft und geglättet, sogar etwas der modrigen Laubschicht wieder darübergehäuft. Nichts war mehr zu sehen. Browny war nicht mehr. Ein Grab gab es nicht. Nichts mehr erinnerte an Browny außer meines unauslöschlichen Schuldbewusstseins.

    Ich brachte meinen Freund Georg heim. Dann drosch ich mit dem Auto nach Hause. Ich brachte den Wagen mit einem rasanten Stop vor unserem Hause zum Stehen, sprang aus dem Auto, rannte zur Haustüre, konnte den Schlüssel gar nicht schnell genug ins Schloss bekommen... „Jetzt bloß niemandem über den Weg laufen! dachte ich. „Jetzt bloß keine dummen Fragen. Bloß keine fiesen Bemerkungen! Ich stürzte die Treppe hinauf, suchte nach Hannas Portemonnaie, nahm mir 50 D-Mark heraus und verließ die Wohnung: Ohne ein „Hallo oder ein „Tschüss, ohne auch nur nach Hanna zu schauen. Ich hämmerte mit groben und fliegenden Schritten die Treppe hinunter und warf die Haustüre hinter mir zu.

    Entsetzt lief meine Mutter zu Hanna hinauf. „Hanna?! Was ist denn? fragte sie entgeistert. „Was ist denn mit Fin?

    Hanna bemühte sich noch nicht einmal, meine Mutter wirklich anzusehen, ganz gleich, ob erschrocken, vorwurfsvoll oder zornig. Sie warf meiner Mutter nur starr, emotionslos und mit eiskalter Mine einen flüchtigen Blick zu. „Was denkst Du, stellte sie mehr – und kaum betont – fest, als dass sie es fragte: „Dein Sohn wird sich mal wieder einen saufen!

    Zuletzt sprach ich an jenem Spätnachmittag in der Kneipe über Browny – und wie und warum sie hatte sterben müssen.

    Das Fatale an einer Kneipe ist nicht der Alkohol, der dort ausgeschenkt wird. Das Fatale ist die Heimat, die man dort finden kann. Salopp gesagt: Man trifft dort Gleichgesinnte. Aber dann schlösse man darauf, dass – wer in die Kneipe geht – einfach nur den Alkohol in sich hineinbechert. Und das greift zu kurz...

    Viele von denen, die in der Kneipe sind, verstehen den anderen Unglückspilz auch ohne Worte, weil sie ähnlich dran sind. Vielleicht will man gar nicht im Detail erfahren, was den anderen unglücklich macht: Vielleicht ist die Angst, an Gleiches oder nur Vergleichbares erinnert zu werden, viel zu groß. Aber man sieht, dass man gar nicht so allein dasteht. Und das reicht, um einfach nur beieinander zu sitzen.

    An jenem Abend saßen wir nicht bloß beieinander und tranken miteinander – oder auch bloß nebeneinander, wie so oft. Schon als ich durch die Türe gekommen war, hatten mir alle angesehen... nicht, dass etwas mit mir nicht stimmte, sondern dass ich am Boden zerstört war.

    Auch das wieder: Der Unterschied zwischen den „Gleichgesinnten" und dem Rest der Welt! Sie fragten nicht vorwurfsvoll, sie fragten nicht, um anschließend gute Ratschläge zu erteilen, gut gemeinten Rat zu geben und selbsterprobte Lebensweisheiten zu verstreuen. Sie fragten, sie hörten, sie stießen mit an – und fühlten mit, weil sie es alle so oder ähnlich selbst kannten.

    Das Verhängnisvolle am Alkohol – was wohlschmeckend oder bloß mit Gewöhnung beginnt – ist, das Alkohol am Ende einfach nur zerstört. Der Alkohol macht am Ende selbst das Wenige nur kaputt… was einen für eine gewisse und nicht unangenehme Zeit sogar noch aufgefangen hat.

    Und dennoch auch dieses: Es ist nicht nur der Wechsel zwischen einem vollen und einem leeren Glas. Es ist nicht nur der Wechsel zwischen nüchtern und besoffen. Es ist nicht nur der Wechsel zwischen gesellschaftsfähig, angepasst und sozial integriert – oder unzurechnungsfähig, unangepasst und sozial verstoßen.

    Sondern entweder bist Du zermürbt von einem Schmerz, den Du Dir meist selbst nicht erklären kannst – oder Dein Gleichgewicht ist gestört, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist gestört... aber Du bist hinreichend betäubt, dass das Leben sich ertragen lässt. Entweder Du versteckst Dich, nicht nur weil Du trinkst, sondern auch mit all Deinen Gefühlen, mit allem was Dich quält – weil niemand es sehen will, niemand davon hören will, jeder Dich für übersensibel hält, jeder Dich für einen Fantasten hält, jeder für übertrieben hält, was für Dich Wahrheit und quälende Empfindung ist. Oder Du bist angenommen, so wie Du bist, ohne Wenn und Aber. Auch wenn Du Dich betäubt hast. – So einfach angenommen sein kann man... zum Beispiel in einer Kneipe.

    Dieser Abend hat mir einmal mehr gezeigt, was Trinken auch ist: Angenommen sein, sich aufgehoben fühlen. Nicht belächelt zu werden. Nicht verlacht zu werden. Nicht verspottet zu werden. Nicht verhöhnt zu werden.

    Dieser Abend hat mir einmal mehr gezeigt, was ich Daheim nie bekommen hatte, nie bekam, nie bekommen würde. Nicht einmal in der einst so ersehnten Zweisamkeit mit Hanna, die längst nur noch aus Zweien nebeneinander bestand.

    Zuletzt an diesem Abend – und dann niemals mehr – hatte ich ausführlich über Browny gesprochen. Und über alles, was das mit mir gemacht hatte.

    Meinem Schwiegervater erzählte ich, ich hätte Browny in die Eifel auf einen Bauernhof gegeben, weil die Hündin immer eifersüchtiger auf Julia reagiert habe. Damit konnte dieser fanatische Tierliebhaber gut umgehen. Es war eine Fantasie, die sich schlüssig erzählen ließ. Es war ein Weg, der sich hätte finden lassen! Ich hatte hinreichend Freunde und Bekannte in der Eifel, über die sich eine solche Lösung hätte finden lassen! Das war ein Weg, den nicht gegangen zu sein ich mir selbst niemals verzeihen konnte. – Hanna verriet ihm die Wahrheit nie! Ihr Gewissen muss so schwarz gewesen sein wie fettiger Ruß.

    Während der Hund nun nicht mehr in unserem Hause bellte, beherrschte das Bellen meines Vaters zunehmend das Haus: Er hatte immer häufiger markerschütternde Hustenanfälle, er litt immer stärker unter Atemnot.

    Als mein Vater dann doch endlich zum Arzt ging, war der über die beschriebenen Symptomen äußerst beunruhigt. Bestürzt war er darüber, wie lange sich das schon zog. Er horchte meinem Vater die Lunge ab... und ordnete sogleich für den nächsten Morgen eine Blutentnahme an. Gleichzeitig schrieb er meinen Vater schon einmal für eine Woche krank. So hatte mein Vater drei Tage später wieder einen Termin bei seinem Arzt, um sich den Befund der Blutuntersuchung einzuholen. Der Arzt hatte mit sachlicher Gelassenheit – um den Patienten nicht stärker zu beunruhigen, als ohnehin unvermeidbar – zur Eile gedrängt. Mein Vater gab sich gefasst...

    ... und verbreitete Daheim mit seiner Botschaft nur: Schrecken, Angst, Hektik.

    „Ben!" rief meine Mutter fast tonlos, während sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und sich die Hand vor den Mund hielt.

    Mein Vater saß da, auf den Tisch gestützt, kraftlos, innerlich ermattet – und konnte mit den Worten seines Arztes herzlich wenig anfangen. „Lass mal. Ich muss mir keine großen Sorgen machen, sagt der Doktor." Er machte sich große Sorgen. Es war ihm anzusehen. Kleine Sorgen sehen anders aus.

    „Gute Heilungschancen, hat er gesagt. Mein Vater ließ den Satz wie beiläufig oder zufällig fallen. Dann sah er zu meiner Mutter auf. „Was soll mir das sagen? Morgen soll ich mich in einer Spezialklinik in Köln melden. – Schon morgen!

    „Was? erschrak meine Mutter, „gleich morgen?

    Meine Mutter startete hektischen Umtrieb. Zu allererst rief sie meine Lieblingscousine an. Rita war Arzthelferin in einer Kölner Praxis. So ganz nebenbei verstand sie also auch noch etwas vom Thema. – Und ich konnte nur staunen, wie problemlos bei anderen Leuten die Arbeitgeber mitspielten, wenn plötzlich die Not rief: Meine Mutter hatte sie eindringlich darum gebeten, und so kam meine Cousine noch am selben Abend aus Köln zu uns her.

    Das übliche Hallo und die überschäumende Wiedersehens-Freude waren überschattet von einer Krankheit, die niemand kannte. Überschattet von einer Krankheit, die anonym und diffus drohte. Überschattet von Ungewissheit.

    „Hat der Arzt Dir die Unterlagen gleich mitgegeben, Onkel Ben? fragte Rita. „Dann ginge ja alles gleich viel schneller, als wenn er sie mit der Post an die Klinik schickt.

    Mein Vater reagierte mit Verzögerung – und wirkte dann, wie aus fernen Gedanken gerissen. „Ja… ja, ja. Er hat mir einen ganzen, großen Umschlag mitgegeben. Warte mal! Wo hab ich den?"

    Der Umschlag lag auf dem Tisch. Mein Vater hatte ihn selbst dort abgelegt... und dann nicht mehr gesehen. Rita legte ihre Hand darauf und zog den Umschlag ein paar Zentimeter näher an sich heran: „Darf ich?" fragte sie.

    „Ja, ja. Natürlich! wunderte sich mein Vater etwas abwesend – und schob dann lächend nach: „Wer denn, wenn nicht Du.

    Ohne Hektik machte Rita den Umschlag auf, blätterte die Unterlagen durch, erwog, blätterte zurück und wieder hin. Dann sah sie meinen Vater an. Der starrte schon wieder durch die Tischplatte hindurch auf den Boden vor seinen Füßen. Also schaute Rita zu meiner Mutter: Mit großen Augen und skeptischer Mine gab sie meiner Mutter zu verstehen, dass nichts in Ordnung war – und gab meiner Mutter, was die jetzt so gar nicht brauchen konnte. Hektisch sprang meine Mutter auf: „Ach, entschuldige! Ich habe Dir noch gar nichts angeboten. Soll ich Dir eine Tasse Tee machen?"

    „Ja, gerne, antwortete meine Cousine nüchtern. Meine Mutter machte Wasser heiß, grub gedankenlos in ihren Schränken und fand nicht gleich, was sie suchte. Mein Vater hob den Kopf, sah zu Rita hinüber und fragte: „Und? Was steht drin? Kannst Du was damit anfangen?

    „Mach Dir keine Sorgen, Onkel Ben. Die Überweisung in diese Klinik ist reine Routinesache. Rita – so ausdrucksstark sie meiner Mutter allen Grund zur Sorge stumm zu verstehen gegeben hatte – sah meinen Vater vollkommen entspannt und freundlich an. Beruhigen – auch das gehörte zu ihrem Beruf. „Ein Hausarzt hat einfach zu wenige Untersuchungsmöglichkeiten. Dein Doktor will da nur lieber auf Nummer sicher gehen. Eine ganz normale Sache. – In Merheim ist eine Lungenklinik. Die haben gleich die richtigen Spezialisten und die richtigen Gerätschaften vor Ort…

    „Und? Du denkst, es hat nichts zu sagen, dass er gleich so mit der Zeit drängt?" hakte mein Vater skeptisch nach. Er wähnte sich betrogen.

    „Nein, nein. Ich glaube nur, dass er bei der Behandlung keine Zeit verspielen will, weil Du schon so lange mit der Sache zu tun hast, ließ Rita sich nicht aus der Reserve locken. „Ich kann das schon verstehen. Das ist ja nun kein kleiner Husten mehr...

    Mein Vater hatte den Kopf noch immer ihr zugewandt. Sein Blick fiel enttäuscht auf die Tischplatte zurück. Noch einmal sah er Rita an, nur kurz. Dann drehte er den Kopf weg und starrte geradeaus ins Nichts. Er nickte stumm mit dem Kopf und presste die Lippen aufeinander. – Wollte nur einfach keine Ruhe einkehren in seinem Kopf? Oder wähnte er sich tatsächlich getäuscht?

    Meine Mutter beschäftigte sich aufwändig mit dem Tee, stellte Milch und Zucker auf den Tisch – fragte Rita nicht einmal, wie sie den Tee trinken wolle – hetzte wieder zurück zur Arbeitsplatte, wischte hier einen Tropfen und dort nichts als Sauberkeit ab, griff zu einem Handtuch, das sie gar nicht brauchte, sah wieder nach der Uhr. In dieses hektische Treiben hinein, das meinen Vater so überhaupt nicht erreichte, wandte er sich plötzlich an meine Mutter und fragte: „Packst Du mir ein paar Sachen zusammen? Viel werde ich ja nicht brauchen... für ein paar Tage... so lang die Untersuchungen eben dauern..."

    „Ja, Ben, natürlich. Ich mach das gleich noch. Dann können wir morgen früh ganz in Ruhe aufbrechen." Sie sagte es ruhig – doch ihre Stimme zitterte. Sie sah ihren Mann nicht an dabei. Sie warf es beiläufig in die Küche. Sie suchte nach Beschäftigung, nach Bewegung, nach themenfremden und gewohnten Abläufen – und fand fahrig hinreichend davon.

    Meine Cousine übernachtete in unserem Gästezimmer. Am nächsten Morgen eine kurze Verabschiedung, ehe ich zur Arbeit fuhr. Ich umarmte Rita und bedauerte herzlich, dass wir nicht wenigstens etwas mehr Zeit füreinander gefunden hatten. Steif verabschiedete ich mich von meiner Mutter. Vollkommen verkrampft und unsicher gab ich auch meinem Vater die Hand. Ich hasste diesen verdammten Kerl. Hundert Mal mochte ich gewünscht haben, er solle verrecken! Aber da jetzt dräuend der Tod über ihm schwebte, obgleich niemand das auszusprechen wagte, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Mochte es glimpflich ausgehen für ihn – damit ich verschont bliebe von diffusen Schuldgefühlen, die mich schon jetzt plagten.

    Mit versteinerter Mine sagte ich, an meinen Vater gerichtet – seine Hand in meiner, Auge in Auge: „Alles Gute. Man sagt das so! Ich empfand nichts dabei. Mit einem schiefen Lächeln nahm er es zur Kenntnis. „Wird schon schief gehen, betupfte er das eigene Nervenkostüm mit nichts als ungeweihtem Wasser, wo ihm Betäubungsmittel fehlte. Vielleicht musste er in diesem Moment seine Nerven beruhigen, weil er spürte, dass der Faden gerissen war zwischen ihm und seinem Sohn. Welcher Vater tritt schon gerne ab, wenn er sich eingestehen muss, dass er am Ende nichts erreicht hat, als den eigenen Sohn zu verlieren?

    Ich ging hinaus, ließ die Haustür hinter mir zufallen, schwang mich aufs Rad... und spürte nichts. Nichts als Härte. Nichts als Kälte. Nichts als Abscheu. – Nichts als Erwartungshaltungen, die mich quälten. Erwartungshaltungen, die mich drängten, meinen Vater zu herzen... in Gedanken, Worten und Werken. Nach allem, was geschehen war? Nach allem, was er niemals würde wahr haben wollen?

    Früh fuhren Rita und meine Eltern nach Köln-Merheim. Rita fuhr. Mit Vaters Auto!

    In der Klinik führte man meinen Vater auf ein Zwei-Bett-Zimmer, lies ihm nur ein wenig Zeit, sich mit den paar Habseligkeiten einzurichten, die er mitgebracht hatte, und trieb ihn noch am selben Tage durch mehrere Untersuchungen.

    Als meine Cousine und meine Mutter die Klinik verließen, sprachen die zwei kaum ein Wort miteinander. Für Rita waren solche Situationen ein Teil der Arbeitsroutine – und sie verstand es, sich auf die Bedürfnisse meiner Mutter einzustellen. Ein Bedürfnis meiner Mutter war die Flucht: Sie machte das Tempo, hackte mit eiligen Schritten über die Flure, Treppen hinunter, hinaus und zum Parkplatz hin. Sie wollte nicht, sie konnte nicht sprechen.

    Dann sprangen die beiden ins Auto. Plaff... plaff... schlug jede ihre Wagentüre zu. Rita wollte gerade den Zündschlüssel ins Schloss stecken, da schnappte meine Mutter nach ihrer rechten Hand. Rita sah ihre Hand an, dann zu meiner Mutter hin: Die starrte auf die eigene Hand, wie sie verkrampft die Hand einer jungen Frau umklammerte, von der sie sicheren Halt erhoffte – oder wenigstens einen Rettungsring in den unwirsch tobenden Wellen einer stürmischen See.

    Ungezählte Sekunden lang. Dann warf sie ruckartig den Kopf zu Rita hin – die Augen gerötet, die Tränen stumm, kurz vor dem Überlaufen. Sag endlich, flehte sie. Ein Speichelfaden spann sich von einer Lippe zur anderen, die Mundwinkel waren feucht: Da waren die anderen Tränen, in ihrem nassen Mund. Dann warf sie die Stirn in Falten: „Bi-tteee! Was weißt Du?"

    Rita blieb stumm. Sie stritt mit der Wahrheit, die es gab – und der Qual, die sie meiner Mutter zumuten würde. Sie sah weg von meiner Mutter, durch die Windschutzscheibe hindurch, als stünde dort ein Text zum Ablesen. Gedanken verloren las sie: „Die Blutwerte sind erschreckend. Pause. Dann wandte sie sich wieder meiner Mutter zu und legte noch ihre linke Hand hinzu, wo meine Mutter verkrampft die rechte Hand meiner Cousine hielt. Auge in Auge, forderte meine Mutter eine Antwort – Rita rang sich durch zur Wahrheit: „Onkel Ben wird die Klinik nicht lebend verlassen!

    Die stumme Mutter verstummte. Ihre Unterlippe zuckte ein wenig. Die Tränen schossen tonlos aus ihren Augen, perlten an ihren Wangen hinunter und fielen in den bodenlosen Abgrund dieser Botschaft. Ihr Atem ging tief und heftig. Plötzlich presste sie die Lippen verbissen aufeinander und wandte sich ruckartig von meiner Cousine ab. Genauso ruckartig riss sie ihre linke Hand an sich, schnappte nach ihrer eigenen rechten und verkrampfte ihre zwei Hände miteinander. Sie vergrub dieses Knäuel ihrer eigenen Hände zwischen ihren Oberschenkeln und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, während unentwegt und in vollkommener Lautlosigkeit die Tränen weiter spülten.

    Dann befahl sie mit vorwurfsvollem Unterton: „Fahr endlich los!"

    Meine Mutter kam mit dem Zug zurück nach Hause. Den Austin hatte sie Rita in Köln zurück gelassen. Rita hatte versprochen, jeden Tag mindestens einmal bei meinem Vater vorbei und nach dem Rechten zu schauen. So wusste meine Mutter ihren Mann wenigstens rundherum gut umsorgt. So gut es eben ging.

    Kaum eine Woche später lagen alle Untersuchungsergebnisse vor und ließen keinen Zweifel mehr. Beim nächsten Besuch schenkte der Oberarzt meiner Mutter reinen Wein ein: „Die Lunge ist am stärksten und akut betroffen... deshalb ist Ihr Mann hier schon gut aufgehoben. Aber... die Metastasen haben in den ganzen Körper gestreut. Eine Behandlung wäre nur eine sinnlose Qual für ihren Mann." Schockstarr und mit offenem Mund nahm meine Mutter das Todesurteil zur Kenntnis, das soeben über ihren Mann ausgesprochen worden war.

    Ruckartig wandte meine Mutter sich von dem Arzt ab und schaute nirgendwo hin – nur bloß nicht Auge in Auge mit diesem Arzt. Die Worte des Arztes hingen im Raum wie beißender Rauch. Der Rauch trieb meiner Mutter die Tränen in die Augen. Sie rang um Fassung – worin sie gut war! Ihre Fassungslosigkeit vermochte sie dieses Mal nicht so gut zu verbergen.

    „Und… stammelte sie, „es gibt keine Hoffnung?

    „Entschuldigen Sie... der Arzt schüttelte verneinend den Kopf. „Es hätte keinen Zweck, Ihnen Hoffnung zu machen. Glauben Sie mir: Wir haben das hier mit mehreren Spezialisten wieder und wieder erwogen. Wir haben verschiedene Therapieansätze diskutiert... Es müsste schon mit einem Wunder zugehen...

    „Ja?" horchte meine Mutter auf und starrte drängend den Arzt an. „Also: Etwas können Sie tun?! Sie können ihn doch nicht einfach so aufgeben!"

    „Bii-tte!" flehte der Arzt nun seinerseits. „So seien Sie doch vernünftig! Solche Wunder haben wir hier noch nicht erlebt! Nicht, wenn der Krebs so weit fortgeschritten ist! Wenn die Metastasen im Körper so gestreut haben!"

    Meine Mutter starrte wie erstickt den Arzt nur an. Sie klebte mit ihren verheulten Augen an seinen Lippen. Sie sagte nichts. Sie weinte tonlos.

    Der Arzt schüttelte zaghaft mit dem Kopf. „Es tut mir Leid. Glauben Sie mir, ich würde Ihnen gern etwas anderes sagen... Bitte! Ersparen Sie Ihrem Mann das! Wenn es eine realistische Chance gäbe… Aber er litte aussichtslos! Es ist nur noch eine Frage der Zeit! ... und Ihr Mann hat nicht mehr viel Zeit."

    Später war einmal die Rede von „einer weiteren" Operation. Also mussten die Ärzte ihn wohl doch irgendwann an der Lunge notoperiert haben. Vielleicht wäre er ja andernfalls sogleich elend verreckt. Woher nahm er noch diese Kraft, dass er sich noch immer mit der ihm eigenen Brachialgewalt dem Tod entgegen stemmte? Hielt er grimmig oder trotzig den Sensenmann zum Narren? Hatten die Ärzte meinem Vater auch reinen Wein eingeschenkt? Meine Mutter hatte es gewiss nicht getan. Klammerte er sich gar als Einziger noch an so etwas wie Hoffnung?

    So ging ein paar Wochen lang die sieche Zeit ins Land. Meine Mutter besuchte ihren Mann auch zwei, drei mal „unter der Woche – für mehr reichte ihre Zeit nicht, wie es schien. Und natürlich besuchte sie ihn am Wochenende. Immer wieder machte meine Mutter Andeutungen, warf mir spitze Bemerkungen zu, schoss ihre Giftpfeile ab. Schließlich drängte sie mich ohne Umschweife, meinen Vater noch einmal zu besuchen. „Und bitte: Nimm Hanna und auch Julia mit! Das hat er nicht verdient, dass er so von uns gehen muss...

    Ich gab meinen Widerstand auf. Ich gab auf.

    Vielleicht hatte sie Recht – so rein objektiv betrachtet. Aber mich quälte und folterte, was mir nun bevorstand.

    Wenige Wochen waren es, die mir drückend lang erschienen waren, zäh hingezogen, die an meinen Nerven gerissen hatten. Verwandte, Freunde, Bekannte, Kollegen, Chefs... alle und ein jeder fragten, tief betroffen, geradezu bestürzt: „Mensch... Fin! Die Hand kurz vor den Mund geschlagen, oder die Hand zum Gruß gereicht, tief hinunter gedrückt und nicht geschüttelt, sondern nur klamm gehalten. Die Gesichtszüge düster, die Mundwinkel schlaff: „Wie geht es denn Deinem Vater?! und „Jaaah, ich hab gehört…! und „Ach? Aber nicht in Aachen? und „Ja, und bitte: Bestell Deinem Vater meine herzlichen Genesungswünsche! Mensch, Gott, nein. Wie... furchtbar!"

    Ich wollte nichts „bestellen", wollte keine Grüße ausrichten. Die Betroffenheit musste ich spielen – die ich nicht spürte. Ich spürte nicht, wie schlimm es meinem Vater ging. Ich spürte nicht, dass das tragisch für uns sei.

    Ich beobachtete meine Mutter, ohne sie zu verstehen, wie sie immer nur niedergeschlagen und traurig und in einer unerklärlichen Eile war. Als könne sie Lebenszeit für meinen Vater sparen, wenn sie eiliger durch die Wohnung wirbelte, wenn sie gehetzt aß, schneller zu Bett hüpfte – und, wahrscheinlich, stundenlang wach dalag und im lichtlosen Zimmer hektisch unter die schwarze Zimmerdecke starrte.

    Ich spürte nur, wie schlimm es war, unterstellt zu bekommen, dass es schlimm sei – und wie schlimm es war, mustergültig die gewichtige Nebenrolle zu spielen: wieder nur den Mustersohn.

    Ein unbändiger Zorn fraß in mir und nährt nur noch mehr meinen Hass gegen meinen Vater: Für kaum drei Monate seines Friedens hatte mein Vater ultimativ die Entscheidung über Browny oder über unseren Auszug eingefordert. Einmal mehr verabscheute ich mich selbst und hasste meinen Vater dafür, das ich Browny geopfert hatte für einen so geringfügigen Frieden. Einmal mehr verabscheute ich mich selbst dafür, dass mir in bloßer Angst vor dem Vater und überstürzt nichts Besseres eingefallen war.

    Wenn es erst vorüber wäre, würde alles leichter für uns werden. Dieses ewig in unserem Hause schwärende Gebrüll, von dem man nie wusste, wann es ausbrechen würde – und von dem man oft nicht einmal nachvollziehen konnte, weshalb es ausgebrochen war. Scham grämte mich ob meiner Erleichterung – und war doch erleichtert in der Gewissheit, dass er nicht mehr wiederkehren würde.

    Wenn es erst vorüber wäre, würde vieles leichter werden. Der Hass gegen meinen Vater, der in mir loderte und immer wütender in mir riss, würde endlich erlöschen – so war ich mir sicher. Der Hass, der es mir verbot, ihn auch nur einmal zu besuchen, würde friedlich verstummen können. Wenn er nur endlich und ganz plötzlich sterben würde, damit die Genesungswünsche verstummen würden, die man mir wieder und wieder ins Gepäck lud. Und damit das subtile Drängen meiner Mutter endlich enden würde.

    Wenn es erst vorüber wäre,

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