Das Kunstversprechen
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Über dieses E-Book
Elegant im Stil und mit feinem Humor zeichnet Marianne Karabelnik atmosphärisch dichte Momentaufnahmen und verleiht schillernden Persönlichkeiten und Orten einen ganz gegenwärtigen Herzschlag. Mitreißend erzählt, gelingt der Autorin ein raffinierter Essay über die weiterhin relevanten Fragen, was die Kunst verspricht, was sich die Kunstwelt von der Kunst verspricht und ob sie sich dabei manchmal auch versprechen kann.
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Buchvorschau
Das Kunstversprechen - Marianne Karabelnik
Dank
1.
Die Nummer
Das Datum des 15. Januar 1912 ist insofern bedeutungsvoll, als das von Ferdinand Hodler gemalte und mit 1910 datierte Bild Heilige Stunde eine Nummer erhält.¹ Einstweilen ist sie die erste von vielen, die noch folgen werden, und jede Zahl wird das Werk an einen anderen Ort verweisen und ein Stück seiner Geschichte erzählen.
Jetzt ist dieses mittelgroße Werk des auch in Deutschland gefeierten Schweizer Künstlers erst einmal in Berlin angekommen und hat einen Eintrag in die wohl signifikantesten Geschäftsbücher des Kunstmarktes gefunden, die es je gegeben hat: in die Ein- und Ausgangsbücher der Kunsthandlung Paul Cassirer. Jener Teil dieser Bücher, der ein Vierteljahrhundert später über die Abgründe des 20. Jahrhunderts hinweggerettet wird, ist zum Vademecum für die Forschung und für den Nachweis vieler der mitunter glanzvollsten Meisterwerke der modernen Kunst geworden, die heute weltweit in Museumssammlungen zu finden sind. Doch über die durchaus sachliche Buchführung hinaus sind die dort verzeichneten Künstlernamen und ihre Werke zur beredten Chronik einer vibrierenden, aufregenden, wenn auch kurzen Epoche geworden, die sich mit dem Begriff der Moderne und auch mit ihrer Verbreitung verknüpft.
Ja, nach Berlin zieht es die Menschen aus der Kunstwelt. Nicht erst in diesem Jahr 1912. Der Boden für den Boom war schon seit der Jahrhundertwende bereitet worden, und inzwischen wurde er auch im Kunstmarkt in einer Weise beackert, dass nach den Speerspitzen und Vorausdenkern – wie sie Paul Cassirer als Typus eines neuen Kunsthändlers und als einer ihrer schillerndsten Figuren vertrat – in gewohnter Weise auch die Lanzenträger auftraten. Auch sie wollten ihr Futter an der Krippe holen, in einer Reihe hinter den Titanen und von der Geschichte oft nur mit einer Fußnote bedacht, aber gemeinsam mit diesen strebten sie nach geschäftlichem Erfolg und arbeiteten sich in die Hände. Und gemeinsam arbeiteten sie auch an den geistigen Fiktionen der Zeit, denen sie sich begeistert, hingebungsvoll und durchaus selbstgewählt unterordneten.
Ein Hauptwort der damaligen Gegenwart war »modern«, gefolgt vom anderen Lieblingswort »neu«. Während der erste Begriff auf die eigene, unmittelbar erlebte Zeit verweist, bezeichnet der zweite die vordringlichste Aufgabe, dass alles neu und anders zu sein und auszusehen hatte: in der Politik, in der Gesellschaft und mit einer besonders augenfälligen Dynamik in der Bildenden Kunst, der Literatur und der Musik. Freilich operiert jede Gegenwart mit der Hoffnung auf Erneuerung, doch im Fokus auf die Kunst herrschte damals eine Goldgräberstimmung, die überzeugende Belege dafür geliefert hat, wie der Umgang mit der Zeitgenossenschaft zu einer Form finden kann.
Ein solches Bild der Erneuerung und entsprechend eingangswürdig für diese erste Kunstadresse in Berlin findet nun zu diesem Jahresbeginn 1912 das Notat »a meta von Schall erworben«. Metageschäfte (a metà, was soviel wie zur Hälfte bedeutet) waren damals, und sind es auch heute noch, eine gängige Praxis im Kunstgeschäft. Sie bezeichnet Kommissionsware, deren Provision man bei einem geglückten Verkauf teilt, oder es wird gemeinsam gekauft und der Erlös geteilt. Solche Vereinbarungen waren an der Tagesordnung und tragen die merkantile Handschrift aller großen Händler der Moderne, von Berlin bis München, von Paris bis Berlin, von Paris bis Düsseldorf und im Falle von Hodler in den 1920er Jahren auch von Genf nach Deutschland. Die Konkurrenz soll das Geschäft beleben, lautet eine Binsenwahrheit, doch hier ging es oft auch um die Absicherung des finanziellen Wagnisses und nicht zuletzt um das Überleben, denn dass die Kämpfe um die Anerkennung der Moderne, vor allem der französischen Kunst – der Impressionisten und der darauffolgenden Generation – in Deutschland nur mit größtem Getöse ablief, wird noch weiter zu erläutern sein.
Herr Schall nun, der zusammen mit der Heiligen Stunde drei weitere Hodler-Werke bei Cassirer deponierte, von denen das eine später als ganz ungeschickte und damit offensichtliche Fälschung erkannt werden sollte, kann mit Josef Theodor Schall (1854–1925) identifiziert werden. Er war einer dieser amateurs-marchands, die an Ort und Stelle auftauchen, wenn das Geschäft mit Geist und Passion auch etwas zum Leben abwerfen soll. Er macht mit Cassirer nachweisbar ab und an Geschäfte, wird 1921 von Max Liebermann gemalt, und das Bild zeigt eine milde, freundliche Natur mit einem sympathischen Charakterkopf. Seine kleine, feine Sammlung, die er sich über die Jahre privat zugelegt hatte, wird nach seinem Tod 1926 denn auch bei Cassirer versteigert werden.² »Jeder im Berliner Kunstleben kannte ihn, aber keiner wusste viel von ihm«, schrieb Emil Waldmann im Vorwort zu diesem Auktionskatalog. Dass Theodor Schall offene Augen für das Neue hatte, bewies sich vor seiner Umsiedlung nach Berlin in Baden-Baden. Unter seiner Leitung wurden bereits in den 1890er Jahren während der Sommermonate für die Gäste des Kurorts Ausstellungen eingerichtet, die neben den regelmäßigen Jahresausstellungen deutscher Künstler schon früh auch Ausnahmen für die französische Kunst machten. Es sollen Werke von Millet, Rousseau, Corot, Courbet, Manet, Renoir und Cézanne gezeigt worden sein. Der Keim, der dort im Konversations- und späteren Kurhaus von Schall gelegt wurde, nämlich die deutsche Aufmerksamkeit für einen anderen, befreiteren und helleren Stil in der Kunst, setzte sich wie in anderen deutschen Städten auch hier in die Köpfe der Künstlerschaft. Im benachbarten Karlsruhe wie anderswo rief die zeitgenössische Kunst nach Räumen, die ihr ein geeignetes Forum bereitstellen sollten, und Josef Theodor Schall soll hier eine treibende Kraft für ein Unternehmen gewesen sein, das 1909 zur Errichtung der Kunsthalle Baden-Baden führte.³ Vielleicht ist es seinem Unmut zuzuschreiben, wenn solche Forderungen noch lange am zeitbedingten Widerstand der behördlichen Einsicht scheiterten, dass er in der Folge nach Berlin gezogen war.
Nun also wartet unsere Heilige Stunde auf einen Käufer in Berlin. Oder hat Cassirer, dieser »Napoleon der Kunstwelt«, wie ihn der Maler Max Liebermann in einer Mischung aus Scharfsinn und Bewunderung nannte,⁴ schon einen potentiellen Käufer in Aussicht? Dabei ist sie noch gar keine »heilige Stunde«. Vorerst ist sie als Sitzende weibliche Figur gelistet und wird es auch bei weiteren Handwechseln noch bleiben, bis die ordentliche Kunstwissenschaft ihr die endgültige Identität zugewiesen hat. Für die Wahrnehmung hingegen ist es nicht ganz unerheblich, ob diese hier dargestellte weibliche Figur ihren Betrachter nur als weibliche Figur, zumal sitzend, anspricht, oder ob das spätere Beiwort »heilig« für einen fernen Ort spricht, der mit einem irdischen Kanon wenig zu tun hat.
Ungewissheiten lösen sich oft ganz pragmatisch auf, selbst in der Kunst. Und wieder können Cassirers Geschäftsbücher dazu eine vorerst praktische Erklärung liefern, denn sie verweisen darauf, dass schon im März des vorhergehenden Jahres eine andere und ebenfalls mit 1910 datierte Sitzende weibliche Figur Ferdinand Hodlers erworben wurde, in diesem Fall von dem Luzerner Kunsthändler Theodor Fischer,⁵ und auch sie ist heute unter dem Bildtitel Heilige Stunde gelistet.⁶ Diese Version wurde 1912 in der Großen Kunstausstellung Dresden gezeigt und aus dieser Ausstellung für die Königliche Gemäldegalerie Dresden erworben, fiel jedoch im Zweiten Weltkrieg der Bombardierung Dresdens zum Opfer und wurde zerstört. Zwei vorerst irritierende Forschungsdetails sind hier anzumerken: Der Katalog dieser Großen Kunstausstellung wies das Gemälde noch als »Privatbesitz«⁷ aus, gekauft wurde es danach allerdings »aus dem Berliner Kunsthandel«⁸. Auch dafür findet sich im Eingangsbuch der Kunsthandlung Cassirer eine Erklärung. Es hält fest, dass während der Dauer der Ausstellung das Werk von Hugo Cassirer, dem Cousin von Paul Cassirer, zurückgekauft wurde.⁹ Von Fischer also zu Cassirer, von Cassirer in Cassirer’sche Familienhände und von da zurück zum Händler und weiter in öffentlichen Museumsbesitz. Und das alles in wenigen Monaten. Von außen mag es als komplexes Traden erscheinen oder die jetzige Terminologie würde es als opportunes Insider-Geschäft bewerten; man kann aber auch von einer glücklichen Hand sprechen. Für die Kunsthandlung Paul Cassirer darf dies als vernachlässigbare Routine gewertet werden, denn bedeutenderes Geschehen und markantere Zwischenspiele der Kunstwelt standen in dieser Zeit an.
Zwei Aspekte fallen bei diesen Marginalien dennoch ins Gewicht. Sie stehen für die Möglichkeiten und Grenzen der kunstwissenschaftlichen Forschung, die ihre Ergebnisse und Einsichten aus der Summe kleinster Fakten gewinnt. Manchmal aber fehlen die Brücken zwischen den einzelnen Fakten, die im besten Fall zu logischen und im schlechteren zu spekulativen Rückschlüssen zwingen. Dann kann der Disziplin Kunstwissenschaft schon mal das »Wissen« aus der Wortverbindung fallen. Die ordentlich geführten Cassirer’schen Geschäftsbücher überlebten weniger ordentlich Vertreibung und Flucht in der Zeit des Nationalsozialismus. So kommt es, dass die vorhandenen Restbestände nur mit Brücken zu interpretieren sind.
Mit den Fakten dieser Inventur lässt sich jedoch eine Lücke schließen: dass unsere Heilige Stunde, alias Sitzende weibliche Figur, zu einem Zeitpunkt zum Kunstsalon Paul Cassirer fand, als die andere Heilige Stunde schon bei seinem Vetter Hugo Cassirer hing und in Kürze für den Transport nach Dresden an die Große Kunstausstellung verpackt werden musste.
Die zwei Schwesternbilder mit demselben Motiv, derselben Größe und der identischen Bildanlage werden sich in Berlin also kaum physisch begegnet sein. Und also müssen sie dort zusammen gesehen werden können, wo die Wahrscheinlichkeit sie zusammen sehen kann: am Ort ihres Entstehens, im Atelier des Künstlers, bei Ferdinand Hodler im Jahr 1910. Die Spur führt zurück nach Genf.
2.
Genf – Kartografie eines Künstlers
1910 ist Ferdinand Hodler 57 Jahre alt und dort »angekommen«, wo man einen Künstler an seinem Ruf in der Kunstwelt und am materiellen Erfolg misst. Sein Hauptatelier an der Rue du Rhône 29 in Genf, in der bescheidenen Dachetage eines vornehmen Häuserblocks mit Aussicht über den See und die dahinterliegende Jurakette, kann kaum soviel produzieren wie gewünscht, gefordert und ersehnt wird. Die angestammten Schweizer Freunde und Sammler, die Hodlers