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Weiße Eifel: Kriminalroman
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eBook319 Seiten4 Stunden

Weiße Eifel: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Skurrile Figuren, geschliffene Dialoge und ein Showdown, der es in sich hat.

Der zurückgezogen in einem Eifeldorf lebende Oskar Bylandt steht einem millionenschweren Tourismus-Projekt im Weg. Als erst sein Hund erschossen und dann auch noch ein Toter bei ihm gefunden wird, holt Oskar seinen Vetter aus Köln zu Hilfe. Wieder einmal betätigt sich Harry Immanuel Bylandt als Detektiv und läuft in der Eifel zur Höchstform auf. Das muss er auch, denn es bleibt nicht bei einer Leiche.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum15. Nov. 2018
ISBN9783960414322
Weiße Eifel: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Weiße Eifel - Stefan Winges

    Stefan Winges ist nach einem Studium der Philosophie als Autor, Antiquar und Lehrer für Kampfsport tätig und lebt mit Frau und zwei Katern in einem alten Haus in Köln. Bisher hat er neben einem Hörspiel für den WDR sieben Romane veröffentlicht, in denen es unter anderem auch Sherlock Holmes an den Rhein verschlägt.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    © 2018 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: MMchen/photocase.de

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Lothar Strüh

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-432-2

    Originalausgabe

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    www.emons-verlag.de

    EINS

    In der Nacht hatte es offenbar weiter kräftig geschneit. Er würde die lange Auffahrt also noch einmal freischaufeln dürfen. Zwanzig Zentimeter Neuschnee waren auch für den Landrover zu viel. Nicht, dass er sich beklagte, dafür hatte er die Festtage viel zu oft in den Tropen verbringen müssen, bei schmelzenden Kerzen und Temperaturen um vierzig Grad. Er freute sich über den Schnee und die Aussicht auf eine weiße Weihnacht. Wenn er ehrlich war, so freute er sich sogar auf das Schneeschippen. Eine ordentliche Morgengymnastik konnte nicht schaden.

    Oskar füllte den Kessel und setzte ihn auf die Herdplatte. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, lehnte er sich gegen die Theke, verschränkte die Arme und betrachtete versonnen das Postkarten-Idyll draußen vor dem Fenster. Wie eine riesige, blendend weiße Decke lag der Schnee meterhoch auf den Wiesen und Feldern unterhalb des Hauses. Die Landschaft wirkte still, friedlich und noch unberührt. Nur die Landstraße, die unten im großen Bogen um den Fuß des Hügels und weiter nach Schwarzenbach führte, war schon geräumt worden. An beiden Seiten türmte sich der Schnee zu einem regelrechten Wall auf. Der Lärm des Pflugs war bis in sein Schlafzimmer zu hören gewesen und hatte ihn geweckt.

    Allerdings gehörte im Moment auch nicht viel dazu, ihn aufzuwecken. In letzter Zeit schlief er schlecht.

    Er konnte sich nicht genau erinnern, wann es das letzte Mal so viel Schnee in der Eifel gegeben hatte. In seiner Kindheit natürlich, so kam es ihm jedenfalls im Rückblick vor. Damals schien jeder Winter so gewesen zu sein. Nichts als Schlittenfahrten, Schneeballschlachten und riesige Schneemänner, die sie vor dem Haus aufgebaut hatten. Und kalt war es gewesen, saukalt. Die Wollhandschuhe immer nass, genau wie die Strümpfe, weil die Schuhe nie lange dicht gehalten hatten. Nach zwei, drei Stunden waren er und seine Spielkameraden dann jedes Mal verfroren in die Küche zurückgelaufen, um ihre klammen Hände und die nackten Füße am Ofen aufzuwärmen. Oskar konnte beinahe noch das schmerzhafte und doch so angenehme Kribbeln spüren, wenn die Finger allmählich wieder auftauten. Sogar der Geruch nach heißen Äpfeln, von denen anscheinend immer einige oben auf der Herdplatte gelegen hatten, schien auf einmal wieder in der Luft zu schweben. In den Nächten hatte er sich dann unter das schwere Plumeau verkrochen, und jeden Morgen war das Fenster in seiner Schlafkammer dick mit Eisblumen bedeckt gewesen. Geheimnisvolle Figuren und Muster, denen man mit den Fingern folgen und dabei so leicht ins Träumen geraten konnte. Richtige Winter halt.

    Das leise Brodeln des Wassers rief Oskar aus seinen Erinnerungen zurück. Er setzte den Filterbecher aus Plastik auf die Isolierkanne, legte eine Filtertüte hinein und füllte sie mit drei großen Löffeln Kaffeepulver auf. Dann nahm er den mittlerweile pfeifenden Kessel von der Platte und goss vorsichtig ein. Als das kochend heiße Wasser sich mit dem Pulver vermischte, verbreitete sich das Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee in der Küche.

    Genießerisch zog er den Duft ein, nur um anschließend bedauernd zu seufzen. Die Eisblumen vermisste er nicht wirklich. Im Gegenteil, er war dankbar für die Annehmlichkeiten einer immer noch halbwegs funktionierenden Zentralheizung aus den Siebzigern. Nein, was er wirklich vermisste, jeden Tag vermisste, war eine Gauloise zum Morgenkaffee. Oder zwei. Aber auf die würde er wohl in Zukunft verzichten müssen, hatte ihm sein Zahnarzt eröffnet, zumindest wenn er seine Implantate auf Dauer behalten wollte.

    Auf der Straße kam ein gelber Lieferwagen in Sicht. Er hielt unten vor der kaum noch erkennbaren Einmündung der Hauszufahrt und hupte kurz, bevor er seine Tour fortsetzte. Das Signal galt Oskar. Er goss sorgfältig den Filterbecher ein zweites Mal voll, dann stieg er in seine gefütterten Gummistiefel und nahm den langen Wintermantel vom Haken. Flüchtig überlegte er, Stanley zu einer Runde Frühsport zu verdonnern, aber damit würde er sich nur unbeliebt machen. Also stapfte er allein hinunter zur Straße, um die Post zu holen.

    Der Briefkasten war ein solides Modell aus Metall, das sich aus dem amerikanischen Mittelwesten hierher verirrt zu haben schien. Er stand etwas zurückgesetzt von der Fahrbahn, montiert auf einem Eisenpfosten. Die vom Pflug aufgetürmten Schneemassen überragte er nur knapp, und die dicke Schneeschicht auf seinem halbrunden Dach wirkte wie eine Verzierung aus Zuckerwatte. Auf der klappbaren Vorderseite war ein graviertes Schild angebracht: »Haus Bellevue«. Die leicht verschnörkelten Buchstaben passten nicht ganz zum eher rustikalen Stil des Briefkastens. Ein Familienname fehlte. Oskar hatte die Beschriftung so belassen, als er vor ein paar Jahren wieder hierher zurückgezogen war. Das Haus gehörte nun mal zu der Sorte, die einen eigenen Namen führt.

    In der Box steckten seine Zeitung, die unvermeidlichen Werbebroschüren und ein gutes halbes Dutzend Briefe und Weihnachtskarten. Er stopfte alles in seine Manteltaschen, warf einen ergebenen Blick den Hügel hinauf und marschierte den Weg wieder zurück. Man wohnte eben nicht ungestraft in einem Haus, das »Bellevue« hieß und diesen Namen auch verdiente, wie Oskar gern zugab. Von der hoch gelegenen Terrasse vor dem Haus hatte man nicht nur eine wunderschöne Aussicht auf das Tal, auch die herrschaftliche Villa selbst konnte sich sehen lassen. 1904 in dezentem Jugendstil erbaut, bot sie mit ihren geschwungenen Fensterlinien, den runden Erkern und dem kleinen Turm einen recht dekorativen Anblick, keine Frage. Vermutlich hatte es seinerzeit auch nie an Personal gemangelt, das jeden Tag die Post hinaufgeschleppt hatte.

    In der Zwischenzeit war der Kaffee durchgelaufen. Oskar schenkte sich einen großen Becher voll, setzte sich an den Tisch und ging seine Post durch. Hauptsächlich handelte es sich um die üblichen Weihnachtsgrüße: ein paar Karten aus Übersee von alten Freunden aus dem Amt, von seiner Sparkasse, der Kirchengemeinde, dem Heimatverein und einer regional ansässigen Maklerfirma, die seine diplomatisch formulierte Antwort auf ihre lästigen Anfragen offenbar gründlich missverstanden hatte. Wie jedes Jahr brachte sich auch ein angeheirateter Cousin zweiten oder dritten Grades, so genau wusste Oskar das gar nicht, mit einer Weihnachtskarte als potenzieller Erbe in Erinnerung. Der Junge hatte einen langen Atem, das musste man ihm lassen.

    Die Werbeprospekte für Neujahrsböller und Last-Minute-Weihnachtsgänse schob er achtlos zur Seite. Übrig blieb noch ein unfrankierter Umschlag, an ihn adressiert, aber ohne Absenderangabe. Oskar riss ihn auf. Er enthielt eine einfache weiße Karte, auf der in gedruckter Großschrift nur zwei Worte standen: »Letzte Warnung!!«. Zur Sicherheit hatte sie jemand noch mit einem Filzschreiber dick unterstrichen und gleich zwei Ausrufungszeichen hinzugesetzt.

    Bedächtig trank Oskar erst seinen Kaffee aus, den Blick unverwandt auf die Karte gerichtet. Dann steckte er sie zurück in den Umschlag und riss ihn mittendurch. Anschließend schenkte er den Becher wieder voll, nahm ihn in beide Hände und lehnte sich zurück. Nur am Rande nahm er wahr, dass draußen leichter Schneefall eingesetzt hatte.

    »Verdammte Implantate!«, murmelte er.

    Eschborn hob beschwichtigend die freie Hand, obwohl van der Bock die Geste nicht sehen konnte. »Keine Sorge, ich arbeite daran.«

    »Mit dem nötigen Nachdruck, hoffe ich. Wenn Sie diesen Bylandt nicht endlich zur Vernunft bringen, haben wir ein Problem.«

    Eschborn lächelte freudlos. »Sie meinen, ich habe dann ein Problem.«

    »Genau das meine ich. Ein ernstes Problem.«

    Eschborn nickte nur, ohne etwas zu sagen.

    »Sie haben noch Zeit bis Ende des Jahres«, fuhr van der Bock kühl fort. »Eine weitere Fristverlängerung wird es nicht geben, das sollte Ihnen klar sein.«

    »Selbstverständlich. Eine Verlängerung ist auch nicht erforderlich, Sie können unbesorgt sein. Ihre Mandanten auch.«

    »Schön, dann erwarte ich, bald von Ihnen zu hören. Angenehme Festtage.«

    Bevor Eschborn die Wünsche erwidern konnte, hatte sein Gesprächspartner die Verbindung bereits unterbrochen. Langsam legte Eschborn sein Smartphone auf die Schreibtischplatte und versuchte, das kaum merkliche Zittern seiner Hand zu unterdrücken. Die kultivierte Stimme am anderen Ende der Leitung war höflich geblieben. Ein Edgar van der Bock hatte es nicht nötig, zu drohen oder gar ausfallend zu werden. Die Botschaft war auch so deutlich genug. Eschborn blieb nur noch eine Woche, um die Verträge endgültig unter Dach und Fach zu bringen. Eine Woche, um Oskar doch noch umzustimmen. Andernfalls würden die russischen Investoren, die van der Bocks Kanzlei vertrat, ihre Einlagen mit sofortiger Wirkung zurückziehen. Ihre sämtlichen Einlagen. Eschborn gab sich keinen Illusionen darüber hin, was ihn dann erwartete. Er stand vor dem vollständigen finanziellen Ruin. Und das war nicht einmal die schlimmste Aussicht.

    Er zog die untere Schublade auf, die mit der Flasche. Eigentlich war es noch zu früh für einen Schluck, sicher, aber zum Teufel damit. Er goss sich gleich einen Doppelten ein und nahm das Glas mit hinüber zu dem bodentiefen Fenster, das praktisch die gesamte Nordseite des großen Raums bildete. An den Panoramablick über den Fluss und die halbe Stadt hatte er sich immer noch nicht gewöhnt, und jetzt, so tief verschneit, sah Köln überdies seltsam verfremdet aus. Eschborn trank einen großen Schluck und spürte, wie der hochprozentige Alkohol heiß seine Kehle hinunterlief. Zugegeben, die Aussicht auf den Dom war spektakulär, trotzdem hatte er für die Wohnung zu viel bezahlt. Das war ihm von Anfang an klar gewesen, hatte aber nichts genützt. Bei den Verhandlungen hatte der Makler gnadenlos gemauert, anscheinend gab es für das Penthouse im alten Rheinhafen auch zu diesem Preis noch genug andere Interessenten. Dabei gefielen Eschborn die drei neuen Kranhäuser nicht einmal besonders, die so hochgelobte Architektur war ihm viel zu klobig. Aber die Adresse machte etwas her, und ein Lukas Podolski in der Nachbarschaft schadete auch nicht. Bei Caro hatte es jedenfalls gewirkt. Bei van der Bock nicht. Für den würde er immer der Bauer aus dem Eifelkaff bleiben, der neureiche Emporkömmling, egal was er anstellte.

    Da konnte er auch ruhig schon vormittags Selbstgebrannten aus der Eifel trinken. Er leerte sein Glas in einem Zug und verzog das Gesicht. Wieder fühlte er seine Kehle brennen, dann machte sich eine wohlige Wärme in seinem Magen breit. Früher hatte er darunter gelitten, nicht wirklich dazuzugehören. Zu wissen, dass sich einige Türen nie für ihn öffnen würden. Mittlerweile war ihm das egal. Auch ein van der Bock tanzte nach der Pfeife der Russen, sein elitäres Gehabe war hohl und verlogen. Letztlich ging es nur um Geld, nichts weiter.

    Eschborn sah auf seine Breitling und verzichtete auf ein weiteres Glas. Er musste sich beeilen, die Geschäfte in der City würden an Heiligabend nur bis Mittag geöffnet sein. Außerdem wollte er nicht mit einer zu auffälligen Fahne in der Dessous-Boutique aufkreuzen. Es war auch so schon peinlich genug. Caro hatte dort in der Auslage ein Teil bewundert, das Eschborn nicht auf Anhieb für ein Kleidungsstück gehalten hätte. Es erinnerte eher an ein drapiertes Geschenkband. An ein sehr sparsam drapiertes Geschenkband, was vermutlich auch Sinn und Zweck des Arrangements gewesen war. Zum Ausgleich hatte der Preis im höheren dreistelligen Bereich gelegen. Eschborn fragte sich, wie man so etwas wohl an- und auszog. Aber das würde er ja erfahren. Immerhin war Weihnachten.

    Und danach würde er sich um Oskar kümmern.

    Hatte er etwas vergessen?

    Nachdenklich musterte Max seine Reisetasche aus braunem Segeltuch, die geöffnet vor ihm auf dem Bett stand, umgeben von Reiseutensilien und ein paar restlichen Kleidungsstücken. Ihre besten Tage hatte sie bereits hinter sich, fiel ihm auf. Die Seiten waren abgewetzt und etwas fleckig, die mit Leder verstärkten Ecken verschrammt. »Bestoßen, mit deutlichen Gebrauchsspuren«, hätte es in einem Antiquariatskatalog geheißen, »ordentliches Exemplar«. Vor allem war sie schon ziemlich vollgepackt. Er verstaute seinen Kulturbeutel in der Tasche, zögerte kurz und stopfte dann den dicken Wollpullover auch noch hinein. Zwar ließ sich jetzt der Reißverschluss nur mit Mühe zuziehen, aber einen zweiten Pullover würde er draußen im Bergischen ganz sicher gut gebrauchen können. Längst nicht alle Zimmer in dem alten Herrenhaus waren beheizt.

    Er trug die Tasche hinunter in die Küche. In der Kanne war noch ein letzter Rest Kaffee, den er sich einschenkte. Anschließend schaltete er die Warmhalteplatte der Maschine aus. Vorsichtig nippte er an der heißen Tasse und betrachtete dabei die exotischen Ansichtskarten auf seiner Kühlschranktür. Inzwischen waren es über ein halbes Dutzend, eine richtige kleine Sammlung. Maria hatte Wort gehalten und anscheinend von jeder größeren Insel, die sie mit ihrem Boot angelaufen war, eine Karte geschickt. Die letzte war erst gestern gekommen, pünktlich zu Weihnachten: »Happy Seasons from Samoa«. Zusammen mit einer Einladung, sie doch auf ihrem Schoner zur nächsten Insel zu begleiten. Durch die Südsee auf den Spuren von Stevenson und Jack London – wenn das keine verführerische Vorstellung war!

    Vor seinem inneren Auge sah sich Max schon in einem Liegestuhl auf Deck ruhen, ein Glas in der Hand und nichts als Teak und poliertes Messing um ihn herum. Ein sanft geschwungener, von Palmen gesäumter Sandstrand auf der Landseite, weit draußen auf See ein goldener Sonnenuntergang. Maria, mit dem Rücken gegen die Reling gelehnt, lächelte ihn an, während sich das leise Rauschen der Brandung und ferne Hula-Klänge mit dem Klimpern der Eiswürfel in den Cocktails mischten. Magnum hätte es nicht besser hinbekommen. Und wenn sie nicht geschmolzen sind, so klimpern sie noch heute.

    Amüsiert verzog Max seinen Mund. Zu einem richtigen Lächeln reichte es nicht. So verlockend die Einladung war, folgen würde er ihr nicht. Nur eine Etappe war ihm zu wenig, das wusste Maria natürlich auch. Trotzdem war es ein nettes Angebot, und die Palmenstrände machten sich gut an seinem Kühlschrank.

    Mit einem Magneten platzierte er die Karte neben die anderen und trat wieder zurück. »Na dann!« Grüßend hob er seine Tasse. »Aloha! Oder wie immer das auf Samoa heißen mag.« Immerhin bestand dort kein großer Bedarf an zusätzlichen Wollpullovern, so viel war sicher.

    Ein Blick auf die verschneiten Baumkronen vor seinem Fenster brachte den Hauch von Südsee, der gerade noch die Küche durchweht hatte, im Handumdrehen zum Verschwinden. Es gab endlich wieder einen richtigen Winter. Sogar hier in Köln blieb der Schnee kniehoch auf den Dächern und nicht geräumten Flächen liegen. Das kam nur selten vor, und laut Wetterbericht waren die nächsten Schneefronten bereits im Anmarsch. Vermutlich feierten hartgesottene Trump-Fans schon die Widerlegung des Klimawandels.

    Im Bergischen bei Harry musste es jetzt traumhaft aussehen. Max freute sich auf den Besuch, freute sich auf weiße Weihnachten wie aus dem Bilderbuch. Oder eher noch wie aus einem guten alten englischen Landhauskrimi, nur ohne Dinnerjacket. Und ohne die obligatorische Leiche in der Bibliothek mit anschließender Mörderjagd als Gesellschaftsspiel. Obwohl Max den gar nicht so leisen Verdacht hegte, dass Harry einer solchen womöglich einiges abgewinnen konnte.

    Stattdessen würde es wie immer gefüllten Truthahn geben, ausgiebig Punsch am Kaminfeuer und dabei einen der Peter-Alexander-Filme aus Harrys legendärer Sammlung, was sich schlicht nicht vermeiden ließ. Als krönenden Abschluss dann die Mitternachtsmette mit Gesangseinlage in der Dorfkirche. Letzteres allerdings nur optional, soweit der Alkoholpegel das noch erlaubte. Laut Harry durfte man nämlich erst dann zu Recht von einem »Punsch« reden, wenn der entflammbar war, und damit meinte er leicht entflammbar.

    Also mehr oder weniger das gleiche Programm wie in den letzten zwanzig Jahren, womit Max durchaus einverstanden war. Weihnachten bei Harry auf Ahrenfels zu verbringen, und zwar genau so, hatte sich längst zu einem dieser kleinen persönlichen Rituale entwickelt, mit denen man sich im Leben komfortabel einrichtete. Ein Ritual, das Max nicht missen wollte.

    Harry kam sogar pünktlich, sofern man ihm das akademische Viertel zubilligte. Er klingelte zweimal kurz, kam aber nicht herauf, sondern wartete unten im Wagen. Als Max die Haustür hinter sich ins Schloss zog, verstand er auch, warum. Der dunkelgrüne Benz blockierte die Hofeinfahrt des Nachbarhauses. Da Harry sonst in diesen Dingen nicht zimperlich war, musste es für den laufenden Motor eine andere Erklärung geben. Max beschlich eine böse Vorahnung, die durch den Umstand verstärkt wurde, dass Harry hinter dem Steuer nicht nur seinen Dufflecoat anbehalten, sondern auch noch die Kapuze hochgeschlagen hatte und damit aussah wie ein Jedi-Ritter. Außerdem trug er Handschuhe.

    »Die Heizung schwächelt am Anfang immer etwas«, erklärte Harry ungerührt, nachdem Max sich angeschnallt hatte. »Wird gleich besser.«

    Max nickte, ohne schon überzeugt zu sein, und zog den Reißverschluss seiner Skijacke bis unters Kinn. Bei einem Wagen, der inzwischen offiziell als Oldtimer galt, musste man eine lausige Heizung eben in Kauf nehmen. Harry hatte ihn damals zusammen mit dem Anwesen geerbt. Anders als die Gebäude war er in einem tadellosen Zustand gewesen, eine wahre Augenweide. Wegen der obszönen Tankquittungen benutzte Harry ihn nur selten, doch wenn wie jetzt Schnee lag, hatte das schiere Gewicht des Benz seine Vorteile.

    Der Verkehr hielt sich in Grenzen, an Heiligabend trieb es nicht viele heraus auf die Straßen. Sie kamen gut durch die Stadt, und tatsächlich machte sich nach und nach die Heizung bemerkbar. Als sie über die Zoobrücke das ehemals römische Germanien in Richtung Wildnis verließen, hatte sich das Wageninnere immerhin so weit erwärmt, dass Harry seine Handschuhe auszog. Es würde dieses Jahr noch einen weiteren Gast auf Ahrenfels geben, erfuhr Max, einen Vetter von Harry, der sich kurzfristig und anscheinend auch überraschend angekündigt hatte.

    »Du hast hoffentlich nichts dagegen«, entschuldigte sich Harry. »Oskar ist mein nächster Verwandter, obwohl wir uns kaum noch sehen.« Das erklärte, warum Max noch nie von diesem Vetter gehört hatte. »Sein Vater war der ältere Bruder von meinem Vater. Als Kind war ich oft zu Besuch bei ihnen in der Eifel. Es gab einen richtigen Sessellift und im Winter auch eine tolle Rodelbahn. Ich habe mich dort immer wohlgefühlt, wir hatten eine Menge Spaß, Oskar und ich. Aber dann haben sich unsere Väter fürchterlich verkracht und bis zu ihrem Tode kein Wort mehr miteinander geredet.«

    »Streit ums Erbe?«

    Harry wiegte leicht den Kopf hin und her. »In gewisser Weise«, stimmte er zögernd zu. »Es ging nicht etwa um Geld oder so, dafür wäre eh nicht genug da gewesen. Das hätte sich nicht gelohnt. Nein, mein Onkel konnte einfach nicht akzeptieren, dass sein Bruder das ›von‹ vor dem Namen abgelegt hatte. Das sei ein Verrat an der Familienehre. Und als mein Vater dann darauf bestand, dass in Deutschland der Adel immerhin schon seit 1919 abgeschafft war und es folglich auch keine Barone mehr gab, sondern nur noch Leute, die so hießen, war der Ofen endgültig aus. Als der Ältere der beiden sah mein Onkel sich natürlich als Familienoberhaupt. Also hat er meinen Vater verstoßen.«

    »Im Ernst? Nur deswegen?«

    »Schwer verständlich, ich weiß.«

    »Und sie haben sich nie wieder versöhnt? Auch später nicht?«

    »Es gab kein Später, jedenfalls nicht lange.«

    Max konnte sich dunkel an Harrys Vater erinnern, einen freundlichen, aber sehr kranken Mann, der meist in einem Rollstuhl gesessen hatte. Er hatte ein Bein und wohl noch einiges andere in Stalingrad verloren, als er gerade mal zwanzig gewesen war. Davon hatte er sich nie mehr ganz erholt und war Anfang der siebziger Jahre gestorben.

    »Immerhin ist er zur Beerdigung seines Bruders gekommen«, erklärte Harry mit einem Achselzucken. »Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen, nicht lebendig.« Es klang nicht so, als wäre das ausschließlich die Schuld seines Onkels gewesen. Auch Harry konnte stur sein.

    »Was ist mit deinem Vetter?«

    »Oskar. Wir haben über die Jahre immer losen Kontakt gehalten. Er ist nach dem Studium standesgemäß in den diplomatischen Dienst eingetreten. Anscheinend ist dafür ein ›von‹ auch heute noch recht hilfreich. Er selbst hätte ja lieber als Historiker gearbeitet, aber das kam nicht in Frage. Sein Vater hat ihm da keine große Wahl gelassen. Dabei war Oskar denkbar ungeeignet für diesen Beruf, das diplomatische Corps muss für ihn die Hölle gewesen sein. Oskar ist abgrundtief schüchtern Fremden gegenüber, und seine Versuche, das zu kompensieren, haben immer schon ausgesprochen arrogant gewirkt. Dabei ist er im Grunde ein lieber Kerl, nur etwas … sagen wir: verschroben. Und sehr eigensinnig.«

    »Tatsächlich? Muss dann wohl der Einzige in eurer Familie sein.«

    Harry überhörte souverän die kleine Spitze. »Oskar hat dann auch keine große Karriere gemacht, immer nur untergeordnete Posten, die sonst niemand haben wollte. Weitab vom Schuss, in unbedeutenden exotischen Ländern. Vor ein paar Jahren hat er vorzeitig seinen Abschied genommen, als Vizekonsul oder so. Seitdem wohnt er wieder in Schwarzenbach und treibt historische Studien, hauptsächlich Familiengeschichte.«

    »Hat er selbst Familie? Frau, Kinder?«

    »Nein, Oskar hat nie geheiratet. Er ist das, was man früher einen eingefleischten Junggesellen genannt hätte. Einen Hagestolz, wenn es so etwas noch gäbe. Jedenfalls lebt er sehr zurückgezogen dort unten. Außer mit seinem alten Stanley pflegt er nicht viel Umgang, glaube ich.«

    »Moment – er hat einen Diener?« Irgendwie hätte Max das nicht gewundert.

    Harry grinste von einem Ohr zum anderen. »Diener ist gut, das muss ich ihm erzählen!«

    »Was ist daran so lustig?«

    »Nun ja, die Machtverhältnisse zwischen den beiden sind nicht so eindeutig. Stanley ist eine alte Bulldogge.«

    »Ein Hund.«

    »Genau. Oskar hat schon als Kind immer Hunde gehabt und sie alle nach berühmten Afrikaforschern benannt. Ich kann mich noch gut an einen Gustav erinnern.«

    »Wie die Nachtigall, nehme ich mal an, nur mit einem ›L‹.« Auch Max war schließlich als kleiner Junge mit den Forschern und Entdeckern früherer Zeiten auf große Fahrt gegangen.

    »Chapeau!«, zollte Harry übertriebenen Respekt. »Gustav war allerdings ein Pudel. Und ein bissiges Mistvieh.« Trotzdem erschien ein verträumtes Lächeln auf Harrys Gesicht.

    »Scheint, als wäre dein Vetter ziemlich einsam da draußen in der Eifel. Warum hast du ihn nicht schon früher über Weihnachten eingeladen?«

    Harrys Lächeln verschwand. »Das habe ich. Seit Jahren schon, aber Oskar hat immer abgesagt. Nur diesmal nicht. Er hat letzte Woche angerufen, sich für die Einladung bedankt und sich für den ersten Weihnachtstag angekündigt.«

    Max sah Harry fragend an. Irgendetwas an dem Telefonat musste ihn gestört haben.

    »Es klang so, als hätte er Ärger.«

    Die beiden Näpfe für das Nass- und Trockenfutter waren noch halb voll. Offenbar hatte Stanley keinen großen Appetit und hielt es für unter seiner Würde, aufzustehen und sein Herrchen zu begrüßen. In

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