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Besser, wenn du gehst: Der Mannheimer Epochen-Roman
Besser, wenn du gehst: Der Mannheimer Epochen-Roman
Besser, wenn du gehst: Der Mannheimer Epochen-Roman
eBook1.107 Seiten19 Stunden

Besser, wenn du gehst: Der Mannheimer Epochen-Roman

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Über dieses E-Book

Herausgerissen aus ihrem Lebensmittelpunkt in ihrer kurpfälzischen Heimat erleben die beiden Mannheimer Freunde Richard Bittermann und Heinrich Lachner als junge Soldaten hautnah die Schlachten des Ersten Weltkriegs, schlagen sich durch die unruhigen Zeiten der Weimarer Republik und leiden bereits unter den ersten Anzeichen der Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkenden in der herannahenden Nazi-Zeit. Der Jude Richard Bittermann spürt die drohende Gefahr für sich und seine Familie. Frisch verliebt und tief verwurzelt in seiner Heimatstadt, will er Mannheim dennoch nicht verlassen. Bald steht er vor existenziellen Entscheidungen.

Frank Wündsch gelingt es, die dramatischen Zeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die das Bewusstsein von Generationen geprägt haben, packend und authentisch darzustellen und erlebbar zu machen. Vor allem der Mannheimer Lokalkolorit und die Eigenheiten der Kurpfälzer spielen hierbei eine tragende Rolle. So findet sich der Leser zusammen mit den Protagonisten im Mannheim der 20-er und 30-er Jahre wieder. Er durchlebt mit den Helden des Romans die kleinen Freuden und großen Nöte des Alltags und trifft auf Mannheimer Originale, die bis heute in Erinnerungen fortleben.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Sept. 2016
ISBN9783954286621
Besser, wenn du gehst: Der Mannheimer Epochen-Roman

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    Buchvorschau

    Besser, wenn du gehst - Frank Wündsch

    EINS

    Erster Teil

    1

    Josef Krammer war ein geachteter Mann, in jungen wie in alten Tagen. Damals in Simmering vor den Toren Wiens hatte er das Handwerk des Tischlers erlernt und dies mit beachtlichem Erfolg. Eigentlich alles, was Krammer unternahm, war mit Erfolg und Anerkennung verbunden.

    Auch mit dem Erbe seines verstorbenen Vaters wusste er umzugehen und kaufte sich ein Kaffeehaus am Marktplatz des Ortes. Das lief gut, weil der redselige wie umgängliche Krammer viele Freunde hatte, die seine Lokalität beehrten. Zudem war er Hauptmann der Simmeringer Feuerwehr geworden. Die hiesige Feuerwehr war eine respektable Truppe, wohltrainiert und engagiert beim Einsatz. So engagiert, dass die Kameraden im nahen Wien bei Bedarf deren Dienste in Anspruch nahmen und die Simmeringer auch beim Löschen einer Schule aushalfen. Bei diesem Einsatz rettete Krammer zwei Schülern und einem Lehrer das Leben. Die Wiener Zeitungen berichteten ausführlich über seine große Tat mit der Folge, dass sein Kaffeehaus noch mehr Gäste fand und Krammer neues Personal einstellen musste. An der Theke stand er immer seltener, saß stattdessen mal an diesem, dann an jenem Tisch und plauderte mit seinen Gästen.

    Charme hatte er, der Josef Krammer. Der machte sein mäßiges Äußeres mehr als wett. Bei den Damen war er sehr beliebt, kokettierte mit den Witwen, war höflich zu den Gemahlinnen, trieb ein wenig Schabernack mit den Honoratioren und hatte für jeden ein gutes Wort. Nur wenn es um Juden ging, umwölkte sich seine Stirn, da wurde der joviale Krammer zornig und bezeichnete sie als Christusmörder und Vaterlandsverräter, die aus dem Lande geworfen werden sollten.

    „Wenn es der Kaiser nicht tut, dann mache ich es", pflegte er zum Vergnügen der Gäste zu schwadronieren. Nur der Leichenbestatter Markus Rabe lachte nicht mit, denn der war Jude. Das wusste Krammer, wie es eben alle wussten. Über diesen Juden sagte der Hauptmann der Simmeringer Feuerwehr auch kein böses Wort, wohl, weil er ein wenig abergläubisch war und fürchtete, dass er dann vom lieben Gott oder von wem auch immer früher abberufen werden könnte, als ihm lieb sein durfte. Und da der fleißige Rabe im Kaffeehaus Krammer die Verwandten der Toten anzutreffen pflegte, blieb er dessen Gast bis zu seinem eigenen Tod.

    Zu Krammers zahlreichen Gästen zählte auch der Wiener Scharfrichter Konrad Menzinger. Der hatte Zeit fürs Kaffeehaus, denn obwohl er seine verantwortungsvolle Tätigkeit nicht nur in Wien, sondern in weiten Teilen des großen Habsburger Reiches auszuführen gewohnt war, gab es nur selten etwas zu richten, denn der Kaiser Franz Joseph war bei Übeltätern gewöhnlich milde gestimmt und ließ die meisten Mörder und anderen Halunken am Leben. Wenn der greise Monarch die eigene Regel brach, kam Menzinger zum Zuge und tat seine Pflicht. Der Henker sprach bei Kaffee und Kuchen gern und ausführlich über seine lebensbeendende Tätigkeit. Die sei gar nicht so leicht, wie manche behaupteten, nicht umsonst benötige er für seine seltenen Auftritte zwei Assistenten. Nächste Woche war es wieder soweit, eine Hinrichtung stand an und ausgerechnet jetzt musste einer seiner Mitarbeiter heiraten. Ob denn nicht der gute und starke Herr Krammer aushelfen könne, fragte der Henker ihn.

    „Wer – ich? Lieber Herr Menzinger, bisher habe ich Leben gerettet und noch keines zum Ende geführt. Mir fehlt hierin jede Erfahrung."

    „Das macht nichts, Herr Krammer. Irgendwann ist immer das erste Mal. Der Delinquent ist übrigens ein ganz verruchter Hund, ein Anarchist übelster Sorte. Hat unserer Majestät nach dem Leben getrachtet. Dafür soll er nun büßen und das wird er auch. Aber der Bursche ist verteufelt schwer. Hat sich in der Haft gut gehalten und alles gegessen, was ihm vorgesetzt wurde. Das passiert selten. Die meisten magern ab, wenn sie wissen, dass es bald zu Ende geht. Seine Henkersmahlzeit hat er schon bestellt: Schweinsbraten mit Kartoffeln und Gurkensalat. Die wird er auch bis zum letzten Krümel essen. Darum ist der Kerl auch so verteufelt schwer."

    „Soll ich ihn denn zum Galgen tragen, mein lieber Herr Menzinger?"

    „Nein, nein, der läuft schon von selber. Doch einer, der Kraft hat, muss ihn etwas hochheben, sonst klappt das Ganze nicht. Wollen Sie mir dabei helfen?"

    „Das ist eine ungewöhnliche Bitte. Die ungewöhnlichste, die ich bisher in meinem Leben gehört habe. Ich weiß nicht, ob ich das machen kann."

    „Bedenken Sie, dass dieser Mann ein Umstürzler ist, der das Leben unserer hochverehrten kaiserlichen Majestät auslöschen wollte."

    „Interessant wäre es ja schon."

    „Interessant und gut für Ihre weitere Reputation. Vergessen Sie nicht, dass die Presse in großer Aufmachung darüber berichten wird, einschließlich der Nennung unserer Namen. Das dürfte Ihren Geschäften doch entgegenkommen, mein lieber Herr Krammer. Ich bin als Scharfrichter ein sehr geachteter Mann. Das war früher anders, jetzt gottlob findet meine Arbeit breite Zustimmung in der Bevölkerung. Wenn das kein Anreiz für Sie ist?"

    Es war wohl Anreiz genug für Josef Krammer. Er willigte ein, sprach von einer großen und verantwortungsvollen Aufgabe und war begierig, seinen Namen in allen Zeitungen des Landes zu lesen. Josef Krammer, vom Lebensretter zum Rächer des Kaisers.

    „Ich mache mit, Herr Menzinger."

    „Eine gute Entscheidung, Herr Krammer."

    Josef Krammer hätte es begrüßt, wenn der Anarchist, der dem Kaiser nach dem Leben trachten wollte, ein Ungar gewesen wäre, denn in Budapest war er noch nie gewesen. Dabei hatte er doch häufig von der außergewöhnlichen Schönheit der Ungarinnen gehört und wollte gern nachprüfen, ob denn das stimmte. Aber das benachbarte Wien würde Ort der Hinrichtung sein und sollte es auch bleiben, also machte sich Krammer mit Menzinger in aller Frühe auf den kurzen und unbeschwerlichen Weg dorthin.

    Die Arbeit sollte sich als eine leichte erweisen, denn der Delinquent zeigte sich kooperativ. Zunächst musste er geweckt werden, denn selbst seine letzte Nacht hatte er, wie die vorigen auch, selig und reinen Gewissens durchgeschlafen.

    „Sie können mir mein Leben nehmen, Herr Richter, hatte er bei seiner Verurteilung in ruhigem Tone geäußert, „aber mehr auch nicht. Meinen starken und unbändigen Geist behalte ich bis zuletzt und, wer weiß, vielleicht auch noch darüber hinaus.

    Den starken Geist behielt er tatsächlich in der Zeit von der Verurteilung bis zur Hinrichtung bei, blieb jedoch zum Wachpersonal höflich, ohne seine Überzeugungen leiden zu lassen, und hatte stets einen guten Appetit. Am Ende wog der große, stattliche Kerl weit über zweihundert Pfund und die sollten gerichtet werden.

    „Der Herr Pfarrer war schon drin, aber nur kurz, Herr Menzinger, meldete der Wächter. „War wohl nicht anders zu erwarten. Schließen Sie die Tür auf.

    „Guten Morgen, Herr Hallerthauer."

    „Guten Morgen, Herr Scharfrichter."

    „Haben Sie gut geschlafen?"

    „Wie selten zuvor."

    „Das freut mich. Sind Sie bereit?"

    „Ja, absolut, Herr Scharfrichter. Gehen wir’s an."

    Tatsächlich ging alles sehr zügig und problemlos vonstatten. Da hatte Menzinger schon ganz andere Dinge erlebt. Manch Verurteilter hatte das Laufen verlernt und musste zum Richtpfahl getragen werden. Andere waren völlig in Tränen aufgelöst, wieder andere flehten um Gnade und wollten den Pfarrer nicht gehen lassen.

    Der verurteilte Anarchist und verhinderte Mörder des Kaisers schritt erhobenen Hauptes zur Hinrichtungsstätte und gab dabei keinen Laut von sich. Er ließ die gesamte Prozedur über sich ergehen, als ob sie nicht ihm galt. Nur als der Scharfrichter ihm die Schlinge um den Hals zog, schloss er kurz die Augen und ließ ein hastiges „Mach’s gut, Mama" über die Lippen gleiten. Dann war er wieder still.

    Unter Anleitung des Herrn Menzinger machte Josef Krammer seine Arbeit gut. Dank seiner beträchtlichen Kraft war es für ihn kein Problem, den schweren Hallerthauer in die Höhe zu hieven, um ihn anschließend an den Schultern zu packen und wieder nach unten zu drücken. Dann war es auch schon vorbei.

    „Sie haben Ihre Arbeit gut gemacht, Herr Krammer, alle Achtung."

    „Danke vielmals, Herr Menzinger. Ich gebe das Lob gerne zurück."

    „Beehren Sie uns bald wieder. Männer wie Sie kann unser Vaterland gebrauchen."

    Das Vaterland brauchte Krammer tatsächlich wieder, doch anfänglich nicht allzu oft. Krammer wurde Menzingers Assistent und als der eines Tages starb, bot man ihm dessen Nachfolge an. Nach reiflicher Überlegung stimmte er zu. Das reifliche Überlegen war erforderlich, da ein österreichischer Scharfrichter gleichzeitig ein braver Beamter zu sein hatte, der keinerlei wirtschaftliche Unternehmungen führen durfte, und sei es nur ein Kaffeehaus. Doch als der Sohn des verstorbenen jüdischen Bestattungsunternehmers Markus Rabe das Geschäft seines Vaters nicht weiterführen wollte und eine andere Einnahmequelle suchte, wurde er mit Krammer schnell einig.

    „Bitte verschweigen Sie Ihren Gästen und vielen Freunden, dass ich der neue Inhaber bin, lieber Herr Krammer. Sie wissen ja, nicht alle Leut’ mögen uns Juden. Ich will ja auch nur stiller Teilhaber sein. Das Kaffeehaus sollte ein richtiger Österreicher führen, das verstehen Sie doch?"

    „Selbstverständlich, Herr Rabe. Wir sind uns einig. Mit Herren wie Ihnen kann man gute Geschäfte machen. Da besteht für mich überhaupt kein Zweifel."

    Auch als Scharfrichter seiner Majestät blieb Josef Krammer ein geachteter Mann. Wie konnte man einem Menschen gram sein, der ruchlose Mörder hinzurichten hatte. Doch auch für diese hatte der Herr Krammer ein Herz. Als technisch versierter ehemaliger Hauptmann der Simmeringer Feuerwehr ersann er einige Neuerungen, die den Tod der Delinquenten beschleunigen sollten, um unnötige Qualen zu vermeiden. In allen Details erklärte der neue Scharfrichter einem jungen Reporter der Wiener Zeitung sein Vorhaben, der es ob seiner zarten Natur eigentlich nicht so genau wissen wollte und nach dem langen Gespräch einen Obstler benötigte, um das Gehörte zu verarbeiten. „Die Halsschlagader wurde zügiger abgeschnürt", war alles, was er behalten hatte, und mehr mussten die Leser seiner Zeitung auch nicht wissen.

    Josef Krammer schien es geahnt zu haben, dass die Hinrichtungen in Zukunft schneller vonstattenzugehen hatten. Mit dem Ausbruch des Krieges, den die Franzosen den Großen Krieg nennen sollten, mussten seine Dienste häufiger in Anspruch genommen werden, denn Spione und Verräter gab es im Reich der Habsburger schließlich genug. Deren Zahl wurde noch größer, nachdem sich nach den Russen und Serben auch die Italiener den Feinden Österreichs angeschlossen hatten, um dem Kaiser das Trentino und Triest zu entreißen. Die treulosen Tomaten, wie die vertragsbrüchigen Italiener genannt wurden, marschierten in den südlichen Alpen auf und bedrohten Tirol wie Kärnten.

    Unter den anstürmenden Alpini befanden sich auch Italiener aus Triest wie der Offizier Angelo Bonetti, der dem Pass nach ein Österreicher war und somit an seinem vermeintlichen Vaterland schmählichen Verrat beging, wie es die Presse rasch verbreitete. Der Verrat war nach Ansicht Wiens so groß, dass, nach Bonettis Gefangennahme auf dem Monte Corno, der Tod die einzige Strafe für diesen Verrat sein konnte. Um diesen fachkundig herbeizuführen, wurde der Scharfrichter Josef Krammer ins beschauliche Sexten im südöstlichen Tirol gerufen, denn dort sollte die Hinrichtung stattfinden.

    Krammer folgte gerne diesem Ruf, er liebte es zu reisen. Als Scharfrichter war er ein Repräsentant der Krone und damit eine Respektsperson, vor der auch jeder Respekt zu haben hatte, und der wurde dem Mann aus Simmering gewährt. Im Zug von Wien nach Bozen war für ihn ein Abteil der Ersten Klasse reserviert worden. Bevor der Zug sich in Bewegung setzte, begrüßte der Lokführer den prominenten Gast mit Handschlag und wünschte viel Erfolg.

    Als Krammer den Zug verlassen hatte, wurde er vom Bürgermeister der Stadt Bozen mit einem Enzian begrüßt. Er sollte noch mehr gebauchpinselt werden, doch mit Verweis auf seine morgige Aufgabe verabschiedete er sich alsbald und ließ sich mit einem Automobil nach Sexten bringen. Dort fand er etwas Zeit und Muße und machte mit dem hiesigen Bürgermeister einen Rundgang durch den Ort.

    „Schön haben Sie’s hier, Herr Bürgermeister. Wunderbare Gegend. Der liebe Gott hat bei der Schaffung der Welt auf Ihre liebliche Gegend sein besonderes Augenmerk gerichtet. Um so wichtiger ist es, dass Sexten österreichisch bleibt und nicht den Katzelmachern in die Hände fällt. Dann wäre es aus mit der Beschaulichkeit."

    „Das möge Gott verhüten. Umso bedeutender ist Ihre Arbeit einzuschätzen, Herr Scharfrichter. Wir müssen den Defätismus mit allen Mitteln bekämpfen, bevor er weiter um sich greift. Sexten bleibt in unserer Hand genau wie Triest. Das müssen die ehrlosen Herren aus dem Süden am eigenen Leibe erfahren. Dafür sind Sie genau der richtige Mann, Herr Krammer."

    Der nickte und zog ein seidenes Taschentuch hervor, um sich die Stirn zu tupfen.

    „Ich werde mein Bestes tun, Herr Bürgermeister. Die Zeit für diesen Herrn Bonetti ist abgelaufen."

    „Daran besteht kein Zweifel. Schauen Sie, Herr Krammer, wir in Sexten brauchen gar keine Uhr, weder eine am Handgelenk noch eine in der Stube. Wir haben hier eine große natürliche Sonnenuhr. Unsere grandiosen Berge ringsum zeigen, was die Uhr geschlagen hat. Wir haben den Neuner, Zehner, Elfer, Zwölfer und den Einser und mithilfe der Sonne können wir ganz einfach die aktuelle Uhrzeit bestimmen."

    Der Scharfrichter seiner Majestät vertraute trotzdem lieber seiner Uhr am Handgelenk und die zeigte ihm die Mittagszeit an. Prompt knurrte gut hörbar sein Magen, und ohne dass ein Wort nötig gewesen wäre, führte der Bürgermeister den Herrn Krammer in das Gasthaus „Zur Post" zu Tisch. Das Lokal hielt auch in harten Kriegszeiten für einen Ehrengast immer eine gute Mahlzeit bereit und alsbald labte sich der Simmeringer an Schweinsbraten mit Knödeln.

    „Das wollen auffallend oft meine Delinquenten als letzte Mahlzeit. Mal sehen, was der Herr Bonetti zu essen wünscht. Wenn er denn Hunger hat", fügte Krammer hinzu.

    „Ich tät keinen Bissen runterkriegen", antwortete der Bürgermeister.

    „Ich auch nicht, bemerkte der Scharfrichter mit vollem Mund und griff nach dem Bierglas. Der Bürgermeister bestellte schnell ein neues, doch Krammer lehnte dankend ab. „Ich muss morgen einen kühlen Kopf bewahren. Das werden Sie doch verstehen. Der Herr Bonetti hat trotz seines ruchlosen Verrats das Recht auf einen würdigen und vor allem schnellen Abgang. Zeigen Sie mir mein Hotel? Ich bin jetzt doch etwas müde. Man wird eben nicht jünger.

    „Wem sagen Sie das, Herr Krammer."

    Die Hinrichtung sollte nicht wie andernorts in aller Frühe stattfinden. Der späte Vormittag war veranschlagt, wenn alles Volk auf den Beinen war. Das Volk war in Sexten in der Regel uniformiert und übertraf an Zahl die der einheimischen Bevölkerung. Der Dienst an Kaiser, Volk und Vaterland war je nach Frontlage und Aufgabenbereich der Soldaten gefährlich, beschwerlich oder langweilig. Gelegenheiten zur Ablenkung und Zerstreuung boten Lokale, kulturelle Veranstaltungen, Häuser mit ziviler und vor allem weiblicher Belegschaft und besondere Ereignisse, wie es nun mal eine Hinrichtung in jenen und anderen Tagen darzustellen pflegte. Bonetti sollte seinen Verrat am eigenen Halse spüren und alle, die laufen konnten, wollten dabei zusehen. Das waren viele. Krammer schätzte die Zahl derer auf annähernd eintausend, wenn nicht mehr. Die nicht kamen, lagen im Lazarett, pflegten die Lädierten oder wachten in Gräben weit oberhalb von Sexten und sorgten dafür, dass der schöne Ort österreichisch blieb.

    Der arme Bonetti wollte dem Kaiser Sexten nie nehmen, das Trentino und Triest sollten italienisch werden, doch er würde das nicht mehr erleben. Ein sonniger Mittwoch sollte sein letzter Tag werden, so hatten es die Richter beschlossen und deren Wille wurde vollstreckt. Der Pfarrer hatte sich bereits von ihm verabschiedet. Dann kam Krammer. Der schien eine unruhige Nacht im guten Hotel verbracht zu haben oder der Verrat Bonettis an seinem Kaiser hatte ihn so sehr erzürnt, dass er recht unwirsch mit dem Verurteilten umsprang, so ganz gegen die Vorschriften und seine bisherigen Gepflogenheiten.

    Der Leutnant der Alpini hatte nichts Militärisches mehr an sich und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die italienische Uniform hatte er gegen einen schäbigen und schmutzigen Anzug eintauschen müssen, der vielleicht dem stattlichen Herrn Scharfrichter gepasst hätte, doch nicht ihm, dem abgemagerten hohlwangigen Mann aus Triest mit den ungestutzten Haaren. Seine Hose hatte keinen Gürtel, sodass Bonetti beim Laufen dieselbige festhalten musste, andernfalls wäre sie ihm auf die Knie gerutscht.

    Bevor sie sich auf den Weg machten, durfte Bonetti ein paar Worte mit einem Geistlichen wechseln, dann gingen sie los. Es war nicht weit bis zum Richtpfahl. Der war in der Nähe des Friedhofs vor einer gewaltigen, ausladenden Eiche errichtet worden. Alle waren bereits da. Die vielen, die zuschauen wollten, und die beiden Assistenten des Scharfrichters. Dazu eine ganze Abteilung Wachsoldaten mit geschultertem Gewehr. Zum ersten Mal an diesem Tage musste Krammer schmunzeln, als er die Soldaten mit den Gewehren sah, denn als er fragte, warum jene da so brav standen, wurde ihm geantwortet, dass dem ehemaligen Mitglied des Wiener Reichsrates bei seiner Hinrichtung eine ganze Abteilung zustehen würde.

    „Da hättet ihr ihm aber auch eine passende Hose geben müssen", sagte Krammer und machte sich an die Arbeit.

    Scharfrichter Krammer las den Versammelten den Schuldspruch des Militärgerichts vor, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, verkündete einige selbst gewählte Worte, die das Vorgetragene unterstreichen sollten, und machte sich anschließend ans Werk. Er legte Bonetti eine kurze Doppelschnur aus Hanf um den Hals, die er zuvor gut eingeseift hatte, und gab seinen Helfern die Anweisung, die Schultern des Italieners nach unten zu drücken. Dies taten sie womöglich zu heftig oder der Hanf war nicht fest genug, denn er riss, Bonetti verlor den Halt und purzelte zu Boden. Der Verurteilte musste unter diesen Umständen unverzüglich begnadigt werden. Der Scharfrichter blickte zum Richter, der für einen Moment zögerte und dann Krammer befahl, einen zweiten Strick anzulegen.

    Der hielt, Bonetti begann mit den Beinen zu zappeln, doch bald gab er Ruhe und hing still. Nachdem ein Arzt den Tod des Angelo Bonetti verkündet hatte, brandete Beifall auf und Krammer verbeugte sich vor seinem Publikum wie ein Schauspieler im Wiener Burgtheater. Ein Fotograf hatte das Ereignis festgehalten. Auch, wie sich Krammer grinsend hinter dem toten Bonetti platziert hatte, wurde aufgenommen und ging um die halbe Welt. So wurde er noch viel berühmter, als er es schon zuvor gewesen war, der Josef Krammer aus Simmering bei Wien, und voller Stolz schickte er seiner greisen Mutter eine Fotografie. Auf die Rückseite schrieb er folgende Zeilen:

    „Liebe Mama, setz Deine Brille auf und schau genau hin. Der Mann mit dem schönen Schnauzbart bin ich, wie Du unschwer erkennen wirst, der andere ist ein Verräter am Kaiser und an Österreich, der nie mehr etwas verraten wird. Dafür hat Dein Sohn gesorgt."

    2

    Auch wenn sie zwei freie Tage hatten, tat Bewegung dringend not. Denn der Männer waren viele, die jetzt nach der Hinrichtung einen Platz im Lokal suchten, um die trockenen Kehlen zu befeuchten, und so war Eile geboten. Im „Zum Peter waren bereits alle Stühle besetzt, doch das spielte keine Rolle, denn dort trafen sich die Unteroffiziere und Feldwebel und die Preise waren auf deren Löhnung zugeschnitten. Dass der „Gute Onkel aus allen Nähten platzte, erwies sich als weit ärgerlicher, da Bier wie Wein billig und die beiden Kellnerinnen sehenswert waren. Im „Grauen Kranich" war die Bedienung nicht ganz so hübsch und vor allem männlich, aber die Getränke gut eingeschenkt und preiswert. Es war kein Tisch mehr frei, doch als der ebenso lange wie breite Lachner ein paar der jungen Freiwilligen, die keiner für voll nahm, in ein anderes Lokal empfohlen hatte, fanden sie endlich Platz. Der schnelle Theodor kannte die drei Herren aus Deutschland und da die Deutschen in Tirol gut angesehen waren, weil sie doch das schöne Land gegen die Italiener zu verteidigen halfen, bekamen sie ihr Bier ganz geschwind. Das war herrlich kühl und frisch. Kaum stand es auf dem Tisch, hatten sie die Gläser bereits halb leer getrunken und bestellten drei neue. Nach dem nächsten Schluck wollte Lachner Skatkarten verteilen, doch Bittermann wie Marquardt winkten ab. Bittermann, weil ihm die Hinrichtung im Magen lag, den er nun mit Bier zu beruhigen suchte, und

    Marquardt, weil er bei der letzten Skatrunde zu viel verloren und das noch nicht verdaut hatte. Zwei freie Tage und vor sich ein frisches, gutes Bier. Herz, was willst du mehr.

    Obwohl, ein bisschen mehr Wohlbefinden hätte es schon sein dürfen. Vor allem an den Füßen. Die waren wund und weh, nur die Aussicht auf einen lauschigen Platz in der Kneipe hatte ihre Schritte beschleunigt. Auch die Schultern schmerzten, eigentlich jeder Körperteil, der dem Menschen Beschwerden verursachen konnte, machte sich unangenehm bemerkbar. Der Krieg schlauchte alle Beteiligten, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Um in der Schreibstube den Bleistift halten zu können, brauchte es nicht viel, glaubten all jene, die nicht das Vergnügen hatten, dort den Krieg zu verbringen. Um als Sanitäter im Lazarett zu arbeiten, brauchte es schon mehr, das Geschrei der Patienten bei Mangel an Morphium gab’s noch obendrauf. Die Grabenkrieger genossen daheim das höchste Ansehen, hatten es jedoch am schwersten. Wer liegt schon gern bei Wind und Wetter dem Feind gegenüber und kann von dem nur blaue Bohnen oder Gröberes erwarten. „Mein Sohn ist Frontsoldat", das zog bei jedem Stammtisch.

    Beim Nachschub war es besser, sagten die meisten. Die Reputation blieb überschaubar, Orden gab es in der Regel keine zu gewinnen, aber die Aussichten, den Krieg heil zu überstehen, waren größer. Außerdem war man nahe an der Quelle, die niemals versiegen durfte, sollte der Krieg jemals gewonnen werden. Allerdings konnte der Nachschub nicht fliegen, sondern musste immer wieder nach vorne gebracht werden oder besser gesagt nach oben. Dafür waren Richard Bittermann, Heinrich Lachner und Max Marquardt zuständig, ab dem übernächsten Tag wieder wie die anderen Tage zuvor.

    Man konnte schwerlich behaupten, dass die drei für diese Aufgabe geschaffen waren, schließlich stammte keiner von ihnen aus den Alpen. Auch den Schwarzwald kannten sie nur vom Hörensagen, obwohl sie Badener waren oder besser gesagt Kurpfälzer. Bittermann und Lachner waren aus Mannheim,

    Marquardt aus Heidelberg. Dessen Eltern hatten ein paar Felder unweit des Weißen Steins, somit hatte er von dem Trio die größte Bergerfahrung.

    Warum es sie in diesem an Schlachtfeldern so reich gesegneten Krieg ausgerechnet in die Tiroler Bergwelt verschlagen hatte, wusste keiner so recht zu beantworten. Das war wie mit dem Koch, der im Krieg als Sanitäter eingesetzt war, oder mit dem Medizinstudent als Kanonier. Womöglich hatte es mit ihren mangelhaften Schießkünsten während der Grundausbildung in Bruchsal bei Karlsruhe zu tun, denn dort trafen sie so ziemlich alles, nur die Zielscheibe blieb unberührt. Bei den Märschen mit schwerem Gepäck waren sie erfolgreicher, der Arbeiter Lachner von den Draiswerken auf dem Waldhof allemal, dem sie auch einen Elefanten auf den Buckel hätten schnallen können. Der Bauernsohn Marquardt bewies ebenfalls seine Zähigkeit und selbst der Handelsgehilfe Bittermann trug seine Last ausdauernd und ohne zu murren.

    „Was sollen wir mit euch tun?, hatte sie der Feldwebel damals gefragt. „Schießen könnt ihr nicht, im Scheißen seid ihr besser, nicht wahr?

    Sie grinsten verlegen, Bittermann hoffte bereits insgeheim auf einen Posten in der begehrten Schreibstube, denn schreiben und auch mit Zahlen umgehen, das konnte er, das hatte er in Mannheim bei Lehmanns Schraubenhandel gelernt. Doch mit der Schreibstube war es Essig, die drei Kurpfälzer, die sich zuvor im Zivilleben nie begegnet waren, wurden nach dem Abschluss der schweißtreibenden Grundausbildung nach Sonthofen versetzt.

    „Sonthofen? Wo is’n des?", fragte Lachner den Feldwebel.

    „Das ist unten im Bayerischen irgendwo in den Alpen. Dort seid ihr den ganzen Tag an der frischen Luft, das heißt, ihr werdet richtig alt, wenn ihr den Krieg überlebt. Alles Gute."

    Keiner von ihnen hatte die Alpen zuvor gesehen, da wurde es höchste Zeit. Krieg im Gebirge, das klang nach Abenteuer, wie es Marquardts Mutter geschrieben hatte.

    „Hauptsache, du musst nicht gegen die Russen ran, mein Junge. Die sind doch so grausam. Mit Gefangenen kennen die kein Pardon. Halt dich wacker und mach mir keinen Kummer."

    Marquardt machte seiner Mutter zunächst keinen Kummer, doch ein wenig Schabernack war wohl erlaubt. Im Bahnhof von Karlsruhe schäkerte er ausgiebig mit einer großen rothaarigen Schwester vom Roten Kreuz, bis der Zug beinahe ohne ihn abgefahren wäre. Der Spieß half freundlich nach, die Hübsche reichte noch hastig das vergessene Brot durchs Fenster, und los ging die Fahrt.

    Sonthofen sei die südlichste Stadt Deutschlands, wurde ihnen gesagt, und sie glaubten es. Der gut aufgelegte Marquardt juxte den anderen etwas von Palmen vor, dann regierten bis München die Skatkarten. Dort gab es für die neu zusammengestellte Kompanie einen kurzen Aufenthalt, den Bittermann dazu nutzte, eine Zeitung zu kaufen. Das Münchener Blatt berichtete über große Schlachten in der Champagne und in den Karpaten. Vom Krieg in den Alpen kein Wort.

    „Die warten damit, bis wir kommen", verkündete Lachner mit vollem Mund. Dann ging die Fahrt weiter.

    Es war Frühling, der hielt sich aber in Sonthofen in eintausend Metern Höhe merklich zurück. Als sie am späten Nachmittag den Zug verließen, pfiff ein kalter Wind aus den Bergen und ließ die Männer fröstelnd ihre dünnen Jacken zuknöpfen. Vom kleinen Bahnhof bis zur Unterkunft war es ein weiter Weg, das viele Laufen sollte ihnen jedoch vertraut werden. Fünf Wochen mussten sie hier verbringen, um das Marschieren so richtig zu üben, denn auch das wollte gelernt sein. Damit sie sich nicht zu einsam fühlten, bekam jeder Soldat ein Tragtier zugeteilt, das den Nachschub auf dem Kriegsschauplatz in Tirol zu den Stellungen bringen sollte. Da es an geeigneten Vierbeinern mangelte, wurde in Sonthofen alles versammelt, was sich und eine Last bewegen konnte. Lachner bekam einen Haflinger, Bittermann ein Maultier und Marquardt ein zartes Pferd, das einem Zirkus zu entstammen schien. „Passt zu dir", meinte Lachner. Leider hatte das Pferd im Zirkus wohl nie mit einem Clown zu tun gehabt, denn es erwies sich als höchst humorlos, war störrisch wie ein Esel und temperamentvoll wie die künftigen Gegner. Marquardt reagierte mit seiner Art von Humor und staffierte das Pferd beim ersten Übungsmarsch aus wie einen Kleiderständer. Selbst seine Ersatzstiefel samt Putzzeug sollte es zum Ziel schleppen. Dem Treiben machte der Bergführer im Range eines Feldwebels schnell ein Ende, indem er Marquardt die Stiefel an den Schädel schmiss und wild drauflos schimpfte:

    „Die Tiere sollen nicht euren eigenen Firlefanz durch die Berge schleppen. Munition und Brot für die kämpfende Truppe nach vorne bringen, das müssen sie tun. Euren Mist müsst ihr selber tragen. Verstanden?"

    Der erste Marsch mit Tier war mühsam, wobei der Vierbeiner das kleinere Problem darstellte. Bergunerfahren, wie die Männer waren, fehlte ihnen die Trittsicherheit, sie neigten zu Hast und drohten mehrmals kopfüber den Hang hinunterzupurzeln. Der Bergführer schwankte zwischen Wutanfällen und Belustigung, tätschelte die Tragtiere und trieb die Männer weiter an. Als sie das Ziel endlich erreicht hatten, welches darin bestand, einen langen, steilen Anstieg zu bewältigen, um dann ohne Pause wieder nach unten zu gehen, sanken die Menschen ins Gras, während sich die Tiere daran labten.

    „Geleitet ihr die Tragtiere oder sie euch?", bemerkte der Feldwebel spitz und nahm aus seiner Feldflasche einen großen Schluck Tee.

    Beim zweiten Marsch lief es besser, obwohl die Last der Zugtiere erhöht wurde. Marquardt hatte Glück. Sein Zirkuspferd wurde gegen ein Maultier eingetauscht. Ersteres landete in der Küche, während das Maultier brav und zuverlässig Munitionskisten durch die Allgäuer Alpen transportierte. Zuverlässigkeit, Langlebigkeit und Zähigkeit waren dessen Eigenschaften. Ohne die Kreuzung aus Pferd und Esel wäre Österreich längst verloren gewesen, behauptete der Feldwebel.

    „Ohne uns auch, behauptete Marquardt keck und griff wieder zum Bier im „Grauen Kranich zu Sexten, wo sie besagte zwei freie Tage hatten. Was macht man mit zwei freien Tagen, die so frei gar nicht waren? Die Antwort hatten sie gefunden, zumindest was den zweiten Tag betraf. Denn da war es an ihnen, die wertvollen Maultiere zu pflegen.

    Bittermann liebte seine Paula, wie man ein Mädchen nur lieben konnte, das gleich vier schöne Beine hatte. Nachdem er sie geschoren und abgebürstet hatte, holte Bittermann Wasser vom Brunnen, gab ihr zu saufen, legte Paula frisches Heu vor die Hufe und mengte das vom Veterinär verordnete Entwurmungsmittel bei.

    „Friss nur, meine Paula. Das wird dir gut tun. Morgen geht es wieder los, dann heißt es ab in die Berge, wo die Luft so klar ist. Das magst du doch, mein gutes Mädchen. Das Wetter ist so schön, genau das Richtige für einen kleinen Ausflug."

    „Ein Ausflug von sechs Stunden Fußmarsch. Und dann wieder sechse zurück. Lüg’ deiner Paula nichts vor, Bittermann. Und dir auch nicht", meckerte Marquardt.

    Sechs Stunden Fußmarsch. Aber nur, wenn das Wetter hielt, alles wie am Schnürchen klappte und der Feind etwas anderes zu tun hatte, als sie zu beschießen. Bis morgen war noch Zeit, der Krieg hatte zu warten. Möge der heutige Tag nie vergehen.

    Bittermann nahm seine Paula und ging spazieren. Den Weg kannten beide gut. Als sie im späten Frühjahr in Sexten angekommen waren, hatte er ihn entdeckt. Zusammen mit Paula. Als er junges Buchenlaub als Beifutter einsammeln wollte und die Abnehmerin sogleich mitnahm. Unweit des Buchenwaldes war ein kleiner See, das Wasser so rein und lau, dass es ein Vergnügen war, die Schuhe abzustreifen und die Füße abzukühlen. Schön war es hier. Bis zum Abend konnte er bleiben und das hatte er auch vor. Während sich Paula an Laub und Gras labte, aß Bittermann Brot mit Leberwurst und trank kalt gewordenen Tee aus der Feldflasche. Musik gab es auch und die reichlich. Nachtigallen, Amseln und andere Vögelchen, die er nicht an der Stimme erkennen konnte, sangen aus voller Kehle und gewährten ihm ein lauschiges Konzert. Nachdem er das Brot verzehrt hatte, machte er sich lang, verschränkte die Arme über dem Kopf und blickte in den wolkenlosen Himmel. Es war Krieg, eigentlich kaum zu glauben. Dreimal war er bisher mit Paula und den Kameraden zur Zsigmondyhütte am Fuße des Zwölferkofels gestiegen, um die dortige Einheit mit dem Nötigsten zu versorgen, und nichts war passiert. Kein Steinschlag, kein Gewitter und schon gar kein Feind. Die Italiener bauten noch, hieß es immer.

    „Was bauen die denn?", hatte Lachner gefragt.

    „Verteidigungsanlagen. Die haben Angst vor uns", gab ihm der Feldwebel zur Antwort.

    Sollten sie noch möglichst lange bauen, vielleicht war der Krieg zu Ende, bis sie fertig waren. Leider ging es weder in Frankreich noch im Osten gut voran, an einigen Stellen ging es zurück, denn der Feinde waren viele und die hatten auch noch viele Waffen. Überall Langrohre der Engländer, hatte Bittermann in der Kneipe aufgeschnappt, von einem, der es wissen musste.

    „Ich war mit dabei in der Champagne. Kinder, hier ist es wunderbar und damit meine ich nicht nur die Landschaft. Bei den Franzosen, da sind die richtigen Schlachtfelder. Hier ist es beschaulich, sehr beschaulich."

    Bittermann gab dem Mann großmütig recht. Fast ein Jahr dauerte bereits dieser Große Krieg und er hatte noch keinen Schuss abgegeben, wobei er bei seinen Schießkünsten wohl eher eine Lawine ausgelöst hätte, als einen Italiener zu treffen. Zum Glück war Sommer.

    Die Fischlein, die seine Füße umspielten, waren ebenfalls harmlos, alles war so friedlich, bis dann doch Gefahr auftauchte, wenn auch lediglich in Form eines Hundes. Der war allerdings ziemlich groß, bellte wüst drauflos, dass selbst die besonnene Paula ein wenig nervös wurde und mit den Hufen scharrte. Bedrohlich baute sich der Schäferhund vor Bittermann auf und bellte ihn an. Der hatte keine andere Waffe als Wasser und spritzte den Köter damit voll. Tatsächlich sprang der erschrocken zurück, achtete nicht auf Paula, die die Hufe hob und diese trotz Bittermanns Warnruf fallen ließ und den Hund am großen Schädel touchierte, der daraufhin wie vom Blitz getroffen zu Boden sank. Das mit dem Bellen war vorerst beendet, hoffentlich nicht für immer, sorgte sich Bittermann. Dafür wurde jetzt ordentlich drauflos geschimpft, und das mindestens genauso laut wie zuvor das Bellen. Die Laute waren heller als die des Schäferhundes, menschlicher Natur, jedoch schwer zu verstehen, da das Tirolerisch der jungen Frau so breit war wie der Dialekt mancher Mannheimer. Bittermann hob beschwichtigend die Hände, sprach aufrichtig von einem Unglücksfall, den er sehr bedauerte und das alles im feinsten Hochdeutsch. Er wusste, wo er sich befand. Seine Worte schienen zu wirken, zumindest etwas, denn das Purpurrot im Gesicht der Frau wurde allmählich ein wenig blasser und ihre Sprache verständlicher. Das Schimpfen wollte sie nicht sein lassen, bezeichnete Paula als Trampel und Bittermann als Trottel. Ersteres tat ihm weh, das Letztere konnte er besser verdauen. Um sie zu besänftigen, goss er Tee in einen Becher und bot ihr davon an. Das warme Wetter schien sie durstig gemacht zu haben, jedenfalls willigte die junge Dame ein, griff nach dem Becher und nahm einen tiefen Schluck. Mit wieder erhobener Stimme forderte sie dann Bittermann auf, sein Maultier vom Hund wegzuführen. Da sie von „Trampel zu „Maultier gewechselt hatte, gehorchte er ihr willig und führte Paula an ein ruhigeres Plätzchen, wo er sie der Vorsicht halber an eine Buche band. Die Tirolerin war bei ihrem Hund und streichelte und liebkoste ihn hingebungsvoll.

    „Mein Karli, du armer Karli."

    Der Hund gab keine Antwort, außer einem unruhigen Schnaufen. Ein Glück, er lebt noch, war Bittermann erleichtert. Die Wunde am Kopf blutete etwas, war aber nicht so gefährlich wie befürchtet. Das sah die junge Frau allerdings anders.

    „Mein Hund ist schwer verletzt, er muss bestimmt sterben und das alles wegen Ihnen. Will unser Land verteidigen und dann so was. So tun Sie doch was."

    Tja, was sollte er tun? Zum Glück fiel ihm der Doktor ein. Der für die Tiere, der mit dem Entwurmungsmittel. Doktor Wanner konnte sicher helfen, wenn er gut gelaunt war, und das war er nicht immer. Ganz schön fluchen konnte er, so wie die Tirolerin, nur auf Schwäbisch. Vielleicht verstand er sich gut mit der jungen Dame, sie war hübsch und sehenswert und schimpfen konnte sie schließlich auch. Nach kurzem Zureden hatte er sie überzeugt. Bittermann band Paula los, hob den benommenen Hund vorsichtig an und ging mit der Frau zum Veterinär.

    Karli war schwer und wurde von Schritt zu Schritt immer schwerer. Als es immer mühsamer wurde, überlegte er, ob nicht Paula die Last übernehmen könnte, doch ohne Sattel war das kaum zu bewerkstelligen. Die Krallen des Schäferhundes hätten sie verletzen können. Also weiter mit dem schweren Karli, der Feldwebel wäre bestimmt stolz auf ihn gewesen. War er aber nicht. Kaum hatte Bittermann die Unterkünfte erreicht, fragte der ihn barsch, ob das die Wegzehrung für den morgigen Einsatz sein sollte. Bittermann verwies auf die junge Frau, die sich aufgrund des strengen Auftretens des Feldwebels hinter Paula versteckt hatte. Doch sie schöpfte Mut und bat für ihren Hund um Hilfe. Der sei kriegswichtig.

    „Wie bitte? Der und kriegswichtig?", bellte der Feldwebel.

    „Jawohl, Herr Leutnant. Mein Karli bewacht Schafe und Kühe vor Wölfen und anderen Bestien. Nur mit seinem Schutz kann auch die deutsche Armee mit unserem Fleisch versorgt werden."

    Das mit den Wölfen war gelogen, die waren damals in Tirol längst ausgerottet, aber das musste schließlich der deutsche zum Leutnant beförderte Feldwebel aus dem tellerflachen Rheintal nicht unbedingt wissen. Das Argument mit dem Fleisch beeindruckte ihn, die Frau allerdings auch.

    „Nun gut, da will ich mal nicht so sein. Benachrichtigen Sie den Doktor, Bittermann. Aber ein wenig flott, wenn ich bitten darf."

    Der ließ sich das nicht zweimal sagen. Nachdem er den Hund sanft auf eine Decke in das Gras gelegt hatte, holte Bittermann den Doktor Wanner. Der war etwas ungehalten, wie befürchtet, doch die Tirolerin und die Sache mit den Herden, die der Hund so tapfer zu bewachen hatte, besänftigten ihn. So machte er sich an die Arbeit.

    „Der Doktor Wanner bekommt das schon hin, werte Dame", bemerkte Bittermann und versuchte seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. Die Dame machte ihn nervös, schließlich war sie eine Frau und dann auch noch so hübsch. Sie verhielt sich umgänglicher als zuvor, der Wutanfall war verflogen, das Gesicht nur noch leicht gebräunt, alle Zornesröte verschwunden. Nachdem Karli von Wanner mit einem turbanähnlichen Verband versehen worden war und wieder sein Bewusstsein erlangt hatte, nahm Bittermann allen Mut zusammen.

    „Darf ich Sie wiedersehen?"

    „Mal sehen, der Herr. Sie haben im Krieg hier wohl nicht genug zu tun?"

    „Morgen leider schon, wie es danach aussieht, das weiß der Himmel. Wo finde ich Sie denn, wenn mir der Krieg Zeit lässt?"

    „Da, wo Karli ist. Sie müssen nur auf sein Gebell achtgeben." Dann nahm sie ihren Hund, der lustig mit dem Schwanz wedelte, und verschwand.

    3

    Bittermann hätte es wissen müssen. Die Tirolerin und Karli waren am nächsten Morgen das Gespräch der ganzen Truppe. Der Feldwebel hatte nicht dichtgehalten. Oder war es der Doktor, der das Plaudern nicht lassen konnte? Wer auch immer, die Kameraden hatten ihren Spaß. Alles wollten die wissen, dabei wusste er nicht mal ihren Namen. Wenn er den in Erfahrung gebracht hätte, würde er ihn keinesfalls verraten. Zum Glück hatten sie nach wenig Schlaf viel zu tun, das lenkte ab. Der lieben Paula wurde am heutigen Tag so einiges zugemutet, vor allem an Gewicht, das sie zur Zsigmondyhütte tragen sollte, und die lag in über zweitausend Metern Höhe. Dorthin mussten Infanteriemunition, Stielhandgranaten, Scheitholz für den Ofen und frische Nahrungsmittel gebracht werden. Um halb sechs Uhr am Morgen ging es los. Das schläfrige Sexten hatten sie schnell passiert. Obwohl sie Eindruck bei den Leuten machen wollten, öffnete keiner und keine das Fenster. Im Ortsteil Moos kläffte immerhin ein Köter, während ein Bauer seine Kühe im Zaume hielt, damit sie nicht mit den Mauleseln aneinandergerieten.

    „He, Bittermann. Ist der Köter hier Karli?"

    „Nein. Karli ist viel imposanter."

    „Aha, so wie die Frau, nicht wahr?"

    „Ja", flüsterte er nur und war froh, endlich unbewohntes Gebiet erreicht zu haben. Die fünfzehn Männer und ihre Mulis hatten hinter Moos den Weg in Richtung des Altensteintals erreicht. Paula und die anderen Vierbeiner kannten die Strecke und führten ihre schläfrigen Herren auf dem breiten Weg in die richtige Richtung. Immerhin war der Feldwebel wach, denn an der Weggabelung wendete er sich nach links, da es geradeaus zur Dreizinnenhütte ging, und die war durch den anderen Zug bereits am gestrigen Tag gut ausgerüstet worden. Nachdem sie einen träge dahinfließenden Bach durchquert hatten, marschierte die Gruppe durch lichte Baumbestände langsam, doch stetig nach oben. Inzwischen war auch der Müdeste durch den kühlen Morgenwind erwacht und genoss die prächtige Natur. Die Namen der Berge hatten sie sich eingeprägt; rechts das zerklüftete breite Massiv der Dreischusterspitze, halb links über grünen Hängen die Rotwand und dahinter über dem Bacherntal das Felsdreieck des Hochleist, der jedoch im Vergleich zum Zwölfer oberhalb der Zsigmondyhütte klein und mickrig wirkte.

    Es ging nun steiler bergauf, schließlich wollten neunhundert Höhenmeter überwunden werden. Die Männer ließen sich von den Mulis nach oben ziehen und schwitzten. Lachner spürte eine Blase am linken Fuß, die ihn seit längerer Zeit belastete, schaute begierig auf den Sattel seines Mulis, wünschte die Last zum Teufel und biss auf die Zähne. Was konnte nicht alles weh tun am menschlichen Körper. Marquardt hatte einen wunden Hintern, vom rauen Papier, wie er sagte. Der Feldwebel kommentierte die Beschwerde lapidar, dass er dann weniger essen dürfe, so müsse er auch weniger wischen. Einen anderen zwickte es in den Waden, den nächsten am Wasserrohr, weil das zu oft ungeschützt tätig gewesen war, wie Doktor Wanner mutmaßte. Der war nur Veterinär, wie er nicht müde wurde zu betonen, aber half den Menschen, wenn er konnte und wollte.

    Die Hütte war bereits zu sehen und noch so fern. Der Weg wurde stetig steiler, die Sonne begann zu brennen, sodass der Feldwebel ein Einsehen hatte und rasten ließ, doch nur für einen Moment zum Wassertrinken. Wie gewohnt bekamen die Vierbeiner zuerst zu saufen, dann labten sich die Männer am kühlen Nass. Kaum hatten sie die Feldflaschen wieder verschlossen, ließ der Feldwebel weitermarschieren.

    Noch eine gute Stunde Weg hatten sie vor sich. Lachner schien das Bier zu riechen, das auf sie wartete, denn tatsächlich gab es gewöhnlich nach dem gelungenen Aufstieg als Belohnung für jeden eine Flasche Bier. Das Bier wurde vom Quartiermeister in Wien neben dem Tabak für kriegswichtig eingestuft und so gab es selbst im Hochgebirge das begehrte Getränk als Belohnung für große Anstrengungen. Daher hatten die Männer es eilig. Seinem Vordermann trat Lachner zum wiederholten Male in die Hacken, aber der meckerte nur leise vor sich hin, bevor er weiter sein kleines Liedchen sang.

    „Was singst du da?, fragte Lachner. „Etwas über Suppentöpfe, die niemals leer werden? Na, du hast Humor, mein Junge, das muss ich dir lassen.

    Lachner war laut, sehr zum Unwillen des Feldwebels, der ihn sogleich ordentlich zusammenpfiff. Beim Marsch war Ruhe und Disziplin zu beachten.

    „Ihre Stimme ist bis Rom zu hören, Sie Schreihals, also seien Sie in Gottes Namen still."

    „Still wie ein Suppentopf", murmelte Lachner und war dann wirklich ruhig. Das Bier oben in der Hütte teilte schließlich der Feldwebel aus. Eine halbe Stunde später hatten sie endlich ihr Ziel erreicht. Die Zsigmondyhütte, benannt nach einem Bergsteiger aus Wien, der das Klettern so sehr geliebt hatte, dass er dabei sein Leben verlor. Die Hütte lag prächtig vor dem Zwölferkofel, hinter ihr fand sich reichlich Geröll, davor wuchs saftig grünes Gras für die Mulis. Unweit davon lockte der Eissee. Darin wollten die Soldaten ihre Füße kühlen und dabei das schöne Bier trinken. Das taten sie auch, nachdem sie die Mulis von ihren Lasten befreit hatten. Einer musste bei den weidenden Tieren bleiben und das war Lachner. So wollte es der Feldwebel und was der befahl, war so, als ob es der Kaiser befohlen hätte.

    Seine Kameraden schlurften zum See, in der einen Hand das Bier, in der anderen ihre Brotbüchse. Im Wasser des Sees spiegelten sich der Elfer, der Zwölfer und der Einser. Wie Ausflügler nach einer anstrengenden Wanderung streckten sie ihre Füße ins Wasser, kühlten darin das Bier, aßen ihre Wurstbrote und ließen den lieben Gott einen gnädigen Mann sein. Das war also der Krieg. Fast schon als romantisch zu bezeichnen, hätte nicht so mancher bereits seinen Bruder oder Freund verloren; in Frankreich, auf dem Meer, im weiten Osten oder gar in Afrika. Hier war alles schön ruhig und friedlich.

    Als das Wasser für Füße wie Bier zu kalt wurde, legten sie sich auf eine Wiese, öffneten die Flaschen und griffen zum Tabak. Blauer Qualm stieg gen Himmel oder landete beim Nachbarn, der ihn durch heftiges Wedeln zu vertreiben suchte. Marquardt hatte ein Objekt zum Verlustieren entdeckt und es sogleich mit seinem Rauch beglückt. Es war schwarz und nicht allzu groß, irgendein Lurch, den keiner aus dem Flachland kannte. Er schaute zu Marquardt auf und zeigte trotz dessen Belästigung keinerlei Anzeichen von Furcht.

    „Denke mal, das komische Tier will uns sagen, dass wir verschwinden sollen. Wir Menschen haben hier wohl nichts zu suchen, so weit oben", sagte Marquardt.

    Für das Verschwinden sorgte der Feldwebel. Das schwarze Tier durfte dem Qualm entkommen, die Soldaten mussten vor der Hütte antreten. Dort kam, was kommen musste. Eine der viel Zeit beanspruchenden Ansprachen des Feldwebels über Kaiser, Volk und Vaterland, von manchen heimlich genossen aufgrund ihrer unfreiwilligen Komik. Eigentlich war er ein netter Kerl, kein Schleifer wie der beim anderen Zug. Wer seine Arbeit machte, bekam keinen Ärger. Lachner behauptete, dass der Feldwebel deswegen so gerne rede, weil er daheim bei seiner Frau nichts zu melden hätte. Beim Leutnant würde er auch nur Jawohl und Amen sagen, also hole er das Versäumte bei seinen Untergebenen nach.

    Über dem Zwölferkofel türmten sich graue Wolken und verdüsterten rasch den Himmel. Donnergrollen ließ nicht auf sich warten, der Feldwebel blickte sorgenvoll nach oben, sagte noch ein paar Worte über Opferdienst, dann befahl er, die Mulis in den Stall zu bringen. Kaum war das geschehen, schüttete es wie aus Eimern und der böig aufbrausende Wind trieb die Soldaten in die Hütte. Dort war es voll und wegen des dichten Tabakqualms stickig, doch die Stimmung heiter und gelöst. Die Besatzung ließ die Hütte und dann die Soldaten vom Train hochleben und gab großzügig vom reichlich vorhandenen Tabak aus. Beim Bier zeigten sie sich sparsamer, denn das ließ sich schwerer transportieren. Beim letzten Aufstieg hatte ein Muli aufgrund schlechter Sattelung einen Teil seiner gläsernen Ladung verloren. Diese war unter vielfachem Echo zerbrochen. Das Echo in der Hütte war dementsprechend, selbst der Tabak wurde gestrichen.

    Österreicher und Deutsche führten große Worte, versprachen sich einander, die Katzelmacher aus den Bergen ins Meer zu treiben und dann deren guten Roten zu genießen. Bis es soweit war, spülte man die belegten Brote mit Quellwasser hinunter und wartete das Gewitter ab. Das erwies sich als hartnäckig, der Regen trommelte weiter aufs Dach und gegen die Scheiben.

    Wie üblich wollte Lachner lauter als alle einschließlich der Naturgewalten sein und gab derbe Witze zum Besten. Das geschah allerdings in breitestem Mannheimer Dialekt, sodass selbst Bittermann und Marquardt Probleme hatten, ihn zu verstehen. Zur besseren Verständigung und um die beiden Mannheimer zu ärgern, zeigte Marquardt ein paar Postkarten seiner Heimatstadt Heidelberg in die Runde und tatsächlich machte das Schloss über dem Neckar bei den Österreichern erheblich mehr Eindruck als Lachners kaum verstandene Späße. Der Ärger Lachners und Bittermanns verflog schnell wieder und wich wieherndem Gelächter, als Marquardt einige Fotos seiner Familie präsentierte und seine beiden hübschen Cousinen als Ehefrau und Geliebte verkaufen wollte. Marquardt verschränkte trotzig die Arme und drohte jedem, der an seinen Worten zweifeln wollte, vor die Tür zu gehen und ihn über seine Familienverhältnisse umfassend aufzuklären, allerdings erst nach dem Gewitter.

    „Hoffentlich dauert das noch lange, du weißt ja, dass ich vor dir ganz schön Fracksausen habe, mein lieber Max, verkündete Lachner und streckte sein breites Kreuz. „Zum Glück habe ich keinen Frack an, setzte er nach.

    „Ihr seids ja g’fährliche Burschen, rief ein Tiroler und verteilte plötzlich zur Verwunderung und Beglückung der Deutschen lange, wohlriechende Zigarren. „Das ist dafür, dass diesmal nichts zu Bruch gegangen ist. Nehmt nur, mein Vater hat davon in seinem Laden noch ein paar tausend Stück.

    „Wie isses denn so da unten in Sexten?", wollte ein anderer wissen. Lachner sagte, unten im Tal sei es flach. Bittermann schob nach, dass im Ort noch alles heil sei, Marquardt sprach von schönen Hunden und noch schöneren Besitzerinnen, der Rest ging im Donnerhall unter. Draußen goss es weiter wie aus Gießkannen. Als der Regen etwas nachließ, legte Bittermann seine halb gerauchte Zigarre in den Aschenbecher, ging mit vorsichtigen Schritten, um keinem der vielen Anwesenden auf die Zehen zu treten, zur Tür, öffnete sie leise, lugte hinaus und eilte dann zum Stall. Dort war alles ruhig, die Mulis besonnen wie seine Paula, der er den Hals tätschelte und zärtlich über den großen Kopf strich. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass jedes Tier wohlversorgt war, ging Bittermann wieder nach draußen. Der Regen hatte noch ein wenig an Stärke verloren. Am Eingang zur Hütte stand qualmend wie ein Mannheimer Fabrikschlot der Feldwebel.

    Dessen Augen trafen die Bittermanns und bevor der Meldung über den Zustand der Mulis machen konnte, sprach sein Vorgesetzter: „Gut gemacht, Bittermann. Das Wohl der Tiere ist bei Ihnen in sicheren Händen. Sie sind ein guter Soldat. Ich bin kein Dummkopf und weiß, dass Sie das nicht machen, um mir zu imponieren. Es geht Ihnen nur um Paula und die anderen Mulis. Aber davon haben wir alle unseren Nutzen. Also machen Sie ruhig weiter so. Jetzt gehen Sie rasch zu Ihrer Zigarre, sonst ist die schneller weg, als Sie laufen können."

    Das Gewitter hatte sich verzogen, die Nacht war hereingebrochen. In der Hütte brannten ein paar Laternen, durch fünf Minuten Durchzug hatte sich die Atemluft für ein Viertelstündchen verbessert. Die Männer vom Nachschub mussten wegen der Dunkelheit die Nacht in der Zsigmondyhütte verbringen. Für weitere Unterhaltung war gesorgt. Ein Tiroler mit passendem Hut und Schifferklavier sorgte für die Begleitmusik, während ein anderer mit Wiener Einschlag einige fröhliche Lieder zum Besten gab. Das kam bei den Leuten gut an und sie forderten lautstark Zugabe, doch da deren Repertoire begrenzt war, fand der musikalische Vortrag ein baldiges Ende und die Komödie ihren Anfang. Gespielt wurde Molières „Eingebildeter Kranker" in zweitausendzweihundert Metern Höhe. Passend zum Krieg war der Kranke ein simulierender Soldat und der Arzt einer mit Uniform. Die Darsteller kannte Bittermann gut. Lachner und Marquardt versuchten sich als Schauspieler und das taten sie mit Bravour. Den Österreichern, die hier oben wohl nicht viel zu lachen hatten, gefiel die Vorstellung und sie verstanden auch, was die beiden Kurpfälzer sagten, da sie ihre Rollen in betontem Hochdeutsch sprachen, was die komische Wirkung noch erhöhte. Lachner mimte den kerngesunden Kranken, der sich vor dem Dienst drücken wollte, und klagte über Schmerzen in Zähnen, Darm und Leber. Letzteres besonders glaubwürdig.

    „Lassen Sie das Saufen sein, Herr Soldat, sonst geht Ihre Leber über den Jordan, das können Sie mir glauben", sagte Arzt Marquardt.

    „Aber Herr Doktor, das eine Viertelchen?"

    „Das eine Viertelchen und dieses alle fünfzehn Minuten. Das ist entschieden zu viel, mäßigen Sie sich, sonst kann ich für nichts garantieren."

    „Und meine furchtbaren Zahnschmerzen?"

    „Zeigen Sie mal her."

    Der Doktor riss dem Patienten den Mund auf und bohrte ihm mit dem Zeigefinger in einem Zahn herum, sodass der aufjaulte wie ein geprügelter Hund.

    „Tja, was soll ich da tun? Mir fehlen hier im hart umkämpften Felde leider die passenden Instrumente. Da rate ich Ihnen einfach, sich öfter zu prügeln. Dann haben Sie weder Zähne noch Zahnschmerzen."

    Lachner rollte die Augen wie ein Derwisch, während sich die Zuseher kugelig lachten.

    „Ja, und mein Darm, lieber Herr Doktor. Haben Sie wenigstens hierfür die passende Arznei?"

    „Selbstverständlich! Fasten, ganz viel fasten. Nach drei oder vier Tagen sind die Darmprobleme behoben."

    „Heißt das, dass ich vier Tage vom Dienst befreit bin?"

    „Mitnichten, der Herr, mitnichten. Sie müssen zuerst den Feind vernichten, dann können Sie eine Pause einlegen, vorher nicht."

    „Wo ist denn eigentlich der Feind, Herr Doktor?"

    „Hinter den Bergen bei den sieben Zwergen. Dort ist auch Schneewittchen und sie wird dort von den Italienern gefangen gehalten. Sie müssen sie befreien."

    „Das werde ich tun. Bekomme ich dafür einen Orden?"

    „Die Befreiung einer schönen Frau aus den Klauen des Feindes ist doch Ehre genug, dafür braucht es keinen Orden. Finden Sie nicht auch?"

    „Wie weit ist es denn bis zu Schneewittchen?"

    „Oh, das ist ein ganz schönes Stückchen. Etwa zweitausend Kilometer zu Fuß oder so ungefähr, dann noch feste schwimmen, dann sind Sie da."

    „Wie bitte? Zweitausend Kilometer und das zu Fuß. Und dann auch noch schwimmen?"

    „Selbstverständlich, Herr Soldat. Schneewittchen befindet sich auf Sizilien. Das ist schon ein gutes Stück Weg. Kann denn Ihr Muli schwimmen?"

    „Keine Ahnung."

    „Dann üben Sie mal. In Sexten ist doch so ein idyllischer Bach."

    „Der ist aber eiskalt."

    „Herr Soldat, es geht um Schneewittchen. Da darf kein Opfer zu hoch und kein Wasser zu kalt sein. Also?"

    „Also?"

    „Was werden Sie tun?"

    Lachner kratzte sich an Ohr und Stirn, hieb sich an den Kopf und war überredet.

    „Ja, ich werde nach Sizilien gehen und Schneewittchen befreien. Ganz fest versprochen."

    „Versprochen?"

    „Versprochen."

    Schließlich rief Marquardt „Vorhang", das Publikum bog sich vor Lachen, die beiden Mimen erröteten für jeden sichtbar und verbeugten sich fleißig. Der Spieß verkündete den Zapfenstreich, ließ sich aber vom Feldwebel erweichen, noch eine Runde Schnaps als Schlummertrunk an die große Runde zu verteilen. Dann trollten sich die Männer zu ihren Schlafplätzen.

    Die Männer aus Sexten waren im Notlager untergebracht. Es war eng, doch jeder hatte eine Decke und ein Kissen. Die Luft war besser geworden, nachdem sie im Raum erneut für Durchzug gesorgt und das Rauchen eingestellt hatten. Ein paar Stunden Schlaf waren notwendig, da sie morgen früh wieder ins Tal hinabmarschieren mussten.

    Obwohl sie alle müde waren, fanden die wenigsten Schlaf. Die ungewohnte Umgebung und die dünne Höhenluft ließen sie immer wieder die Augen öffnen. Bittermanns Schlaflosigkeit war der Sorge um die Mulis geschuldet. Sie verbrachten eine Sommernacht ungewohnterweise im Stall, während sie im Tal auf der Weide gewesen wären. Vor dem Schlafengehen hatte er nochmals nach ihnen geschaut und alles gut und friedlich vorgerfunden. Auch seinen Eltern im fernen Mannheim galt seine Sorge, denn die Mutter war erkrankt und Bittermann wusste natürlich, dass auch sie um ihn fürchteten, obwohl er es gut getroffen hatte. Die größte Gefahr, die ihm bisher gedroht hatte, war Marquardts Muli, das ihn beinahe mit dem Huf an der Schläfe getroffen hätte, doch eben nur beinahe. Die Märsche zur Hütte waren bisher ohne Feindberührung vor sich gegangen, alles schien so friedlich wie vor dem Beginn des Krieges. Im Tal drohten bislang auch keine nennenswerten Gefahren, wenn man von einem bellenden Schäferhund absah. Dessen Herrin sorgte ebenfalls dafür, dass der Schlaf für Bittermann ein ferner Freund blieb. Die Tirolerin hatte es ihm angetan, schon beim Marsch zur Hütte waren seine Gedanken um sie gekreist und hatten ihn nicht mehr losgelassen. Das gute Bier und der Tee allerdings auch nicht. Bittermann schob die Decke vom Körper und ging zur Latrine. Da er die in der Dunkelheit nicht gleich finden konnte, erleichterte er sich hinter der Hütte im Gras. Das Gewitter hatte sich verzogen, die Sterne funkelten vom Himmel, die Luft war angenehm kühl. Er setzte sich auf eine Bank, schaute sich um, erahnte die Umrisse der Gipfel, musste schmunzeln, dass ausgerechnet er aus dem flachen Mannheim ins Hochgebirge geraten war, zog nochmals tief die Luft ein, lauschte am Stall, vernahm keine beunruhigenden Geräusche und ging dann wieder zurück in den Schlafraum.

    Dort hatten etliche Kameraden endlich ihren Schlaf gefunden, andere nicht. Einige der Schlummernden schnarchten, dass die Wände wackelten. Behauptete jedenfalls Lachner und der konnte das ebenfalls sehr gut, wie ihm seine Kameraden seit Langem versicherten.

    Eine halbe Stunde später schliefen alle. Zwei Stunden darauf sollten sie „geweckt" werden. Etwa vierzig Minuten davor waren plötzlich alle schlagartig wach. Schon wieder ein Gewitter, das sich mit großem Getöse ankündigte. Wenn das so weiterging, müssten sie noch länger in der Hütte bleiben. Erneut ein Schlag, dass die Scheiben klirrten. Die Tür sprang auf und wieder zu. Dann ging sie nochmals auf, ein Schatten stand in der Tür mit einer Laterne in der Hand. Der Schatten konnte reden und das ganz laut.

    „Alles raus hier, wer nicht lebendig begraben werden will. Sie schießen!", schrie der Spieß.

    „Wer schießt?", fragte Marquardt.

    „Die Italiener, du Dussel. Los, raus hier!"

    Es gab kein Halten. Die Männer stürzten aus dem Raum, verkeilten sich an der engen Tür, fanden irgendwie nach draußen und warfen sich im ersten Licht des Tages auf den Boden.

    „Nicht auf den Boden, ihr Narren. Ihr müsst in den Schützengraben", rief der Feldwebel.

    Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Da, wo der Feldwebel bereits mit dem Gewehr in Stellung lag, dort mussten sie hin und das im kraftvollen Spurt, denn hinter dem Einser gurgelte bereits neue Gefahr herauf, schwoll an wie der Lärm, den gewöhnlich ein Güterzug verursachte, dass sich die Männer die Ohren zuhielten, und schlug genau da ein, wo sie vor wenigen Augenblicken noch gelegen hatten.

    „Köpfe schützen", schrie jemand.

    Die, die es zu langsam taten, wurden von Steinen getroffen, ein oder zwei wischten sich Blut von der Stirn.

    „Das ist eure Feuertaufe", rief der Spieß und war dann still. Denn er ahnte wohl, was kommen musste. Die Italiener hatten sich eingeschossen. Die ersten Granaten schweren Kalibers waren abseits der Hütte eingeschlagen, den engen Schützengraben zu treffen, wäre nur einem Zufallstreffer vergönnt gewesen, doch jetzt war es soweit. Die nächste Granate heulte heran, senkte sich herab und schlug mit donnerndem Getöse mitten in die Zsigmondyhütte ein, die nächste detonierte auf dem Weg zwischen Hütte und Stall.

    „Die Mulis, wir müssen die Mulis retten", schrie Bittermann und wollte aufspringen, doch Lachner hielt ihn mit eisernem Griff fest.

    „Bleib hier, sonst können wir dich später vom Fels kratzen."

    „Ohne die Mulis sind wir aufgeschmissen oder willst du die Kisten auf dem Buckel nach oben schleppen?"

    Lachner blieb eine Antwort schuldig, da die nächste Granate heranrauschte und dicht vor ihnen aufschlug, eine weitere fiel in den kleinen See hinein, eine Wasserfontäne zischte nach oben und fiel wieder in sich zusammen. Dann erneut eine in die Hütte, dass es nur so krachte und das Gebälk viele Meter durch die Luft flog.

    „Wir müssen weg von hier, hinab ins Tal", schrie einer.

    „Nichts da, Sie Drückeberger, schimpfte ein Leutnant. „Das bisschen Beschuss geht schon wieder vorbei. Sobald es nachlässt, holen wir die Mulis aus dem Stall und retten, was zu retten ist. Das ist ein Befehl.

    „Die Mulis, Herr Leutnant, die Mulis. Wir müssen sie holen, sie verbrennen sonst."

    „Sie bleiben hier."

    Bittermann wollte aus dem Graben, doch Lachner hielt ihn weiterhin wie einen ungehorsamen Jungen am Kragen fest und ließ nicht los.

    „Du bleibst hier, mein Freund, Paula hin, Paula her. Die Dame muss warten."

    Die Italiener gaben weiter fleißig Zunder. Laut der Kameraden von der Hüttenbesatzung zum ersten Mal in diesem Krieg und ausgerechnet jetzt, als die Männer vom Nachschub oben waren. Das nächste Geschoss sauste heran und schlug ausgerechnet in den talwärts führenden Pfad ein. Sie waren festgenagelt, konnten weder vor noch zurück. Das Feuer kam aus mehreren Geschützen.

    „Auf dem Giralbajoch stehen sie, rief der Spieß. „Verteufelt schwer, die dort hochzubringen, alle Achtung.

    Kurz darauf setzte das Feuer aus. Die Männer im Graben hielten die Köpfe gesenkt, dann lugte der Spieß vorsichtig über den Grabenrand.

    „Wir bleiben lieber noch ein Weilchen in Deckung. Könnte auch ’ne Finte sein."

    Der Leutnant zeigte mehr Schneid oder Unerfahrenheit.

    „Noch zwei Minuten, dann holen wir die Mulis, bevor doch eine Granate den Stall trifft. Die Tiere sind nicht mit Gold aufzuwiegen."

    Zwei Minuten waren um.

    „Wer holt die Mulis? Ich brauche zwei Mann."

    Natürlich Bittermann. Dazu, um den Ausgleich zu wahren, ein Österreicher. Der Leutnant spitzte die Ohren, als ob er die Gefahr hören könnte. Konnte man auch, die Granaten kündigten sich höflich an. Doch wenn sie mal flogen, wusste kaum einer, wo sie einschlagen würden. Diejenigen, die in Frankreich waren, wussten Bescheid und hatten umfangreiche Erfahrungen, wenn sie denn überlebten. In den Alpen mangelte es an diesen Erfahrungen. Die mussten durch Schnelligkeit kompensiert werden. Bittermann und der Österreicher rannten zum Stall, rissen die Tür auf und banden die Mulis los. Die zeigten sich trotz des vorherigen Granatenhagels unverzagt und ließen sich ohne Probleme hinausführen. Kaum waren sie draußen, schossen die Italiener wieder. Die Männer im Graben duckten sich, so tief sie konnten und manch einer flehte die Jungfrau Maria um Schutz und Beistand an. Bittermann und der andere schwebten in derselben Gefahr und hatten verschiedene Gedanken, ihr zu entkommen. Der Österreicher entschied sich für die Flucht, schwang sich erstaunlich behände auf das erstbeste Muli und ritt abwärts. Bittermann sah ihm für einen Augenblick staunend hinterher. Dann entschied er sich für einen anderen Fluchtweg und jagte die Mulis unter lautem Gejohle zum Eissee. Die Tiere gehorchten willig, er hätte sich das Johlen und Schimpfen sparen können. Bittermann staunte. Es gab keine besseren und gehorsameren Soldaten als die Mulis. Gleich darauf hatte er den See erreicht. Dort fand sich kein lohnendes Ziel für die italienische Artillerie, hier schlug keine Granate ein, außer der einen verirrten, die ins Wasser gefallen war. Bittermann band die Mulis zusammen, sprach noch ein paar beruhigende Worte, die die Tiere nicht nötig hatten, um danach auf eine kleine Anhöhe zu steigen. Dort hatte er gute Sicht auf die Hütte, die keine mehr war. Nur noch ein Schutthaufen, aus dem Rauch quoll. Das war alles, was übrig geblieben war. Die Italiener hatten ganze Arbeit geleistet. Sie selbst sahen das wohl genauso, denn kaum hatte Bittermann den See und die Anhöhe erreicht, flog die letzte Granate heran und zerbarst im Geröll hinter der Ruine.

    Bittermann hatte Zeit zum Verschnaufen und tat es. Dann schaute er auf seine Uhr. Etwa fünf Minuten waren seit dem letzten Beschuss vergangen. Kein Laut lag in der Luft. Nur ein Pfeifen war zu hören, ein wundersames Geräusch. Das konnte von keinem Menschen stammen und jetzt fiel ihm ein, dass das Pfeifen von einem Lebewesen verursacht wurde, welches es nur hier in den Alpen gab. Sehen konnte er es nicht.

    Der Leutnant war inzwischen aus dem Graben gestiegen. Alles war wieder ruhig, still und friedlich. Bittermann wartete ab und peilte die Lage von oben. Der Nutzen der Tiere übersteige den der Ausrüstung, hatte der Leutnant gesagt, also habe acht darauf. Nochmals pfiff das Murmeltier und warnte seine Gefährten vor dem Leutnant. Die Mulis, die am Wasser grasten, spitzten die Ohren. Bittermann blieb zunächst ahnungslos. Nur hinter sich hörte er dumpfe Geräusche.

    Schritte, kein Zweifel. Er schaute nach links zu den Mulis. Zwei oder drei schnaubten auf, um dann wieder zu grasen. Bittermann drehte sich langsam und vorsichtig um, als ob er die lauernde Gefahr durch Behutsamkeit hätte entschärfen können. Hinter ihm lag das Giralbajoch. Dort fanden sich weder Österreicher noch Deutsche, dort lauerten die Italiener. Von denen kamen welche im Laufschritt; zehn, zwanzig, dreißig, immer mehr. Sie sahen ihn nicht. Platt wie eine Flunder lag er auf dem Gras und wagte kaum zu atmen. Der Pfad, auf dem sie herankamen, war etwa zwanzig Schritt von ihm entfernt. Sie gingen geduckt, wussten, dass hinter der Anhöhe der ahnungslose Feind lag. Das waren schon schlaue Burschen, die Männer aus dem Süden. Und mutige dazu. Keiner hätte ihnen das zugetraut. Nahmen einfach die Route vom Osten her, die so schwierig zu begehen war.

    Bittermann wagte kaum aufzuschauen. Er musste seine Kameraden warnen. Einen Schuss abgeben konnte er nicht. Das hierfür notwendige Gewehr hatte er in der Hektik und Panik in der Hütte gelassen. Ein Warnruf. Vor lauter Aufregung, Angst wollte er sich nicht eingestehen,

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