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Menschen an unserer Seite
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eBook380 Seiten5 Stunden

Menschen an unserer Seite

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Über dieses E-Book

Ein Betrieb in der DDR - wenige Monate nach der Staatsgründung. Die Arbeiter haben die Macht, aber sie müssen sie in der Produktion und dem gesamten gesellschaftlichen Leben erst gegen die alten Mächte und Gewohnheiten durchsetzen. So wie der Arbeiter Hans Aehre, dem es nicht in den Kopf will, daß ein wichtiger Ringofen in einem sozialistischen Betrieb stillgelegt werden und 400 Kollegen entlassen werden sollen. Er macht einen Vorschlag, den es noch nie gab ...
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Neuer Weg
Erscheinungsdatum7. Sept. 2018
ISBN9783880215252
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    Buchvorschau

    Menschen an unserer Seite - Eduard Claudius

    Finger.

    I

    An gewöhnlichen Abenden, wenn der Maurer Hans Aehre aus der Fabrik nach Hause kam, ging’s ans Erzählen. Die Hände und das schmale hartlinige Gesicht mit der etwas zu langen Nase, dem vollen Mund und dem stets zupackenden Blick noch dreckverkrustet, riß er das Kind an sich. Es hieß Miele, war dreijährig und hatte das gesunde Bauerngesicht der Mutter, ihre hellen, klugen Augen. Er schwenkte das Kind umher, küßte es, redete und redete, und dann, mit einem frohen Blick zu Katrin, die ruhig und still am Herd stand, fragte er wohl: „Neues? Was ist heute alles passiert?"

    Und oft sprühten dann ihre Augen, die Topfdeckel klirrten, und sie sagte erbost: „Diese Stehkragentunte da unten gibt keine Ruhe. Man hält es ja kaum noch aus."

    „Was ist denn schon wieder?" Im Umherwirbeln jauchzte Miele; ihre Stimme hatte den Klang einer schmetternden Trompete.

    Katrin kam vom Herd an den Tisch, und er stellte das Kind ab.

    „Nun, ich geh mit dem Ascheneimer hinunter, und es fällt mir wohl etwas auf die Treppe, nur ein wenig, und die Tunte steht an der Tür, das Gesicht wie ein Waschbrett, und nuschelt mich an: ,Bitte, passen Sie doch auf! Dieser ewige Schmutz auf der Treppe! Und das Kind schreit so lautl Mein Gott, Frau Aehre, Sie müssen sich auch an die Mietordnung gewöhnen!‘ Und Katrin zischte böse: „Eines Tages nehm ich sie übers Knie.

    „Na, warte nur!" Aehre schoß das Blut in den Kopf. So wie er war, hemdsärmelig und ungewaschen, sprang er zur Tür, bereit, auf der Stelle hinunterzustürmen. Katrin aber, schon wieder lachend, hielt ihn fest, zog ihn zurück in die Küche; und wenn er sich nicht halten ließ oder gar sich wehrte, stieß sie ihn auch wohl gegen die niedrige, schräge Wand der Dachstube.

    „Ei verfluchtl rief er dann und ließ sich, nun gleichfalls lachend, auf das schmale Sofa fallen. „Soll sie uns denn ewig anpflaumen? begehrte er auf. „Ich habe mir das bis 1945 anhören müssen: ,Unser Führer ... Der große, herrliche Sieg ... Passen Sie doch auf die Treppe auf, es gibt keinen Lack mehr ...‘ Aber jetzt?"

    Katrin lachte: „Wichtigkeit! Was macht’s uns aus? Sie ist ja schon ganz morsch."

    Aehre aber rief erbittert: „Muß man sich das denn jetzt noch gefallen lassen?"

    „Laß sie doch! Ich werd schon mit ihr fertig!"

    Aehre streifte sie mit einem ergebenen Blick, schaute sich in der Dachkammer um. Katrin, gut in den Dreißigern, fest und kräftig gewachsen, mit einem drallen, gesundfarbenen Apfelgesicht, in das man Lust hatte hineinzubeißen, war seine Frau. Die kleine, schräg abgedachte Küche mit dem schmalen Tisch und dem Schrank, der aussah, als wolle er jeden Augenblick auseinanderfallen, war ihre gemeinsame Küche. Das Schlafzimmer war ebenfalls abgeschrägt; der Herd rauchte, wenn der Wind aus West kam; es zog durch die Fenster, aber es war ihr Nest.

    Und das Kind!

    Ließ er sich am Ausguß prustend das Wasser über Brust und Gesicht rinnen, kam die Kleine herbei, zog ihn an der Hose, faßte nach seiner nackten Brust und jauchzte mit ihrer hellen, etwas kreischenden Stimme: „Pappi ... Haare ... Haare! Viele! Ganz viele!"

    Katrin, einen Schimmer von Rot in den Wangen, zog dann wohl lächelnd die Kleine weg und sagte: „Nun laß doch den Pappi. Er muß sich waschen."

    Saßen sie sich schließlich beim Essen an dem kleinen Tisch gegenüber und blickten sich in die Augen, so wurde weitererzählt: er sprach von der Fabrik und von der Arbeit, sie von den kleinen und großen Dingen ihres Alltags. Aber in der letzten Zeit spürte er etwas in ihr aufwachsen, worüber er sich nicht klar wurde. Denn stets, wenn er jetzt von seiner Arbeit in der Fabrik erzählte, wurden ihre Augen blank, und es trat etwas in ihren Blick, das er für Unzufriedenheit hielt.

    An einem Abend Anfang Dezember 1949 kam Aehre in die Küche, die Stirn faltig, die sonst so klaren Augen verschattet. Schwerfällig ließ er sich auf dem Sofa nieder und knurrte: „Guten Abend."

    Das Kind stürmte auf ihn zu, doch als es ihn ansah, wich es zurück. Aehre öffnete die Arme. Miele kroch hinein. In der Küche war nur das Klirren der Teller, das blecherne Klappern von Messern und Gabeln.

    Katrin, vom Herd her, musterte ihn erschrocken. Sie stellte die Schüsseln mit Kraut und Kartoffeln und Fleisch vor ihn hin und sagte: „Rippchen habe ich bekommen."

    „Soso ...", antwortete er, kaum daß er den Kopf hob. Miele sah fragend die Mutter an. Katrin gab ihr eine Gabel in die Hand.

    Aehre aß mit Widerwillen. Katrin sagte: „Die Wurst ist schon sehr viel besser geworden. Heute habe ich Landleberwurst bekommen. Wie früher ist sie! Soll ich dir eine Stulle machen?"

    Er schüttelte gedankenverloren den Kopf.

    Katrin, unruhiger, fuhr fort: „Der Konsum strengt sich wirklich an. Wenn sie nur noch tun würden, als wären sie für uns da und nicht wir für sie, so wie die HO, dann wär’s ausgezeichnet. Sie zwang sich zu einem Lächeln: „Ich habe eine Gans für Weihnachten bei der HO bestellt, und zwei Flaschen Wein habe ich auch schon gekauft.

    Aber sie sah seinen glanzlosen Blick, sah in seinen Augen Gedanken, die sie verwirrten. Erschrocken fragte sie: „Schmeckt’s dir nicht?"

    „Doch ... doch!" Er begann wieder zu kauen, mechanisch und langsam, als würge ihn etwas; er starrte in den Teller.

    „Hast du Durst?" fragte sie.

    „Durst? Er schob seinen Teller zurück, sagte wie zur Entschuldigung: „Müde bin ich.

    „Soll ich dir ein Bier holen?"

    „Ein Bier?"

    „Ja, ich laufe schnell!"

    Er nahm sich zusammen; sein Lächeln wurde linkisch, unbeholfen, und ihr schien, als zitterten seine Lippen. Er sagte: „Wär nicht schlecht, ein Bier!"

    Katrin fragte: „Vielleicht auch einen Schnaps?"

    Als er aufsah, gewahrte sie die Unruhe in seinen Augen; sie lächelte, aber ihr wurde nicht wohler. Auch er lächelte, blinzelte mit den schweren Lidern: „Nun, auch ein Wodka wäre nicht schlecht."

    Katrin war schon dabei, sich den Mantel anzuziehen, ein etwas abgetragenes braunes Stück, und ein Kopftuch überzuwerfen; als sie die Schuhe zuschnürte, fragte sie: „Und Zigaretten, hast du noch welche? Soll ich nicht auch Zigaretten mitbringen?"

    Er lachte breit, wie erlöst, doch Katrin spürte, daß er dahinter nur seine Unruhe und seine Zerfahrenheit zu verbergen suchte. Sie sah seine breiten, starken Zähne, und während sich seine windrauhen Lippen zusammenpreßten, dachte sie: Was hat er nur? Sie hörte ihn spöttisch fragen: „Warst du in einer Geldfabrik?"

    „Nein, nein, antwortete sie, „aber für zwei Zigaretten reicht’s noch.

    Draußen schneite es nassen, vom Brodem der Stadt angewärmten Schnee, der zerschmolz, kaum daß er den Boden berührte. Während Katrin über die glitschige Straße ging, dachte sie: Was kann ich machen? Es ist wie immer! Wenn ihn etwas quält, klemmt’s ihm den Hals zu; er würgt und würgt, kriegt’s aber nicht heraus. Schlimmer noch ist es, wenn er vor fremden Menschen steht, von denen er annimmt, daß sie etwas gegen ihn haben oder gar über ihn und seine schwerfällige, im pommerschen Akzent daherholpernde Sprache lachen; ganz rot wird er da und ballt die Fäuste. Gibt sie ihm dann nicht einen halb warnenden, halb lächelnden Blick und stellt sich neben ihn, so ist er wohl fähig, einfach draufloszuschlagen. So verschlossen wie heute hat er sich ihr gegenüber allerdings nur selten gezeigt.

    Katrin hatte kurz vor dem Krieg zum erstenmal geheiratet; der Mann war wie die Zeit, nervös, gehetzt, und dann, als sie ihn näher kannte, entdeckte sie seine Unehrlichkeit. Sie spürte, daß er nicht nur andere Frauen hatte, sondern auch angefressen war von der Fäulnis, die diese Jahre beherrschte, und damit zerbrach alles in ihr. Der Mann hatte einen Arbeiter in der Fabrik denunziert, dieser, zu vertrauensselig, hatte ihm die Nachricht eines ausländischen Senders weitergegeben - der Denunzierte kam unters Fallbeil, und da sich ihr Mann dessen nicht schämte, sondern öffentlich damit prahlte, vermochte sie keinem Menschen mehr ins Gesicht zu sehen. Um sie war eine Wand aus eisigem Schweigen, aus kaltem, nicht nachlassendem schweigendem Haß; Der Krieg erlöste sie von dem Mann, der als einer der ersten einberufen wurde. Nächtelang lag sie allein, geschüttelt von dem dumpfen Gedanken: Erlöse mich! Erlöse mich von diesem Mann! Aber der schrieb: „Keine Kugel kann mir was anhaben. Und er kam in Urlaub, und seine Augen, gerötet und voll lauernder Niedertracht, trafen sie wie ein Peitschenhieb. Sie lag wehrlos; er schrie auf sie ein: „Was kannst du? Nichts! Die Weiber in Paris ...

    Sie lag unter ihm wie unter einem Messer, gelähmt vor Scham. Und niemand erlöste sie; er ging und kam erneut in Urlaub. Seine Hände waren feucht und klebrig, sie fühlten sich wie schleimige Kröten an. Dann lernte sie Aehre kennen. Es gab Tage und Stunden, die still vorüberflossen wie ein Bach im sommerlichen Abend. Als der Mann wiederum zurückkam - kein Gott war, der ihr Gebet erhörte stand sie weiß vor ihm. Seine Hände griffen nach ihr; sie sagte, ohne sich zu rühren: „Schluß! Schluß mit dem!"

    Der Mann antwortete mit einem breiten, ungläubigen Grinsen; sein Blick, flackernd wie der eines tollen Hundes, wanderte an ihrem Leib auf und ab. Er fiel über sie her. Sie wehrte sich stumm und verbissen. Stühle kippten um, Geschirr rasselte zu Boden, in ihrer Not packte sie einen der Stühle und schlug auf ihn ein. Er ließ von ihr ab, sah sie an wie ein Gespenst - und verließ wie ein geprügelter Hund das Haus.

    Ein vorbeifahrendes Auto riß sie aus ihren Gedanken. Sie erreichte die Wirtschaft an der Straßenecke. Als sie eintrat, hörte sie den Wirt, einen schmächtigen, blaßgesichtigen Mann, wehleidig zu dem einzigen Gast sagen, der dicht bei der Theke saß: „Und? ... Ich frag: Was noch? Bekommen wir eine Flasche Wein zum Verkauf? Von was sollen wir leben? Dürfen wir Fleisch ohne Marken verkaufen? Nichts dürfen wir, nichts. Nur die HO, nur die!"

    Katrin wischte den Schnee vom Mantel, räusperte sich. Der Gast nickte ihr zu. Der Wirt drehte sich um, kam eilig an die Theke: „Frau Aehre, ein Schnäpschen? Nein? Was für den Mann? Ein paar Zigaretten? Na ja, wenn man so schwer arbeitet! Verdient hat er’sl"

    Katrin blieb einsilbig. Der Wirt füllte das Fläschchen mit Wodka, nannte den Preis des Schnapses und sagte, während er die Zigaretten abzählte: „Eigentlich dürfte ich über die Straße keinen Schnaps verkaufen. Man traut uns doch nicht. Die Getränkesteuer, wissen Sie! Als wenn man zu uns kein Vertrauen haben könnte!"

    Er stellte Bier und Schnaps vor Katrin hin und gab ihr die Zigaretten. Nachdem sie gezahlt hatte und gegangen war, schlurfte er wieder zu dem Gast an den Tisch.

    „Ist ’ne Aktivistenfrau, da haben Sie’sl Alles denen rin, immer rin in den Hintern! Wir aber, was haben wir heute? Nichts, reine nichts!"

    Er kippte ein Glas.

    Der Gast mit seinem aufgedunsenen Wirtshausgesicht lächelte spöttisch, sagte: „Einer muß es ja haben. Jaja, immer denen rin in den Hintern!"

    „Und dann noch die da, diese Aehres! Das aschfarbene Gesicht des Wirts verzog sich griesgrämig. Er holte eine Flasche von der Theke, goß sich und auch dem Gast ein, während er fortfuhr: „Die? Die reinste Natter! Ein Weibsstück! Ich sag mal zu ihr: ,Nun, Frau Aehre, jetzt, wo ihr Mann Aktivist ist, gar nicht bös sag ich’s, aber sie fährt mich an ... die reinste Natter: ,Na was denn? Was ist denn? Sie können auch kaum Aktivist werden beim Biereinlaufenlassen. Die reinste Natter!

    Der Gast hob sein Glas: „Na prost! Der Wirt starrte erbittert auf den Tisch: „Und der Mann erst! So ein pommerscher Schinderl Ein Akkorddrücker, wissen Siel Erhöht die Norm! Neulich sagte mir einer der Arbeiter, für eine Arbeit, für die man früher fünfzig Stunden bekommen hätte, gäbe es jetzt nur fünfundzwanzig. Aber was wollen Sie! Die Arbeiter lassen sich alles gefallen, lassen sich einreden, ihnen gehöre alles, die Betriebe, die Fabrik. Mein Gott! Nun, und ich sage Ihnen, dieser Aehre ... der reinste Schinder!

    Als der Wirt einmal nicht auf den Tisch sah, bediente sich der Gast selbst. Der Wirt starrte ihn verblüfft an, wie er das leere Glas auf den Tisch stellte, dann nahm er die Flasche an sich und sagte knurrig: „Wohl auch Aktivist, was?"

    Der Gast prustete heraus: „In diesem Falle schon, wo’s nichts kostet! Er lachte, zog den Wirt zu sich heran, sah sich verstohlen im Schankraum um, obwohl niemand da war, und raunte ihm zu: „Kennen Sie den Neuesten von Hennecke? Nicht? Muß ich Ihnen erzählen!

    Andreas Andrytzki, ein Techniker aus der Fabrik, trat in seine Dachstube, von der aus man auf die Trümmer der Friedrichstraße blicken konnte, und fand, als er Licht machte, einen Brief seiner Mutter. Hastig öffnete er ihn, seine Gedanken wären dabei in der Kindheit. Es geschah nicht oft, daß er von ihr einen Brief bekam oder gar selbst einen schrieb. Zu Weihnachten, Neujahr, Ostern und zu den Geburtstagen eine Postkarte, das war alles.

    Er sah die unbeholfenen Schriftzüge der Mutter, und alles, was diese Frau ausmachte, stand wie immer unverwischbar vor ihm: das breite, knochige Gesicht mit den grünlich wirkenden Augen, der verkniffene Mund mit den scharfen Zähnen, die rostrote Flamme ihres schweren Haares; und er sah ihre breiten, verarbeiteten Hände, ihre derbe Gestalt, die in den Jahren auseinandergegangen war.

    „Du schreibst nicht, und das is nich schön von dir und wir wissen gar nich wie es dir geht! Vater is arbeitslos, weil er alt is, und er kann jetzt auf dem Sofa sitzen, aber wir wissen nich wie mit dem Geld hinkommen. Ihr hungert doch sicher in Berlin und alle sagen, bald sind alle bei euch weg, und bei euch is nix zu haben und bei uns im Kohlenpütt is alles zu haben und ich weiß nich, was werden soll. Karl sagt, das is alles Quatsch, daß ihr hungert und daß ihr verschleppt werdet. Ohne Geld is kein Leben. Wann kommst du nach Hause. Karl arbeitet noch, wie lange weiß der liebe Gott. Die Engländer wollen das Werk demontieren und dann isses aus mit Arbeit. Er wohnt jetzt mit seiner Frau nich mehr bei uns, aber er kommt immer wegen dem Toto. Ich muß doch wissen, wie man tippen muß. Malst du immer noch? Vater sagt, jetzt hätt er Zeit, daß du ihn malen kannst. Wann kommst du?"

    Er saß wie erstarrt; den Kopf auf die Hände gestützt, blickte er auf das Bildnis der Traktoristin. Die Zeit sickerte dahin, träg und zähflüssig. Er rauchte. Nach einer Weile ging er und drehte das Bild um. Vor seinem Blick tauchte das kleine Koloniehäuschen am Weg auf, die Förderkörbe neben den Maschinenhallen; Schornsteine reichten bis ins. niedrige Gewölk des Himmels. Die Zeit verrann, und er sah sich selbst; erst als Heimkehrer, noch in der verhaßten Uniform, dann in Zivil, wie er aus dem Häuschen trat, einen Koffer in der Hand, eine Tasche und die Malutensilien umgehängt.

    Die Mutter stand neben ihm in der Tür, blickte ihn aus ihren habgierigen Augen an, höhnte unter kaum versteckten Tränen: „Wirst schon sehen! Berlin! Mein Gott, was du nur dort willst! Auf dich haben die Iwans noch gewartet."

    Einer hatte geäußert: „Vier Mächte in dieser Stadt, das muß man gesehen haben. Der Nabel der Welt, Ost und West, alle Kulturen, alle Anschauungen und Meinungen prallen dort aufeinander, alle Möglichkeiten stehen einem offen!"

    Ein anderer meinte: „Es ist der Osten! Man erliegt ihm. Um Gottes willen! Und dann diese Malkultur der Russen!"

    Aber er, angewidert von dem satten Geschmeiß der Schieber, das sich überall breitmachte, ließ sich nicht zurückhalten.

    Berlin stand am Horizont wie eine lockende Fackel: Ruhm und Ehre für jeden, der eine feste und ehrliche Hand hat. Warum nicht für ihn?

    Wieder drehte er das Bildnis der Traktoristin um, betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen. Grau! Ja, grau! Mißlungen! Er schwenkte den Brief der Mutter, eine weiße Fahne; er hatte sich ergeben. Er stellte sich vor sein Bild der Förderkörbe und Schornsteine, vor die vielen Bilder der Menschen, die er geschaffen, schwenkte die Fahne, und dachte: Warum nur? Dem, was in den zwölf Jahren gewesen war, habe ich Ausdruck geben können, dem stumpfen Dahinvegetieren, dem Gedrücktsein und der Ergebung in die Ohnmacht, aber hier, hier habe ich versagt! Warum nur? Nach Hause fahren, mich ergeben? Aber Deutschland ist mitten durchgeschnitten, und wie soll man hinkommen? Mitten durchgeschnitten, und das, was war, ist nicht mehr, und was ist, wird nicht mehr lange sein. Und das - dieser Messerschnitt entlang der Elbe, das hat mich versagen lassen ... Schon dieser Himmel: wie Watte liegt er über den Kolonien und Werken, aufgeschlitzt von den Schornsteinen ... Aber wie komme ich hin? Waldshut liegt tief unten am Strom; steil führt eine Serpentinenstraße hinunter, und dann, steht man am Ufer, strömt der Fluß, strömt und strömt! Im Taunus ein Dorf, eingebettet in ein Tal von Feldern, umgürtet von Bäumen, die eine Anhöhe hinaufklettern; an den Herbstsonntagen duftet das Taunustal nach Pflaumenkuchen. Am Neckar wächst auf den Hängen der Wein; die Hänge und der Himmel flammen am Abend golden wie herbstlicher Eichenwald. Und der Bodensee schimmert wie eine Riesenschale voll flüssigen Altsilbers. Und Wein an den Hängen, und Wein und Wald, und am Wildgebüsch glitzernder Altweibersommer.

    Den Brief in der Hand, rote Flecken im störrischen Gesicht, steht er vor dem Bildnis. Das alles ist dahin! Nie mehr! Er geht an den Tisch, seine Schritte sind hölzern, und seine Hand, die den Brief weglegt, ist wie abgestorben. Er wäscht sich, rasiert sich, kämmt den roten Wusch der Haare, und das störrische Gesicht im Spiegel vor sich, denkt er: Wozu das alles? Ich bin kein Maler mehr, ich bin jetzt ein Bautechniker ... Und während er sich umzieht, ein sauberes graues Hemd, eine Hose ohne Bügelfalten und schon etwas abgetragen, taucht das dickliche, irgendwie undurchsichtige Gesicht Matschats vor ihm auf, und er denkt: Wozu soll ich mit ihm saufen? Weil ich ihm den Plan gezeichnet habe? Er ist mein Chef, und wenn er mir sagt: Zeichne den Plan!, nun, dann muß ich es tun, aber ich brauche nicht mit ihm saufen zu gehen ... Nachlässig bindet er sich den Schlips, doch als er dabei ist, sich mit einem Lappen über die Schuhe 2u wischen, beunruhigt ihn plötzlich die Erinnerung an das, was tagsüber in der Fabrik geschah.

    Suse Rieck hatte Matschat durch den Gang an den Ringöfen vorbei auf sie beide zukommen sehen und war, ohne noch ein Wort zu verlieren, mit ihrer Karre davongegangen. Matschat blieb bei ihm stehen, sah ihr nach und fragte schmunzelnd mit anzüglichem Augenzwinkern: „Hab ich dich gestört?"

    Andrytzki knurrte etwas. Matschat begann zu lachen, ein fettes, heiseres Lachen: „Kein übler Brocken! Eine Figur, alles dran! Für die kalten Tage nicht schlecht."

    Als ihn Andrytzki ansah, fuhr er ein wenig zurück, klopfte ihm dann auf die Schulter und sagte: „Nun, nun, Junge, nur nicht gleich wild werden!"

    Er hakte sich bei Andrytzki ein, zog ihn gegen das Ende des Ringofens zu, an der zerstörten Kammer vorbei, die offen wie ein ausgeweidetes Tier lag, und in der man alles erkennen konnte: die Anlage und die Läufe der Gaskanäle, die Führungen des Feuers.

    Leise fragte er: „Fertig?"

    Andrytzki nickte.

    Matschats dickliches Gesicht mit den faltigen Wangen verriet Erleichterung. Lebhafter fuhr er fort: „Es hält ja nicht so genau. Ich habe zwanzig Jahre Ringöfen gebaut, und wenn wir jetzt an den ausgebrannten gehen müssen, wär’s auch wohl ohne Plan gegangen. Aber wenn man mich gefragt hätte: Wo ist der Plan? Ich sage dir, Andrytzki, Ordnung erspart dir manche Mühe. Stell dir vor, wenn ich dich nicht gehabt hätte. Wirklich, es war nett von dir, mir so nebenbei den Plan zu zeichnen. Sind auch die Feuerzüge und Kanäle drin? Na, das ist fein! Wie mir das nur passieren konnte, die Pläne zu verlegen! Sich unterbrechend, fragte er: „Bis wann hast du die Maße eingezeichnet?

    „Bis Mittag wohl", sagte Andrytzki.

    „Ich hol sie mir dann. Und heute abend, wie verabredet, ja? Seine stets geschwollenen Augen blinzelten ihm zu: „Heben wir mal einen richtigen, ja? Dieser verfluchte Kohlenstaub in der Bude! Wenn man da nicht abends einen richtigen verlöten kann, hält man’s reineweg nicht aus. Und leiser fügte er hinzu: „Du weißt ja, unter Kollegen ... ich meine, es braucht niemand zu wissen."

    Andrytzki nickte; er konnte immer noch nichts sagen. Er sah ihm nach, wie er davonging, schwerfällig, stockernd, gleich einem zu fett gewordenen Hahn. Matschat blieb bei drei Frauen stehen, sprach mit ihnen, lachte, und einer klopfte er so fest auf die Schulter, daß der Kohlenstaub aus ihrer Jacke stob. Die Frau hob erbost die Schaufel, und Matschat, immer noch lachend, machte sich eilig davon.

    Andrytzki wischte sich über die Stirn, spuckte dann plötzlich aus, als sei ihm Kohlenstaub zwischen die Zähne gekommen. Zwei-, dreimal spuckte er aus und brummte ärgerlich, ohne zu wissen, warum: „Verdammter Dreck... so ein Dreck!"

    Und obwohl sich dieser Verdruß immer noch nicht gelegt hatte, und ihm wenig daran lag, mit Matschat zu saufen, machte er sich doch fertig und schlenderte die Friedrichstraße hinunter, um ihn in der Nähe der S-Bahn zu treffen.

    Als Katrin in die Küche zurückkam, saß Miele allein am Tisch und aß. Auf ihren fragenden Blick antwortete das Kind: „Pappi schläft."

    „Was?" Katrin stellte die Flasche auf den Tisch.

    „Pappi ist schlafen gegangen", wiederholte die Kleine.

    Katrin zog sich aus und ging ins Schlafzimmer. Noch in den Kleidern, mit ausgebreiteten Armen, krauser Stirn und verkrampftem Mund lag Aehre auf dem Bett und schlief. Im trüben Licht der schwachen Lampe wirkte sein längliches, blasses Gesicht schmerzhaft angespannt, so, als seien selbst jetzt seine Gedanken noch nicht zur Ruhe gekommen. Katrin entkleidete ihn, ohne daß er erwachte. Sie strich ihm über die Stirn, aber die geraden, festen Falten lösten sich nicht. Beklommen fragte sie sich: Was ist nur passiert? Was nur?

    Aehre schien die Bettdecke über sich zu spüren; er schauerte zusammen, als friere ihn. Doch der verkrampfte Ausdruck blieb, die Stirn entspannte sich nicht. Er atmete ruhig, nur zuweilen, in einem tiefen Atemholen, dehnte sich die Brust.

    Katrin ging in die Küche zurück, zog die Kleine aus. Sie fragte: „Pappi schläft?"

    „Ja, er ist müde", entgegnete Katrin.

    „Immer ist er müde", maulte das Kind. Katrin brachte es ins Bett, und auch sie, unruhig wie sie war, legte sich neben Aehre und lauschte lange seinem heftiger werdenden Atem.

    Auf dem Schlaf Hans Aehres lag seit vielen Jahren der gleiche wüste Traum. Im Einschlafen, übermüdet und zerschlagen, war ihm, als fiele er in ein tiefes, schwarzes Loch. Wie vor einem dunklen Vorhang sah er, von einer behandschuhten Hand gehalten, die Reitpeitsche. Wurde er wach und machte sich auf den Weg zu einer der vielen Arbeitsstellen seines Lebens, sei es als Kind in Pommern, als junger Bursche in einer Provinzstadt oder später als Arbeiter in Berlin, immer begleitete ihn das Bild der Reitpeitsche wie ein Gespenst.

    Aus der Nachtschwärze seines Traumes hob sie sich langsam vor ihm auf, fuhr dann zischend herab. Er hörte das Ächzen des Großvaters, sah das müde, zerquälte Antlitz, die Striemen von der Stirn bis zum Mund aufgeplatzt. Nah und groß stand das Gesicht des Alten vor ihm, und dahinter das ganze unermeßliche Gut des Mannes mit der Reitpeitsche: eine Reihe Häuslerhütten in der ebenen Landschaft Pommerns an einem dreckigen, im Februarregen versumpften Dorfweg. Der Putz auf den Fassaden, abgeblättert und verwittert, wie grauer Schorf; die Fenster niedrig und ohne Gardinen, und die schrägen Strohdächer, bemoost und undicht, wie zerfetzte Hüte über die Mauern gestülpt. Nah an einem Wald, in einem Park von mächtigen alten Buchen, die prahlerische Fassade des Gutsschlosses, verziert mit aufgeputzten Stucksäulen. Wenn der Wind ging, wehten aus den großen, offenen Fenstern die Gardinen wie losgerissene Segel.

    Von seinem Vater wußte Hans Aehre nichts, von seiner Mutter nicht viel. Die Kinder aus den Häuslerhütten schrien: „Dich hat der Esel im Galopp verloren!" Schreck und Scham saßen ihm wie ein knochiges Ungeheuer im Genick. Die gutmütig beschwichtigende Stimme des Großvaters, seine schwere, verarbeitete Hand, die aber weich wie Taubenflaum auf seiner Schulter lag, lösten die Tränen.

    Er fragte dann wohl den Großvater: „Bin ich von einem Stern gefallen?"

    Im Schornstein heulte der Wind; sie lagen eng aneinandergepreßt auf der Holzpritsche. Das Stroh knisterte, wenn sie fröstelnd zusammenfuhren.

    „Jaja", knurrte überrascht der Alte.

    „Von einem großen Stern?" fragte unruhig Hans.

    „Sicher", antwortete der Großvater, und es klang wie das Knarren von trockenem Leder.

    „Oder vielleicht vom Mond?"

    „Jaja", beruhigte der Alte. Hans spürte den Atem des Großvaters in seinem Gesicht, den harten Arm, der ihn umfangen hielt. Das Haus zitterte unter der Wucht des Windes, die Kälte kroch wie ein Tier mit nassem, zottigem Fell in die Stube. Es tat gut, im Einschlafen den Bart und die Arme des Alten zu spüren, sich im Heulen des Windes an seinen ausgemergelten Leib pressen zu können.

    Mit schläfriger Stimme fragte Hans noch einmal: „Ganz sicher vom Mond?"

    „Schlaf jetzt ... schlaf! knurrte der Alte. Und er setzte hinzu, für sich, in Bitterkeit: „Wenn du wüßtest! Wenn du wüßtest!

    Und in seinem Traum vernahm er, so wie damals als achtjähriger Knabe, das Ächzen des Großvaters, seine vor Schmerz wimmernde Stimme: „Herr Hauptmann ...!"

    Erst dann tauchte vor dem müden, zerschundenen Gesicht des Großvaters das schmale, kantige Gesicht des Gutsbesitzers auf, der hochmütige Mund, die zähe, sehnige Gestalt.

    Dem Großvater rann das Blut aus den Striemen in die Mundwinkel. Er schluckte es. Ohne Demut, stockend sagte er: „Herr Hauptmann, es ist noch kalt. Dürft ich den Herrn Hauptmann bitten ... Holz! Holz brauche ich!"

    „Holz?" Die Stimme des Gutsherrn war wie seine Peitsche, dünn, zischend, ledern. Das Gesicht mit der schweren, langen Nase und der herrschsüchtig steilen Stirn ging in den Traum des Jungen ein wie eines der bösen Gesichter aus den Märchen, die des Abends in den Hütten an den Feuern erzählt wurden.

    „Der Kleine und ich, wir frieren! bestätigte der Großvater. Das Lachen des Hauptmanns pfiff wie der kalte Wind: „Was? Der Kleine?

    Februarregen, durchjagt von nassen, schweren Schneeflocken, schlug auf das Dorf nieder, verhüllte die Wälder ringsum; nichts anderes gab es mehr auf der ganzen weiten Welt als den Gutshof.

    Das Gesicht des Hauptmanns wurde wie blanker Stein.

    „Herr Hauptmann, meine Tochter ... nun, das Kind ... Vor Gott sind wir alle gleich, und gerichtet wird nur nach unsern Werken."

    Die Reitpeitsche fuhr nieder. Der Großvater stöhnte auf. Hans, ein magerer Knabe zu jener Zeit, hatte Ochsen so stöhnen hören, wenn die Peitsche erbarmungslos auf sie niedergesaust war, bis sie im Schmutz des Wegs zusammensanken.

    Und der Hauptmann rief: „Was will Er? Vor Gott alle gleich? Gerichtet wird nach unsern Werken?"

    Die Striemen der Peitsche, einer über dem linken Auge, ein anderer über dem Mund, füllten sich mit dunkelrot sickerndem Blut. Der Alte keuchte: „Nach unsern Werken, ja! Herr, wir sind doch auch Menschen! Das Dach ist undicht!"

    Der Hauptmann lachte, hob die Peitsche, jagte die beiden davon.

    Der Großvater ging bis ans Ende des Dorfes, stolpernd, als habe er eine Binde vor den Augen. Sie erreichten den Rand des Waldes. Es war fast Abend, die einzelnen Bäume waren kaum zu erkennen. Der Großvater blickte sich um, stelzte dann schwerfällig über den Acker in den Wald. Sie klaubten trockene Äste zusammen, brachen Holz von Bäumen, die verdorrt standen.

    Zuweilen murmelte der Alte, und es klang wie der harsche Regen im Geäst: „Nimm! Es gehört uns allen. Es gehört dir!"

    Am Abend, in der Hütte, beim prasselnden Herdfeuer, fragte Hans: „Warum darf er dich hauen?"

    Der Alte kühlte mit einem nassen Lappen seine Wunden. Er nahm ihn weg, blinzelte ins Feuer, machte: „Hm ... na ja, und sagte schließlich mürrisch: „Nimm dir ein Stück Brot.

    Aber der Kleine fragte wiederum: „Darf man so hauen?"

    Der Alte erhob sich, trat an den Tisch, schnitt sich Brot und gab auch dem Jungen; nachdem er einige Äste auf die Glut gelegt hatte, hielt er das Brot über das Feuer.

    Hans, mit verkniffenen Augen, sagte böse: „Ich hätt ihm ins Gesicht geschlagen."

    Erschrocken hielt ihm der Alte den Mund

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