positiv: Roman
Von Masande Ntshanga
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positiv - Masande Ntshanga
erinnere.
1. TEIL
ALS ICH HEUTE MORGEN DIE Augen öffnete, lullte erneut einer dieser warmen Samstage die Halbinsel ein. Irgendwer hatte schon wieder Cissies Wohnzimmerfenster offen gelassen, das nach Osten raus, über der Kopie von Rothkos No 4, die sie letzte Woche für uns drei gemalt hat. Als ich da vor der Glasscheibe stand, wusste ich nicht, wer von uns das mit dem Fenster verbockt hatte, wusste aber, dass der Wind, der unter dem Holzschiebefenster entlang pfiff, mir das Gefühl gab, allein hier zu sein. Eine dicke Smogdecke schob sich bis an die Ränder der Metropole, und alles sah zugleich aufgebläht und ausgelaugt aus. Mir ging durch den Kopf, was es alles gab in dieser Stadt, und wie sich alles veränderte, kaum dass man sich an etwas gewöhnt hatte. Und dann ging mir durch den Kopf, dass es mich auch noch gab.
Danach schloss ich das Fenster und kurz darauf die Augen.
Inzwischen ist es ein bisschen später. Der Himmel scheint bereit für ein weiteres nasses Wochenende, weitere drei Tage, an denen die Bäume sich im Krieg mit ihren Wurzeln befinden und später Winterregen die Scheiben vom Dreck befreit.
Ich atme leicht ein.
Muss husten.
Ich bin gerade hier in Newlands. Bei Cecilia. Und ich schätze, die Situation lässt sich einfach erklären. Bis ich sterbe, ist es noch lange hin, aber das mit der SMS von meinem Onkel ist erst drei kurze Stunden her, und alles andere läuft so, wie es auch sonst zwischen meinen Freunden und mir läuft. Wir drei, Ruan, Cecilia und ich wachen wie immer kurz vor zwölf auf und nehmen jeder zwei Ibuprofen. Dann schlafen wir weiter, wachen eine Stunde später wieder auf und nehmen noch mal zwei Tabletten aus der 800-mg-Packung. Später stellt Cissie den Herd an, um Kleister zu kochen, und wir schlurfen stumm durch die Wohnung, reiben uns den Schlaf aus den Augen und stolpern übereinander. Wir lassen uns hier bei Cissie durch den frühen Nachmittag treiben.
Heute Morgen habe ich am ganzen Körper Gänsehaut. Ich stehe mit dem einen Fuß auf kalten, abgeplatzten Fliesen, mit dem anderen auf nassem Beton. Ich gähne, reibe mir den Schlafsand aus den Augen, und irgendwie könnten diese Körnchen auch Tränen sein; besser, vor diesem Gedanken die Augen zu verschließen. Besser, das nicht zu wissen.
Jetzt öffne ich sie wieder.
Bei Cissie bin ich immer der Letzte im Bad. Weil der Fußhebel am Treteimer kaputt ist, schmeiße ich den Faden Zahnseide in die Kloschüssel, wo er jetzt schwimmt. Ich kann Ruan sehen, wie er Cissie vom anderen Ende der Küche zuschaut, während er Räucherstäbchen anzündet und flach auf die Arbeitsplatte legt. Er versucht, den Kleistergeruch zu überdecken, der vom Herd herüberzieht.
Die Wände hier sind übrigens fast alle fleckig, und die Böden rissig. Das ist nicht Cissies Schuld, sondern halt das Gebäude. Dadurch kann sie sich eine Wohnung in dieser Gegend überhaupt nur leisten. Als ich einmal allein auf ihrem Sofa saß, nüchtern, aber wahrscheinlich noch im Halbschlaf, versuchte ich, die Risse in den Dielen zu zählen. Sie erinnerten mich an das Lächeln von Sis’ Funeka an den Tagen vor ihrer Beerdigung, und irgendwie sieht es so aus, als würden sie das auch jetzt noch tun. Nach Luthandos Tod weigerte sich meine Tante, mich zu sehen, und obwohl ich nicht bei ihrer Beerdigung war, erzählten sie mir, dass sie mich im Krankenbett für ihn gehalten hat. Damals dachte ich, ich hätte Glück gehabt, ihren demenzbedingten Erkenntnissen entkommen zu sein. Vielleicht hätte sie mich als den entlarvt, der ihn getötet hat.
Stattdessen stehe ich hier.
Verkatert in Newlands, klapperdürre und klitschnasse 1,88 und tropfe mit rostigem Leitungswasser Cissies Türschwelle voll. Cissie, die in der Küche steht, hat das einzige trockene Handtuch in der ganzen Wohnung um die Hüften gebunden. Ich schaue von der Tür zu ihr rein. Dann huste ich extra laut, um sie zu ärgern.
Also echt, Cecilia, wenn das nicht typisch ist.
Cissie, die am Herd steht, antwortet nicht. Stattdessen fängt sie an zu lachen, vielmehr zu spotten. So ist sie zurzeit drauf: spöttisch.
Dann dreht sie sich in Zeitlupe zu uns um. Als ihre Show für Ruan und mich beendet ist, wirft sie mir ein zerknittertes Geschirrtuch zu, mit dem ich mich abtrocknen soll. Es ist dämlich von mir, dass ich es fange, aber genau das tue ich, und ehe ich protestieren kann, sagt sie, dass ich hingucken soll, was sie da macht. Ich schaue hoch, und Cecilia winkt mich zu sich rein.
Hey, sagt sie, siehst du nicht, dass ich voll die Brötchenverdienerin bin? Ich bin in diesem Scheißgebäude die einzige auf der vierten Etage, die pünktlich die Miete zahlt. Siehst du das nicht?
Erst seufze ich nur, aber weil sie Recht hat, nicke ich dann.
Ich trockne mir den Nacken und auch die Stellen hinter den Ohren ab. Im Bad schlüpfe ich in Shorts und finde im Wäschekorb ein trockenes T-Shirt. Es gehört ihr, aber es war mal meins, also ziehe ich es an. Dann rubble ich mir mit dem Geschirrtuch über die nassen Haare und lege es auf die Halterung des Duschvorhangs, ehe ich an Cissie vorbei marschiere, um die Küchenfenster zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass wir jetzt alle ein bisschen frische Luft brauchen.
Nachdem ich sämtliche Schlösser der Wohnungstür entriegelt habe, gehe ich raus auf den Balkon. Ich lehne mich mit dem Rücken an das Geländer, atme aus und beobachte, wie Cissie sich seufzend über die Stirn wischt. Mit einem Holzlöffel schiebt sie die glibbrige Masse im Topf zusammen, bevor sie sie langsam in eine gelbe Schüssel tropfen lässt. Ich stehe da, und sie steht da. Eine Weile starren wir uns an.
Ich schätze mal, genauso wird es heute laufen: Als würde man auf dem Rücken eines riesigen sterbenden Säugetiers reiten. Es passt zu dieser drückenden Wärme, und ich verschließe vor all dem lieber die Augen. Versuche, nicht an Bhut’ Vuyos Nachricht zu denken. Versuche, nicht an das mit meinem toten Bruder Luthando zu denken, was ich in den Tagen, die sich zu Jahren zwischen uns ausgewachsen haben, verdrängen musste. Lieber denke ich daran, dass wieder Wochenende ist. Es ist Wochenende, und genau so was hier machen wir drei an Tagen wie heute.
Wir sitzen im Schneidersitz im Wohnzimmer, Ruan klappt seinen Laptop auf und schaltet den Drucker auf Cissies niedrigem Couchtisch ein. Er füttert das Gerät mit Papier und schaut zu, wie der Computer mit den üblichen Geräuschen hochfährt. Ich schätze mal, man könnte das hier unsere Arbeit nennen, unsere Art, an diesem Ort hier in Kapstadt ein bisschen was dazuzuverdienen.
Damit ihr es besser versteht, müsst ihr Cecelia kennenlernen.
Cissie ist hier in West Ridge unsere Haus-Chemikerin. Sie ist verantwortlich für den Kleister, mit dem wir unsere Poster anbringen. Um ihn so hinzukriegen wie Cissie braucht man Mehl, braunen Zucker und einen Schuss Essig. Das gibt man in eine Schüssel, fügt eine Tasse Wasser hinzu und mischt alles gründlich durch, bis keine Mehlklümpchen mehr übrig sind. Dann heizt man den Ofen auf 180 Grad vor, bringt den Topfinhalt zum Kochen und rührt, bis das Zeug die richtige Konsistenz hat. Es hilft natürlich ziemlich, wenn man weiß, wie man dabei so geduldig und aufmerksam bleibt wie Cecilia. Wenn man das nicht hinkriegt, sollte man zumindest versuchen, halb so anspruchsvoll zu sein wie sie, und was bei Cissie als halb durchgeht, bedeutet für den Rest von uns natürlich voll und ganz.
Ich weiß noch, wie ich mal sieben Monate lang keinen Job hatte. Damals verbrauchte ich gerade den letzten Rest der Abfindung, als Cecilia sich – frisch geduscht und die Hand kurz vorher am neuen, aber kaputten Sandwich-Grill verbrannt – zu mir aufs Bett setzte und wissen wollte, ob ich jemals darüber nachgedacht hätte, was in dem Moment, wo ich sterbe, tatsächlich mit mir geschieht. So war das damals vor rund zwei Jahren, und ich schätze mal, es ist heute noch fast genauso. Es war an einem warmen Oktoberabend. Der South-Easter fegte durch Kapstadt, um unsere Haut einer Trockenreinigung zu unterziehen, und Cecilia mit ihren tropfnassen Haaren und dem Geruch nach »Pick n Pay«-Spülung hinterließ dunkle, feuchte Flecken auf meiner Jobmail-Akte.
Ich antwortete, dass ich über so was nie nachdächte, weil mir solche Gedanken nicht erlauben würden, zu tun, was ich getan hatte.
Cissie, den Kopf geneigt, hörte zu und brauchte lange, bevor sie reagierte und einfach nur Okay sagte. Dann lehnte sie sich gegen meine Brust und schloss die Augen, wollte schlafen, und weil alles so still war um uns und sich die Wohnung anfühlte wie eine Gruft, beugte ich mich zu ihr runter, um den Teil ihres Fingers zu berühren, der gerade starb. Cissie steckte mir mit noch immer geschlossenen Augen den verbrannten Finger in den Mund und sagte, während sie mir langsam über die Zunge fuhr, ich solle an ihm lutschen, bis er wieder zum Leben erweckt wäre.
Das machte ich dann. Es machte mir nichts aus.
Ich beobachte jetzt, wie Cissie die Ofentür auf- und zuklappt. Wieder streicht sie sich einen ihrer aufmüpfigen Braids aus dem Gesicht und wedelt eine Rauchwolke weg. Sie sagt, am meisten stört sie an mir, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit nie ganz bei meinem Gegenüber bin. Jedes Mal, wenn ich zulasse, dass sich jemand an meiner Schulter ausheult, gilt meine größte Sorge dem Schnodder, der dann womöglich an meinem T-Shirt klebt. Ich habe ihr gesagt, dass ich das gut finde, wie sie das ausdrückt.
Ich weiß noch, wie sie mir das erste Mal damit kam. Der Regen hatte gerade eingesetzt, und sie stand halbnackt von der Matratze auf, die wir drei uns manchmal teilten. Es war kurz vor Mitternacht, und das ganze Zimmer war in Dunkelheit gehüllt. Ich wartete eine Weile, dann leistete ich ihr auf dem Holzboden Gesellschaft. Keiner von uns schien besonders scharf darauf, bald wieder aufzustehen. Wir nahmen uns Zeit, saßen still da, und das erste graue Licht drang durch die Ritzen der Rollos.
Bevor sie unter die Dusche ging, sagte Cissie – vielleicht, weil ich ihr mit meinem Schweigen Recht gegeben hatte –, dass ich oft auf die Uhr schauen würde, wenn mir jemand von seinen Problemen erzählt. Ich sagte, ich würde daran arbeiten. Dann schaute ich auf die Uhr.
Ich arbeite immer noch daran.
Aber auch wenn ich Cissies Vorstellungen von ehrlicher Anteilnahme nicht gerecht werde, habe ich einen Freund, der noch schlechter wegkommt als ich. Dieser Freund heißt Ruan und macht sich über sowas keinen Kopf. Das weiß ich, weil ich ihn gefragt habe.
Ich meine, echt jetzt, ihr müsstet Ruan mal hören.
Er ist hier in West Ridge unser Haus-Drucker. Um so viele Tinte zu verdrucken, wie er, muss man eine normale HP 60 XL Patrone kaufen, sie mit nach Hause nehmen, drucken, bis sie halb leer ist und dann mit Wasserdampf den Deckel von der Kartusche lösen. Das muss man dem Hersteller als Mangel melden, zum Beweis ein Foto anhängen und mit der Antwortmail die halbleere Patrone im Laden gegen eine neue eintauschen. Die meisten Tintenhersteller werden die Geschichte als bedauernswerten Einzelfall abhaken. Für die Unternehmen ist es keine große Sache, für die einzelne Klage eines ausländischen Kunden den vollen Kundenservice zu bieten. Es hilft natürlich ziemlich, wenn man so oft und mühelos lügen kann wie Ruan.
Ich beobachte, wie er auf Cissies Couch sitzt und den Kopf nach hinten legt. Er hat einen Stoppelbart bis zur Halsmitte, und sein Adamsapfel hüpft, während der Drucker rattert und Berge von Papier einzieht, auf die schon die Tinte wartet, die er den Verkäufern in Kapstadt abgeluchst hat.
Summa summarum sind das dann wir: Die beiden plus meine Wenigkeit. Wir bilden ein Dreierteam, und wenn ihr euch für mein aktuelles Sozialleben interessiert, müsst ihr einfach die beiden im Blick behalten: Ruan und Cecilia.
Ich weiß schon, über Ruan hab ich noch nicht so viel erzählt. Ruan und ich sind seit Jahren, oder vielleicht auch noch länger, so eng wie Brüder. Für mich haut das letztlich so hin, schätze ich mal, und für ihn, wenn es sein muss, anscheinend auch. Wenn man ihn kennenlernt, merkt man, dass man erstens nie glauben darf, was er sagt, und zweitens, dass er einem, wenn er high ist, jedes Mal erzählt, dass seine erste Nahtoderfahrung ein Download war.
Echt wahr.
Wenn man ihn trifft, kommt er entweder gerade runter oder ist voll drauf. Dazwischen halten wir es meist beide nicht lange aus. Dann erzählt einem Ruan, dass jetzt, wo er seine Pflanzen mit diesem neuen Dünger gießt, den er im Netz bestellt hat, so viele Tauben zu seiner Wohnung kommen wie nie zuvor. Und wenn man ihn lässt, erzählt er einem, dass diese Vögel, bevor sie wieder auf seinem Fensterbrett in Sea Point landen, den ganzen weiten Weg zurück von den Philippinen mit nur einem kurzen Zwischenhalt in Maine geschafft haben. Am Anfang, als ich ihn kennenlernte, haben Ruan und ich viel Zeit damit verbracht, über diese Vögel zu reden. Er erzählte mir, dass er als Kind Asthma gehabt hätte und introvertiert gewesen sei, und ich nicht glauben solle, er habe sein ganzes Wissen über die Zugvögel von regelmäßigen Museumsbesuchen. Er erzählte Cissie und mir, wie viel ihm diese Vögel bedeuteten, und auch wenn wir das nicht ganz nachvollziehen konnten, glaubten wir ihm.
Und dann gibt es schließlich noch mich.
Ich habe, natürlich auch einen Namen, klar, einen Mädchennamen. Meine Mutter hatte eine Freundin, die in den 70ern durch die Arbeit in einer Textilfabrik fast blind geworden ist. Sie haben zusammen das Lovedale College besucht, meine Mutter hat dann an der Fort Hare weiterstudiert, bevor sie Jahre später unter dem Dach eines Fabrikladens im Osten von London wieder aufeinander trafen. Ihre Freundin flickte Kleider, um ihre Tochter Lindanathi zur Schule schicken zu können. Dieses Kind, das mit Kniestrümpfen und einem Rucksack voller Bücher still in einer Ecke saß, muss für meine Mutter ein Symbol der Hoffnung gewesen sein. Sie überredete meinen Vater, mir denselben Namen zu geben.
Lindanathi heißt ›warte hier mit uns‹. Worauf ich warten soll, oder mit wem ich warten soll, hat mir nie einer gesagt. Seit ich alle zehn Buchstaben meines Namens schreiben kann, versuche ich, ihn auf nur fünf Buchstaben abzukürzen. Ihr dürft das gern als Hinweis verstehen, wie ihr mich nennen sollt. Oder auch nicht. Ist mir egal, für mich macht es keinen Unterschied.
Das ist mein Name.
Ich bin Nathi und einer von uns dreien; ich bin der, der sterben soll. Um so viel herumzustehen wie ich, muss man einer der vierzig Millionen Menschen sein, die gegenwärtig mit dem menschlichen Immunschwächevirus infiziert sind. Man muss sich den Computer eines Freundes schnappen und voller Ironie ein