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Drachenstaub: Reise und Wiederkehr
Drachenstaub: Reise und Wiederkehr
Drachenstaub: Reise und Wiederkehr
eBook287 Seiten3 Stunden

Drachenstaub: Reise und Wiederkehr

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Über dieses E-Book

Der Drache Tumaros ist tot und im Bärendorf Mühlenau ist Frieden eingekehrt. Niemand ahnt, dass die Bestie eine schreckliche Gefangene hatte und der Friede nur eine Atempause ist.
Bis ausgerechnet Bernhards Tochter Patrizia den Zaubergang im Drachenberg entdeckt und um Haaresbreite in die Fänge der Hexe gerät. Jetzt wissen die Dorfbewohner, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ein neuer Fluch über sie hereinbricht.
Einzig an Bernhard liegt es nun zu verhindern, dass sie erneut versklavt werden, denn in seinen Adern fließt Drachenblut. Es kann den Weg weisen, um das Unheil abzuwenden. Einmal mehr muss er sich seiner mühsam verdrängten Vergangenheit stellen - und die Zeit drängt!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Mai 2018
ISBN9783752882445
Drachenstaub: Reise und Wiederkehr
Autor

Paula Roose

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    Buchvorschau

    Drachenstaub - Paula Roose

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Drachenberg

    Kälte

    Die Vergangenheit kommt zurück

    Innere Stimmen

    Aufbruch

    Sternenstaub

    Nekrosus

    Waldgrenze

    Begegnung

    Nächtliches Erwachen

    Die drei Zeichen

    Menschen

    Der Tanz

    Die Stadt

    Der uralte Zeitenwächter

    Gefährliche Nähe

    Der tote Wald

    Felsenwüste

    Bannwall

    Allein

    Drachenhöhle

    Eiseskälte

    Drachenversammlung

    Stella-Caelo

    Bärenkuss

    Heimweg

    Ankunft

    Heimat

    Menschsein

    Bärsein

    Sternenwandel

    Abschied

    Rosa

    Jetzt und für immer

    Neue Zeit

    Sternenreise

    Epilog

    Prolog

    Klatschnass erwachte Bernhard. Verdammt, es war nur ein Traum! Er versuchte, sich zu beruhigen. Aber es war mehr gewesen. Er hatte Dinge gesehen, die ihm beängstigend vertraut waren. Mühsam rang er nach Luft. Die Erlösung kam nur langsam.

    Er stand in der Drachenhöhle, tief im Inneren des Berges. Es war ein Verlies, ohne Tür, ohne Licht und ohne Leben. Dort sah er eine Frau. Ihre Haut war weiß wie Schnee, ihre Lippen blutleer. Unaufhörlich schritt sie im Kreis. Ihr weißer Rock umspielte mit Fransen die Beine wie Fangarme. Ein ärmelloses Hemd ließ den Blick auf die Taille frei. Schwarze Haare umrahmten die Schultern und gaben ihr eine menschliche Erscheinung — bis man in den Abgrund ihrer Augen sah.

    Ihre Fingernägel kratzten über den Felsen. Das Geräusch hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Der Stein zerrieb unter ihren hageren Fingern, erneuerte sich sogleich und verwischte die Spur. Drachenzauber hielt den Stein zusammen.

    Bernhard hatte im Traum gewusst, wer sie war: Proélia.

    Seit fünfhundert Jahren verharrte sie in diesem Verlies. Sie hatte das Feuer des Drachen Tumaros unterschätzt. Ein Fehler. Im Kampf hatte er sie aller Kälte beraubt und eingesperrt. Regungslos hatte die Eishexe am Boden gelegen, Jahrhundert um Jahrhundert. Aber der Drachenzauber hatte plötzlich nachgelassen. Ihre Kälte konnte zurückkehren und ihr neue Kraft verleihen.

    Noch war er wirksam. Aber Proélia kannte weder Zeit noch Raum. Dunkelheit und Gefangenschaft erschütterten sie nicht. Seit geraumer Zeit schritt sie im Kreis, folgte ihrem eigenen Rhythmus und kratzte am Felsen. Nur noch ein drachenblütiges Wesen, dessen Kraft sie rauben konnte, fehlte, um ihrem Gefängnis zu entkommen. Sie hatte so ein Wesen gespürt, als sie sich das erste Mal im Verlies erhoben hatte. Es war eine Frage der Zeit, bis es wieder in ihre Nähe kommen würde.

    Proélia konnte warten.

    Bernhard schlug die Decke zur Seite und öffnete das Fenster. Ein kühler Lufthauch wehte ihm entgegen. Er wusste, dass sich in der Schwärze der Nacht der Drachenberg verbarg, und er fragte sich, was in seinem Inneren vor sich ging. Kam die Vergangenheit zurück?

    Bernadette schlief. Sie bemerkte die Albträume nicht, die ihren Mann quälten. Und er sagte es ihr nicht. Warum auch? Gegen das Grauen einer Drachenhöhle konnte niemand etwas ausrichten. Und wenn es wahr war, was er nachts in seinen Träumen sah?

    »Hört das denn niemals auf?«, flüsterte Bernhard in die Nacht und legte sich wieder ins Bett. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken.

    Drachenberg

    Die Spätsommersonne stand im Zenit und schickte mit aller Kraft ihre letzten wärmenden Strahlen. Patrizia lag auf der Picknickdecke und kaute auf einem Grashalm. Ihre Gedanken hingen am Drachenberg, dem kleinen, bizarren Gebirge, das sich direkt vor ihrem Picknickplatz aufbaute. Die Felsen ragten wetterzerklüftet in die Höhe, unwegsam und rau. Kein Leben ließ sich darin vermuten und doch war es nicht nur die Wohnstatt des Drachen Tumaros gewesen, sondern auch die Kinderstube ihres Vaters, Bernhard Drachenbär, dem Förster des Finsterwaldes.

    Sie setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Jedes Jahr kamen sie zum Familienausflug an diese Baumgrenze. Der Finsterwald umfasste den Drachenberg wie das Meer eine Insel. Aber eigentlich war es umgekehrt. Der Wald war die Insel und der Drachenberg das Meer mit endloser Tiefe. Wenn der Schrecken alter Tage auch daraus verschwunden war, so war die eiserne Stille, die hier einst geherrscht hatte, noch immer zu spüren.

    Auf halber Höhe des Gipfels war ein Geröllhaufen sichtbar. Patrizia vermutete dahinter den Eingang. Ihr Vater schwieg dazu. »Er ist verschüttet und das ist gut so«, pflegte er zu antworten. Auch als sie nicht lockerließ, blieb er hart. »Du bist ein Bär und meine Tochter, mehr brauchst du nicht zu wissen.«

    Aber nein, sie war nicht nur ein Bär. In ihren Adern floss Drachenblut. Patrizia sah es nicht nur an ihren saphirblauen Augen, sie fühlte es, wenn sie Widerspruch nicht ertragen konnte oder wenn die Sehnsucht nach Gold und Diamanten sie umtrieb. Dann war sie Drache und sie hasste sich dafür.

    »Hey, du Faulpelz! Du solltest uns beim Pilzesuchen helfen.« Benjamin, der zweitälteste der vier Geschwister, riss sie aus ihren Gedanken.

    »Ich helfe lieber, Pilze zu essen.« Patrizia wollte sich auf den Rücken fallen lassen, aber Benjamin warf seinen Korb auf die Decke und breitete sich neben ihr aus. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss demonstrativ die Augen. Zwei Sapiruspilze kullerten ins Gras.

    »Du bist dran. Ich habe schon mindestens eine Stunde gesucht.«

    »Du hättest noch eine Stunde länger suchen können. Der Sapirus wächst nicht in südlicher Richtung. Weiß doch jedes Baby.« Patrizia schnappte sich den Korb und stand auf.

    Benjamin tat, als ob er eingeschlafen wäre. Sie griff eine Handvoll Erde vom Waldboden und ließ sie über sein Gesicht rieseln.

    »Hey, lass das!« Bevor er aufspringen konnte, suchte Patrizia das Weite. Im Laufschritt wandte sie sich nach Norden, an der Baumgrenze entlang.

    Der Sapiruspilz wuchs dicht an den Wurzeln der Bäume. Mit seinen schwarzen Hütchen sah er wie Erdklumpen aus und war nur schwer vom Waldboden zu unterscheiden. Aber wenn man die richtigen Stellen kannte, konnte man reiche Beute machen. Und Patrizia kannte sie.

    Der Wald war nach dem Drachentod unter Bernhards Hand gesundet, doch die Naht zwischen Wald und Berg war noch immer eigenartig. Wie abgeschnitten trennte sich der Felsen vom Wald. Zwischen den Randbäumen breiteten sich Brombeerbüsche aus, als wollte der Wald sich mit einer Dornenmauer schützen.

    Patrizia lief, bis sie sich in einem Strauch verfing und ihre Sandalen verlor. Für den Moment war sie froh, dass Benjamin sie jetzt nicht sah, spottete er eh schon genug darüber, dass sie als Einzige in der Familie Schuhe trug. Sie warf einen Blick zurück. Der Picknickplatz war nicht mehr zu sehen, dafür hatte sie die Westseite des Berges beinahe erreicht.

    Zögernd schaute sie sich um. Es war die verbotene Zone, ihr Vater hatte strikt untersagt, über die Ostflanke des Berges hinaus zu laufen. Aber wo sie schon mal hier war? Der Weg führte hinter dem Berg nach Süden, genauso markant wie auf der Ostseite. Der Wald präsentierte sich wildwüchsig, war aber durchaus von Bernhard in Augenschein genommen. Bäume, die zum Fällen anstanden, hatte er mit roten Kreuzen markiert.

    Die gewohnten Zeichen lockten Patrizia, weiterzugehen. Ein paar Schritte konnten nicht schaden. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und warf einen Blick zurück. Von ihrer Familie war niemand in Sicht.

    Die Westseite des Berges erschien abweisend und wild. Doch im oberen Drittel war ein Pfad, der in Serpentinen den Felsen hinaufstieg. Sie folgte ihm mit den Augen und zu ihrer Überraschung endete er über einem Busch, der mitten in der Felswand wuchs. Merkwürdig!

    Dahinter könnte der Gang sein, durch den ihr Vater dem Drachen entkommen war! Patrizia hatte ihre Eltern belauscht, wenn sie darüber gesprochen hatten. Ihr Herz pochte. Der Erzählung nach war er sehr eng, aber Patrizia war zierlich. Ihr rotes Minikleid hinderte sie nicht am Klettern. Und wenn sie Glück hatte, konnte sie einen Blick in die Drachengrotte werfen. Nur einen kurzen, damit sie rechtzeitig zurück war, bevor die anderen sie vermissten. Sie könnte … ja, sie könnte den Schatz sehen. Einen echten Drachenschatz.

    Sie stieß mit einem tiefen Seufzer die Bedenken beiseite, schwang ihren schwarzen Zopf mit einer energischen Kopfbewegung zurück und begann mit dem Aufstieg. Patrizia war eine gute Kletterin. Sie tastete nach Vorsprüngen, zog sich Stück für Stück hoch und erreichte nach einer guten Stunde den Busch. Wie fand man einen Zaubergang? Der Felsen war grau und kantig, nichts gab unter ihrer Berührung nach. Enttäuscht lehnte sie sich zurück und ließ die Sonne auf ihren hellbraunen Pelz scheinen. Wenn der Aufstieg schon umsonst war, dann wollte sie wenigstens einen Moment die Aussicht genießen. Sie ließ den Blick über den Wald schweifen. Die Baumwipfel wiegten ihre Blätter im Wind. Ein frischer Luftzug wehte von unten herauf um ihre Nase. Für den Moment überkam sie die Sehnsucht, Flügel zu haben, abzuheben und über dem rauschenden Meer dahinzusegeln.

    Urplötzlich fiel sie nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf auf den Stein und lag rücklings in einen Gang. Entsetzt fuhr sie hoch. Einen Atemzug lang war sie gezwungen, die Augen zu schließen — bis der Schwindel vorüber war.

    Im Felsen klaffte ein Loch, gerade so groß, dass Patrizia sich durchschlängeln könnte. Ein eisiger Luftzug wehte sie an. Sie zuckte zurück und im selben Moment siegte die Neugier.

    Sie hatte den Zaubergang gefunden!

    Patrizia warf einen Blick auf die Sonne. Eigentlich war sie schon zu lange weg. Aber am anderen Ende des Tunnels lockte der Schatz — vielleicht — und wann hätte sie die nächste Gelegenheit, den Berg zu erkunden? Ihre Eltern würden es niemals erlauben. Pilze suchen war eine gute Ausrede, um lange wegzubleiben.

    Bevor der nächste Zweifel kam, war sie in die Röhre geschlüpft. Einen Moment dachte sie noch, eine Stimme hätte ihren Namen gerufen, hielt inne — und robbte dann vorwärts.

    Ein neuer Eiswind wehte sie an. Patrizias Fell stellte sich auf. Es fühlte sich an, als würde sie den Tunnel vollständig ausfüllen. Er verschluckte sie förmlich. Das Licht folgte ihr nicht. Sie zog sich einmal, zweimal, dreimal vorwärts — und steckte in völliger Dunkelheit. Ihr Atem hallte dumpf gegen die Wände. Für den Moment wähnte sie sich lebendig begraben. Es war doch keine gute Idee gewesen. Sie schwankte einen Moment beim Gedanken an den Schatz, dann versuchte sie, zurückzukriechen.

    Aber ihre Arme gehorchten ihr nicht.

    Als wären sie kein Teil mehr von ihr, bewegten sie sich. Mechanisch robbte sie weiter. Ihre Glieder wurden mit jeder Bewegung steifer, die Kälte drohte, sie einzufrieren.

    Urplötzlich endete der Gang. Noch bevor sie begriff, dass sie ins Leere fasste, stürzte sie nach vorn und schlug mit dem Kopf auf. Eiskalte Finger kamen aus dem Boden und tasteten über ihren Körper. Patrizias Herz schlug wild. Sie japste. Die frostige Luft schmerzte beim Atmen. Angstschweiß auf ihrer Stirn gefror zu Eisperlen und fiel mit leisem Klang auf den Felsen. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber sie schien festgefroren. Die Eisfinger saugten an ihr. Sie wurde in einen Strudel gezogen. Immer tiefer sank ihr Geist hinab. Ihre Kehle wollte schreien. Wie eine Spinne die Beute aussaugte, sog etwas ihren Lebenssaft aus. Schon war sie am Ende des Strudels angelangt und sank in eine erlösende Bewusstlosigkeit.

    Kälte

    Bernhard erstarrte, als Benjamin ihm sagte, in welche Richtung Patrizia gegangen war. »Wieso hat sie nicht gewartet?« Eine düstere Ahnung stieg in ihm auf.

    »Was regst du dich denn so auf? Wir sind doch nicht das erste Mal hier. Sie wird gleich wiederkommen.«

    »Wie lange ist sie fort?«

    »Keine Ahnung. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Ich hab gedöst.«

    »Ich gehe sie suchen.«

    »Was ist denn los?«, rief Benjamin ihm hinterher. »Sapiruspilze sind schwer zu finden. Sie kommt gleich zurück. Wir sollten lieber schon mal Feuer machen.«

    Bernhard hörte es nicht mehr. Er rannte Richtung Norden die Waldgrenze entlang. Es war erst wenige Tage her, dass er an der Westseite Bäume markiert hatte. Keuchend suchte er mit den Augen den Berg ab. Am Busch blieb sein Blick hängen. Die Sonne blendete. Er kniff die Lider zusammen, beschirmte seine Augen mit der Hand — verflucht! Angestrengt starrte er auf den grünen Punkt. Da! Ein roter Fleck. Genau über der Stelle, die er so gut kannte. Und er bewegte sich.

    »Patrizia!«, brüllte er aus Leibeskräften und rannte weiter. »Patrizia!«

    Der Fleck verschwand. Bernhard war noch nie den Berg hinaufgeklettert. Jetzt wünschte er, er hätte es wenigstens mal versucht. Wo war nur dieser verflixte Pfad, der dort hinaufführen sollte? Hektisch suchte er den Felsen ab, bis er endlich eine Linie ausmachte, die sich zum Klettern zu eignen schien.

    Sein Herz klopfte rasant. Alte Bilder bedrängten seine Gedanken, Bilder von seiner Flucht aus der Drachenhöhle. Er zwang sich, sie nicht zu beachten.

    Der Aufstieg dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Keuchend ließ er sich hinter dem Busch nieder. Beinahe dreißig Jahre war es her, dass er hier nach langer Gefangenschaft als freier Bär die Sonne gesehen hatte. Bis die Freiheit auch in seinem Herzen angekommen war, sollte es Jahrzehnte dauern. Erst seine Frau Bernadette mit ihrer sanften, entschlossenen Liebe vermochte die letzten Schatten zu vertreiben. Doch auch sie trug eine Last der Vergangenheit in sich und brauchte seine Stütze. Sie waren Seelenverwandte.

    Und nun saß er hier und der kleine Bär in ihm, der geflohen war, meldete sich zurück. Zögerlich schaute er in den Tunnel. Kälte und Dunkelheit schlugen ihm entgegen. Er schloss die Augen und kämpfte die Erinnerung runter.

    »Patrizia!«, brüllte er in den Gang. Dumpf schluckten die Wände seinen Ruf.

    »Patrizia!«

    Stille.

    Ein letzter Blick auf die Sonne, dann kroch er in den Tunnel. Seine Schultern berührten die Wände. Jetzt war er froh, dass er nicht wie die meisten Bären behäbig, sondern athletisch war. Im Takt seines Herzschlages zog er sich vor, zwang sich durch die Dunkelheit, während die Kälte seinen Atem gefrieren ließ. Der Wunsch, Feuer zu speien, überkam ihn. Er hielt ein paar Atemzüge lang inne, irritiert von dem fremden Gelüst. War er mehr Drache, als er ahnte?

    Ein dumpfes »Bumm« erklang.

    »PATRIZIA!«

    Stille.

    Bernhard kroch. Ehe er sich versah, fiel er in die Tiefe. Direkt auf sie.

    Himmel sei Dank! Aber …

    »Patrizia!« Hastig tastete er über ihren Körper. »Sag doch was.«

    Eiskalt lag sie da. Ihr Atem war nur noch ein Hauch.

    Schon griff die Kälte auch nach ihm. Das Bild der weißen Frau aus seinen Träumen blitzte vor ihm auf. Er sah in ihre Augen. Einen Moment schien sie verwundert zu sein, dann begriff sie, was er vorhatte. Bernhard spürte den Befehl, sich hinzulegen — und wieder den Drang zum Feuerspeien. Er durfte seine Kraft nicht mit der Hexe vergeuden. Dieser Frau war niemand gewachsen. Raus hier! Entschlossen griff er Patrizia unter die Arme, ertastete den Gang und zog sie hinein. Sein Atem schlug sich mit winzigen Kristallen in seinem Gesicht nieder.

    Stück für Stück rückte er Patrizia durch den Gang. Schlaff hing ihr Körper in seinen Armen, gehalten von der Enge des Tunnels. Beinahe wahnsinnig vor Angst erreichte er den Ausgang.

    »Sag was. Aufwachen.« Bernhard klopfte ihr auf die Wange, aber sie rührte sich nicht. Ein Hauch kalter Luft strömte aus ihrem Mund. Bernhard beugte sich zu ihr herab, hauchte ihr seinen warmen Atem ein, bis sie schwach hustete. Erleichtert klopfte er abermals ihre Wange. »Patrizia! Aufwachen!« Sie antwortete nicht. Nur das flache Heben und Senken ihres Brustkorbes zeigte, dass nicht alle Lebensgeister sie verlassen hatten.

    Sie braucht Wärme! Bernhard hob Patrizia über die Schulter und rutschte mit ihr die abschüssige Felswand hinunter. Im Laufschritt trug er sie durch das Unterholz zurück.

    An der Ostseite kam Bernadette ihm entgegen. Erschrocken sah sie ihre leichenblasse Tochter. »Was ist passiert? Was ist mit ihr?« Sie strich ihr über den Kopf. »Meine Güte. Sie ist ja eiskalt.«

    »Sie war im Drachenberg. Ich bringe sie nach Hause. Komm nach, so schnell du kannst.« Bernhard wartete keine Antwort ab. Wie von Sinnen rannte er den Waldweg entlang. Angst krallte sich um sein Herz. Er spürte Patrizias Kälte und die Sorge um sie trieb ihn gnadenlos an.

    Der Anblick der Forsthütte brachte den ersten Hoffnungsschimmer. Er stieß die Tür auf und ging durchs Halbdunkel direkt ins Schlafzimmer. Vorsichtig legte er seine erschlaffte Tochter ins Bett. Aber sie rührte sich nicht.

    Wärme!

    Bernhard deckte sie zu, suchte sämtliche Decken zusammen, die er im Haus hatte, und stapelte sie über ihrem Körper. Er schloss die Fenster und Türen, schürte das Feuer im Kamin, schichtete in einer Metallschale glühende Kohlen auf und stellte sie neben das Bett.

    Schweißperlen rannen ihm von der Stirn, als Bernadette eintraf. Doch Patrizia war kalt und leblos. Lediglich ein leises Zittern war in ihren Gliedern zu spüren. Bernhard gab es Hoffnung. Sie begann, sich gegen die Kälte zu wehren.

    »Du hast Drachenblut. Du schaffst es«, flüsterte er ihr ins Ohr.

    Er hätte jetzt gerne geweint, aber … ach, verdammt.

    Am Abend hatte die Wärme den Eispanzer nicht durchbrochen, obwohl die ganze Familie im Schweiß stand. Die Geschwister begannen, sich abwechselnd zu ihr ins Bett zu legen, um sie mit dem eigenen Körper zu wärmen. Jeder nur kurz, weil weder Patrizias Kälte bäuchlings noch die Hitze rücklings lange zu ertragen waren. Keiner sprach ein Wort. Das hätte Kraft gekostet.

    Bis Mitternacht war Patrizia nicht zu Bewusstsein gekommen. Nur die Liebe einer Mutter konnte sehen, dass sie am Leben war. Aber auch dieser letzte Hauch drohte sie zu verlassen.

    Vergangenheit

    Bernhard saß am Küchentisch und stützte sein Kinn auf. Der Vollmond schien ins Fenster, verbreitete sein trostloses Licht und mit jedem Ticken der Wanduhr rann kostbare Zeit dahin, um Patrizias Leben zu retten.

    Bernhard hatte die Kälte nicht mehr ausgehalten. Er wünschte sich nur eine Verschnaufpause. Sein Blick ging durch das Fenster zum Drachenberg, der wie ein Wächter des Bösen über dem Wald thronte.

    Die mühsam verdrängten Bilder kamen zurück. Aber nicht wie eine Erinnerung. Vor seinen Augen spielte ein Film und er stand mitten

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