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Drachentau
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eBook299 Seiten3 Stunden

Drachentau

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Über dieses E-Book

"Hüte dich davor, einem Drachen in die Augen zu schauen. Er wird dich in seinen Bann ziehen, und du musst ihm folgen, wohin er dich ruft."
Rosa kennt die Warnung ihres Großvaters Jakob und weiß, welche Wunden der Drache in ihrem Bärendorf geschlagen hat. Aber ihre Welt ist in Ordnung und sie will Bodo heiraten, wenn Jakob endlich zustimmt. Doch dann sieht sie den Drachen Tumaros und ist von seiner Schönheit und Stärke fasziniert. Sie schweigt über ihre Gefühle, und als Jakob erkennt, dass der Drache es auf seine Enkelin abgesehen hat, ist es zu spät. Rosa blickt in Tumaros Augen und folgt seinem Ruf in die Drachenhöhle.
Rosa scheint verloren, aber Bodo will nicht aufhören, an ihre Rückkehr zu glauben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Mai 2018
ISBN9783752882438
Drachentau
Autor

Paula Roose

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    Buchvorschau

    Drachentau - Paula Roose

    Inhaltsverzeichnis

    Jakob

    Tumaros

    Wir bleiben!

    Rosas Augenblick

    Jakobs Augenblick

    Sternenlied

    Schätze

    Allein und nicht allein

    Drachentau

    Auch du kannst zaubern

    Neue Wege

    Drachenwunden

    Drachenbären

    Mühlenau

    Hoffnung

    Zauber der Urzeit

    Begegnung

    Steinwurf

    Finsterwald

    Bodo

    Tumaros’ Augenblick

    Lobelie

    Jakob und Emilia

    Dämmerung

    Zu spät

    Neues Kleid

    Neue Heimat

    Forstschule

    Fürstenwald

    Feenzauber

    Drachenberg

    Alte Heimat

    Drachentau

    Epilog

    Jakob

    Der Finsterwald streckte sich bereits mit langen Schatten nach Jakob aus und Rosa war noch immer nicht zu Hause. Er stand von der Holzbank auf, ging ein paar Schritte auf und ab, hielt inne und sah den Mittelweg hinunter. Aber die erlösende Silhouette seiner Enkeltochter erschien nicht. Seufzend setzte der Bär sich wieder hin, schaute auf seine Pfoten, die eigentlich Hände waren, und begann aus Verzweiflung, die Finger zu zählen.

    Mit einhundertfünfzig Jahren war er im besten Bärenalter. Nicht wenig Artgenossen wurden dreihundert. Er war hochgewachsen, hatte schwarzes Fell, und wenn er nicht saß, ging er aufrecht und nach Bärenart behäbig. Um die Hüfte trug er einen Ledergürtel mit Messer, kleiner Säge und Schraubenschlüssel – schließlich gab es immer etwas zu tun. Ein Blick in sein wettergegerbtes, menschliches Gesicht verriet, dass er gerne draußen war.

    Seufzend ließ er von seinen Fingern ab und schaute wieder zum Wald hinüber. Dicht bei dicht wuchsen die Bäume und die Zwischenräume tauchten rasch in Finsternis, gespickt mit Farn und Dornengestrüpp. Eine Mauer mit wenigen Poren zum Atmen. Hob man den Blick über die Wipfel hinaus, sah man ein bizarres Gebirge mit trügerischer Schönheit. Trügerisch, weil der einsame Berg ein Ungeheuer beherbergte: den Drachen Tumaros. Seinetwegen war der Wald so finster. In seiner Nähe gediehen heimtückische Wesen, die sich lieber von hinten anschlichen, als von vorne den Kampf zu wagen.

    Doch sie hatten Jakob nicht gehindert, seine Hütte am Wald zu bauen, gut tausend Schritte vom Dorfrand entfernt, hielten sie doch ungebetene Gäste, unnötige Gespräche und neugierige Blicke fern. Und er wusste, dass nicht alle Wesen im Finsterwald von übler Gesinnung waren. Eschagunde, königliche Waldfee, hielt dem Drachen stand und war seine ärgste Feindin.

    Der Mittelweg war hier nur noch ein Trampelpfad. Er trennte Jakobs Hütte von wuchernden Brombeerbüschen, die mit einem weißen Blütenmeer eine reiche Ernte versprachen. Kurz bevor er im Wald verschwand, ging er wie ein Wendehammer auseinander. Wer trotz aller Schrecken in den Wald gehen musste, um Holz und vielleicht ein paar Pilze zu sammeln, konnte hier noch einmal tief durchatmen. Zwischen den Bäumen, so glaubten alle, war die Luft dicker. Doch wenn man Glück hatte, fand man auch am Waldrand genug Holz und lief über den Wiesenstreifen bis zum Bach. Dort hatten die Bären einst eine Mühle betrieben. Tumaros hatte sie beim letzten Angriff vor fünfzig Jahren zerstört, das Dorf gebrandschatzt und ausgeraubt. Aus dem wohlhabenden Mühlendorf wurde an diesem Tag das kleine Mühlenau. Es gab keine Familie, die nicht um einen geliebten Bären trauerte. Viele Überlebende verließen es. Etwa einhundert blieben zurück und bauten es wieder auf. Zuletzt war Jakobs Tochter Lena gegangen. Zu sehr von Albträumen geplagt, hatten sie und ihr Mann Boris sich vor zehn Jahren eine neue Heimat gesucht.

    Es war Jakob nicht leichtgefallen, Rosas Bleiben zuzustimmen, lieber hätte er auch seine Enkelin in Sicherheit gewusst. Aber Rosa hatte darum gekämpft. Sie liebte das Dorf ebenso wie ihr Großvater.

    Jakob versuchte eine Weile, dem Summen der Bienen in den Brombeerblüten zu lauschen. Besorgt schaute er zum dunkler werdenden Wald, als sein Blick an einer Bewegung heften blieb. Zwischen zwei Bäumen bemerkte er ein Flimmern, wie man es sah, wenn sich Luft über dem Boden erhitzte.

    Er beugte sich vor. »Das ist doch… ja, wenn das nicht…natürlich …«

    Das Flimmern wurde dichter. Es zeichneten sich Konturen ab. Der zierliche Körper einer Frau in grünem, duftigem Blättergewand wurde sichtbar.

    »Eschagunde!«

    Mit leichten Schritten kam die Waldfee auf Jakob zu. »Hallo, du alter Griesgrambär!« Eine Aura aus Sternenstaub umgab sie. Sie trug eine Krone aus Eschenblättern. Ihr schmal geschnittenes Gesicht, hohe Wangenknochen und der volle Mund drückten Entschlossenheit aus. Ihr braunes Haar war im Nacken zu einem Zopf geflochten. Um die Taille trug sie einen braunen Gürtel, in dessen Seite ein Ast steckte, an der Spitze von einem goldenen Eschenblatt geziert.

    »Was machen die Geschäfte am Rande meines Waldes?«

    »Seit wann braucht die Königin des Waldes Auskunft? Wer weiß besser, wie die Geschäfte laufen, als du?«

    »Seit kluge Wesen in dieser Welt die Höflichkeit erfunden haben.« Eschagunde ließ sich neben Jakob auf der Bank nieder. »Aber Spaß beiseite. Gibt es etwas Neues aus Mühlenau?«

    »Wie immer kommst du gleich zur Sache. Nein, mir ist nichts zu Ohren gekommen. Warum fragst du? Ist etwas passiert?«

    »Bis jetzt nicht. Genaues kann ich noch nicht sagen.«

    »Muss ich mir Sorgen machen? Es ist doch nicht etwa … der Drache?«

    Eschagunde seufzte. »Seit ein paar Tagen vernehme ich Unruhe aus seiner Höhle. Ich habe versucht, ihn mit einem Zauber wieder in Tiefschlaf zu legen. Aber es wirkt nicht so, wie ich es gehofft habe.«

    »Steht ein Angriff bevor?«

    »Ich denke nicht, selbst wenn er aufwacht. Drachen sind an keine Zeit gebunden. Er kann Jahre wach sein, ohne herauszukommen.«

    »Aber du machst dir Sorgen?«

    »Ich habe keine Zeit, ihn im Auge zu behalten und euch zur Seite zu stehen. Ich werde auf dem Waldfeenrat erwartet. Deswegen meine Bitte: sei wachsam, ich bin, so schnell es geht, wieder zurück.«

    »Ich weiß zwar nicht, was ein alter Bär gegen einen Drachen ausrichten soll, aber ich werde wachsam sein. Soll ich die Glocke läuten?«

    Eschagunde schüttelte den Kopf. »Du würdest nur Panik verbreiten. Und noch schläft er.«

    Sie erhob sich und drückte Jakobs Hand. »Ich hoffe, ich komme bald zurück.«

    Er wollte etwas sagen, doch Eschagunde war verschwunden, genauso schnell, wie sie gekommen war.

    Jakob seufzte. Bilder des letzten Angriffs drängten sich auf. Dort drüben hatte der Drache gestanden ‒ vorm Wald. Walburga, seine Frau, war aus der brennenden Hütte geflohen… lief direkt auf ihn zu… Jakob folgte ihr, sah, wie der Drache sie schnappte und… Er hielt sich die Ohren zu. »JAKOB!« Das Geräusch, als ihre Knochen zwischen den Drachenzähnen zerbarsten – es war in seinem Kopf, hatte sich wie ein langer, spitzer Dolch in sein Herz gebohrt. Und dann hatte Tumaros ihm die Knochen vor die Füße gespuckt.

    Verdammtes Scheusal! Jakob ballte eine Faust und hob sie dem Drachenberg entgegen.

    »Wo bist du mit deinen Gedanken, dass du es nicht bemerkst, wenn du nicht mehr allein bist?«

    Rosa! Über den Schrecken hatte er sie beinahe vergessen. »Na endlich! Die Sonne geht schon unter. Wo warst du so lange?«

    Rosa zuckte mit den Schultern, setzte sich auf die Bank und sog die würzige Luft tief ein. Sie hatte ebenso glänzendes Fell wie Jakob. Ihre Gestalt war anmutig, schlank, ihre Bewegungen geschmeidig. Am Kopf jedoch wuchsen kein Fell, sondern lange, schwarze Haare. Um die Hüfte trug sie eine ihrer selbst genähten Schürzen in leuchtendem Lila. Darunter versteckte sich ein ornamentverzierter Ledergürtel, in dem ein Schnitzmesser steckte.

    »Hier und da«, antwortete sie ihm. »Du weißt doch, wie Bären sind. Immer neugierig, immer auf ein Schwätzchen aus.«

    Jakob legte seinen Arm um sie. »Und meine liebenswürdige Enkelin lässt lieber ihren Großvater warten, als unhöflich zu sein.«

    »Ja, du kannst einem leidtun, du armer alter Bär.«

    Rosa lachte ihr helles Lachen, das Jakob so gerne hörte, und alles Warten war vergessen. Sie erhoben sich und schlenderten durch die Gartenpforte hindurch zur Hütte.

    Vor der Tür drehte Jakob sich noch einmal um. »Ich bringe rasch die Hühner zu Bett«, sagte er über die Schulter und verschwand.

    Rosa ging hinein, stellte ihren Korb auf den Küchentisch und zündete die Öllampe an. Sie tauschte die Schürze gegen eine beige aus Leinen und wusch sich sorgfältig, jeden Finger einzeln bedenkend, die Hände. Dann löste sie ihren Flechtzopf und bürstete ausgiebig ihr Haar, bevor sie es im Nacken zu einem Knoten zusammenband. Ihre großen Augen und die hohen Wangenknochen verliehen ihr ein kindliches Aussehen, das immer mehr fraulichen Zügen wich. Ihre dunkle Nase zierte ihr Gesicht und wirkte wie von der Hand eines Künstlers hineingemalt.

    Die Flamme im Herd war bedrohlich klein geworden. Rasch legte Rosa ein paar Holzscheite nach, schürte das Feuer und beobachtete, wie die größer werdende Flamme sie prasselnd verzehrte. Wärme breitete sich aus. Rosa schloss die Ofentür, setzte den Wasserkessel auf den Herd und packte den Korb aus. Hähnchenbrüste und Eier hatte sie bei Hühner-Emma erworben. Rosa legte die Eier zu ihren eigenen in den Vorratsschrank und nahm Möhren und Kartoffeln heraus. Mit tänzerischem Schritt bewegte sie sich zwischen Küchentisch und Herd hin und her, putzte summend Gemüse, heizte die Pfanne an, briet Hähnchenbrüste und schnippelte die Möhren in feine Stifte. Ein köstlicher Duft erfüllte den Raum und ließ ihren Magen knurren. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen. Rasch schüttete sie das Gemüse zum Fleisch, räumte die Küche auf und deckte den Tisch.

    Wo Jakob wohl blieb?

    Kaum gedacht ging auch schon die Tür auf und ihr Großvater kam herein.

    »Wo hast du gesteckt? Man könnte meinen, du hättest den Hühnern beim Brüten geholfen.«

    »Könnte man meinen.« Jakob wusch sich die Hände und setzte sich an den Tisch. »Wenn unsere Lilly nicht wieder ausgebüxt wäre.«

    Die Hütte war klein und gemütlich. Als die Bären das Dorf wieder aufgebaut hatten, wurden der Einfachheit halber alle Hütten in der gleichen Art errichtet. Eine große Wohnküche mit Herd zur Rechten und Kamin zur Linken, dahinter zwei Schlafstuben. Vor dem Kamin standen bei Jakob zwei Ohrensessel und in der Ecke ein Sofa. Am Fenster befand sich ein Beistelltisch mit Schachfiguren.

    Großvater und Enkelin ließen es sich schmecken und plauderten über den vergangenen Tag. Jakob versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

    »Wie geht es denn unserer alten Hühner-Emma? Redet sie noch immer so viel?« Jakob verzog das Gesicht, aber er meinte es nicht böse. Emma war nie über den Verlust ihres Mannes und der beiden Söhne hinweggekommen. Sie redete oft viel und unnützes Zeug. Aber niemand im Dorf mied sie deswegen. Sie war einmal eine tüchtige Bärin gewesen, doch von allen glich sie am wenigsten den Menschen.

    »Du sollst sie nicht Hühner-Emma nennen. Sie ist eine arme, einsame Bärin.«

    Rosa drohte ihm mit dem Zeigefinger.

    »Der Name passt doch zu ihr. Wenn sie so schnell redet, gackert sie wie ein Huhn.« Jakob ahmte mit den Armen fuchtelnd ein Huhn nach.

    Rosa lachte. »Wenn sie so schrecklich ist, warum kaufen wir dann Eier bei ihr, obwohl du eigene Hühner hast?«

    Jakob wurde ernst. »Du weißt, warum.«

    »Ja, ich weiß es, Großvater. Sie tut dir leid, weil der Drache ihr alles genommen hat, was ihr lieb und teuer war. Mir geht es genauso. Es ist anstrengend, ihr zuzuhören, aber ich tue es trotzdem, denn irgendwie hab ich sie gern. Und das mag ich an dir. Du würdest nie freiwillig mit ihr reden, aber ihre Eier, die kaufst du.«

    Jakob lächelte und beide schwiegen eine Weile.

    »Gibt es etwas Neues aus dem Dorf?«

    Rosa zuckte mit den Schultern. »Sicher nichts, was dich interessiert. Ein neuer Zaun bei Edmund, der Mittelweg muss instand gesetzt werden und sie suchen wieder Bären, die die Schulkinder unterrichten.«

    »Das ist alles?«

    »Meinst du was Bestimmtes?«

    »Nein, nein. Spielen wir heute Abend Schach?« Jakob konnte etwas Ablenkung gebrauchen, er würde sowieso die ganze Nacht grübeln.

    »Heute Abend? Ach, es ist doch etwas. Bodo wollte mit dir sprechen.«

    Sie konnte sich denken, worum es ging. Seit Längerem bat er um Rosas Hand, aber Jakob hatte nicht zugestimmt, weil er seine Enkelin noch zu jung fand. Mit fünfundzwanzig war sie beinahe im heiratsfähigen Alter. Aber, wie Jakob fand, eben nur beinahe.

    Er hatte keine Lust, mit Bodo zu reden, wenn er ihn auch sehr mochte und für einen tüchtigen Bären hielt. »Würdest du ihm sagen, dass es heute nicht passt? Mir ist nicht nach Besuch.«

    »Dir ist so gut wie nie nach Besuch.« Rosa freute sich auf die Aussicht, ein wenig mit Bodo zu schwatzen. »Nur unter einer Bedingung. Die Küche räumst du heute auf.«

    Jakob lachte. »Abgemacht!«, sagte er.

    »Und danach spielen wir unsere Schachpartie.«

    »Abgemacht!«

    Tumaros

    Nachtschwarz ragte der einsame Berg aus dem Finsterwald heraus. Die Stille war klirrend starr. In der Nähe dieses Berges fiel das Atmen schwer. Drachen hatten feine Sinne, nichts entging ihnen. Nur in besonderen Nächten war es Eschagunde möglich, sich mit starkem Gegenzauber zu nähern. Aber es war riskant und band für mehrere Tage ihre Kräfte.

    Da lag er in seiner Drachenhöhle, dunkelgrün gepanzert, jede Schuppe mit einem Edelstein besetzt, umgeben vom funkelnden Schimmer seiner Zauberkräfte, eingerollt in einer behaglichen Haltung, seinen Kopf auf die Schwanzspitze gebettet, inmitten von Goldmünzen, Silbergefäßen, Edelsteinen, Schwertern und Schilden ‒ und schlief. Zufrieden schnaufte sein Atem mit einem wohlig kehligen Geräusch.

    Aber Drachen waren nur mit einer Hälfte ihrer Sinne im Land der Träume. Die andere Hälfte war wach. Nichts entging ihm, was um ihn herum geschah, weder in der Nähe des Berges noch in der Ferne im Mühlendorf. Er genoss seine Macht und die Furcht, mit der die Bären an ihn dachten. Drachen waren immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht, durch und durch verschlagen. Sie taten niemals etwas in Eile, heckten in ihrer finsteren Höhle Pläne aus und konnten Jahre, sogar Jahrhunderte warten, bis sie ihre Vorhaben ausführten, stets darauf aus, große Beute zu machen. Tumaros’ Schatz war unermesslich, angesammelt in 500 Jahren Raubzug. Für ihn aber war er armselig. Er träumte davon, einen Schatz zu finden, mit dem er die ganze Drachenhöhle füllen könnte. Etwas Besonderes sollte es sein, das ihm für alle Zeit den Respekt der anderen Drachen bringen würde. Er war es leid, Bärendörfer zu überfallen, deren Ausbeute kaum den Aufwand lohnte. Es war lediglich ein Zeitvertreib.

    In dieser windstillen Nacht, in der ein Wolkenband den Mond verdeckte und nicht einmal ein blasser Lichtstrahl die Dunkelheit durchbrach, geschah das, was Eschagunde befürchtet hatte: Tumaros erwachte. Zunächst wurde nur sein Atem schneller, dann blinzelte er. Noch immer rührte er sich nicht, blickte nur durch einen Schlitz seiner Lider still umher und folgte seinen Gedanken. Der letzte Traum war noch präsent, in dem er den Schatz eines Zwergenkönigs erbeutet hatte.

    Mit einem langen Gähnen riss er sich von den Bildern los und öffnete die Augen. Klarer als der reinste Saphir waren sie seine gefährlichste Waffe. Blickten andere Wesen in seine Augen, wurde Tumaros’ Zauberkraft wirksam. Er konnte sie in seinen Bann ziehen. Sie mussten ihm dann folgen, wohin er sie rief, und waren für immer verloren.

    Ein feiner Luftzug strömte von draußen herein. Tumaros erhob sich und tapste zum Ausgang. Dann wollen wir mal sehen, wie es meinem Mühlendorf so geht. Er grinste hämisch. Nach seinem letzten Besuch war es reichlich verkohlt gewesen. Er stieß sich vom Felsen ab und schwang sich in die Luft. Lautlos schwebte das Ungeheuer mit ausgestreckten Flügeln durch die Nacht. Jeder seiner Schläge brachte einen heftigen Windstoß hervor.

    Die meisten Bewohner von Mühlenau lagen in ihren Betten und schliefen. Nur vereinzelt sah man Kerzenschein aus den Fenstern flackern. Tumaros musterte das Dorf. Die Hütten waren klein. Reichtümer schienen sie nicht zu bergen. Er spürte den regelmäßigen Herzschlag der schlafenden Bären. Angst hatten sie auch nicht. Er kniff die Augen zusammen. Sie haben mein Holz gestohlen für ihre armseligen Hütten. Ich werde sie lehren, wie man Drachen fürchtet. Er flog eine Schneise und glitt über den Mittelweg hinweg. Aber nicht heute Nacht. Sollten sie ruhig noch eine Weile zittern, bevor er sie heimsuchte.

    In Jakobs Hütte saßen Enkelin und Großvater bei Kerzenschein über dem Schachbrett zusammen. Rosa setzte ihren Turm und brachte den nur schwer zu schlagenden Jakob in eine ausweglose Lage.

    »Schach!«

    Sein Blick musterte jede seiner Figuren. Seufzend nahm er den König und legte ihn hin. »Matt.«

    »Du bist nicht bei der Sache, Großvater.« Stirnrunzelnd blickte Rosa ihn an. »Willst du mir nicht sagen, was dir durch den Kopf geht?«

    »Nichts, was eine junge Bärin wie dich kümmern sollte«, antwortete er und erhob sich. »Zeit, schlafen zu gehen.«

    »Wie du meinst. Ich schaue noch mal, ob das Tor zu ist, damit sich die Hasen nicht an unserem Salat gütlich tun.«

    Rosa sprang auf und war schon an der Tür, als Jakob ihr noch »Das kann ich doch machen« hinterherrief.

    Zu spät.

    Das Tor stand offen. Rosa wollte es schließen, als ein unbekanntes Geräusch, ähnlich einem leisen Donner, aber irgendwie heller, ihre Aufmerksamkeit anzog. Sie schaute den Mittelweg hinunter. Ein Windstoß wirbelte ihre Haare auf. Im selben Moment gab das Wolkenband den Mond frei und die Nacht hellte auf.

    Und dann sah sie ihn! Mit unvorstellbarer Größe flog das Ungeheuer auf sie zu. Seine Spannweite überragte alles, was sie bisher gesehen hatte. Er hätte ihr gesamtes Anwesen unter seiner Körpermasse begraben können. Und doch flog er majestätisch, jede Bewegung beherrschend, fast anmutig auf sie zu. Die Panzerjuwelen funkelten im Mondlicht mit atemberaubendem Glanz.

    Rosa stand gebannt und für einen Augenblick hörte die Welt auf, sich zu drehen.

    Und Tumaros sah Rosa! Ihre grazile, zerbrechliche Gestalt, ihr glänzendes tiefschwarzes Fell, ihre ebenmäßigen, vollendeten Gesichtszüge, ihre großen dunkelbraunen Augen. Sie ist es, durchschoss es ihn. Sie ist der Schatz, der mir fehlt.

    Ihre Blicke suchten sich, zogen sich an, wollten sich berühren– dann wurde Rosa hart am Arm gepackt und ins Haus gezerrt.

    Die Tür knallte zu. Jakob lehnte sich keuchend dagegen. Sein Herz schlug wild. Tumaros war aufgewacht!

    Rosas Puls raste ebenso. Sie war tief erschrocken und zugleich… »Ich habe ihn gesehen! Ich habe den Drachen gesehen! Er ist groß. Er ist gewaltig. Er ist… schön.«

    »Er ist ein Ungeheuer! Das Grausamste, das du dir vorstellen kannst. Nein, tausendmal grausamer, als du zu denken in der Lage bist.« Er ging auf Rosa zu, packte sie beim Arm und blickte ihr fest in die Augen. »Hüte dich davor, einem Drachen in die Augen zu blicken. Hörst du! Wenn du das tust, bist du verloren. Du kommst nie wieder von ihm los. Du gehörst ihm und niemand kann dir helfen.«

    Rosa schwieg und blickte auf den Boden. Aber ihr Herz raste noch immer. Sie hatte den Drachen gesehen. Er war schön, unglaublich schön. Ich muss ihn noch einmal sehen, dachte sie und blickte zum Fenster. Nur noch einmal.

    Jakob setzte sich an den Küchentisch und stützte die Hände auf. Was sollte er tun? Alarm schlagen? Er spürte Furcht vor dem Glockenschlag, vor der Panik in den Augen der anderen. Warum hatte der Drache nicht angegriffen? Es war besser, er wartete auf Eschagunde, bevor er alle informierte. Doch wie sollte er dieses Wissen für sich behalten? Er musste das Dorf zusammenrufen und sich mit den anderen beraten! Gleich morgen früh.

    »Lass uns schlafen gehen, Rosa, heute können wir nichts mehr tun.« Er verschwand in seine Schlafstube.

    Rosa war es recht, dass er schwieg. Tumaros! Er ist gewaltig. Schrecklich. Schön.

    Tumaros flog auf den Drachenberg zu, segelte um ihn herum und landete im Höhleneingang. Er blickte zurück

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