Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Athanor 4: Die letzte Schlacht
Athanor 4: Die letzte Schlacht
Athanor 4: Die letzte Schlacht
eBook1.004 Seiten14 Stunden

Athanor 4: Die letzte Schlacht

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach der Zerstörung des Ewigen Lichts versuchen Athanor und seine Freunde verzweifelt, die Welt vor der Herrschaft des Dunklen zu retten. Ein Bündnis mit den Chimären weckt neue Hoffnung, doch während Athanor nach dem Tor des Totenreichs sucht, sammeln sich gewaltige Gegner, um die Lebenden in einer letzten großen Schlacht zu vernichten. Können die vereinten Völker ihren Untergang noch abwenden? Oder wird Ardaia für immer von Finsternis verschlungen werden?
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum15. März 2021
ISBN9783864027741
Athanor 4: Die letzte Schlacht

Mehr von David Falk lesen

Ähnlich wie Athanor 4

Titel in dieser Serie (4)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Athanor 4

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Athanor 4 - David Falk

    Prolog

    Nordkyperien, drei Jahre vor Theroias Untergang

    »Dort ist es, Herr.«

    Davaron blickte in die Richtung, die ihm der Menschenmann wies. Es war ein grober, kräftiger Kerl, ein Hirte, in Schaffell gekleidet und mit nichts als Stab und Messer bewaffnet. Eine Kapuze aus Wolfspelz bewies, dass er nicht mehr brauchte, um gefährliche Bestien zu erschlagen, und doch hörte Davaron Furcht in der rauen Stimme. Vor ihnen führte der Weg in eine tief eingeschnittene Schlucht, deren Ende hinter Windungen verborgen lag. Nur wenn die Sonne am höchsten stand, drangen ihre Strahlen bis zum Talgrund vor. Jetzt lag er im Schatten, und feuchte Kälte wehte Davaron entgegen. Kharnam. Der Ort, von dem alle nur flüsterten. Selbst die hartgesottenen Hexer der Barbaren.

    Verächtlich verzog Davaron den Mund. Ein kalter Hauch, und schon zitterten die Menschen, als hätte das Nichts sie berührt. »Du hast den Tempel also noch nie mit eigenen Augen gesehen?«

    Grimmig schüttelte der Mann den Kopf. »Es ist ein verfluchter Ort, Herr. Wer sich ihm nähert, kehrt nicht zurück.«

    »Da habe ich anderes gehört.« Hinter vorgehaltener Hand wisperten sie es von Hexe zu Hexer, von Schamane zu Schamanin: In Antakores Tempel wurde die schwärzeste aller Künste gelehrt.

    »Ich lüge nicht!« Empört richtete sich der Hirte auf. »Als ich ein Junge war, ging einer meiner Freunde hinein.« Sein Blick wanderte in die Schlucht, als hielte er noch immer Ausschau. »Er kam niemals zurück.«

    »Dann stimmt es also nicht, dass ihr der Tochter des Dunklen Opfer darbringt?«

    Im Gesicht des Kerls zuckte es, bevor er zu seiner grimmigen Miene zurückfand. »Es ist nichts Unrechtes daran, die Götter gnädig zu stimmen.«

    Davaron lächelte spöttisch. »Nein.« Es ist bloß dumm. Wie konnten die Menschen glauben, dass sich die Götter durch die lächerlichen Gaben niederer Wesen bestechen ließen? Welch leichtes Spiel doch die Priester mit ihrem Mummenschanz hatten. Seit Jahren bereiste er nun die Menschenlande auf der Suche nach jener finsteren Magie, die in den Elfenlanden verboten war, doch die meisten Zauberer hatten sich als Scharlatane erwiesen. Allmählich war er es leid, falschen Fährten zu folgen und mit einfältigen Kerlen wie diesem zu reden. Sollte der Feigling ruhig umkehren, wenn er die Hosen voll hatte. Davaron fischte eine Silbermünze aus dem Beutel an seinem Gürtel und warf sie dem Hirten zu. »Für deine Mühen.« Dass der Mann sie geschickt auffing, sah er nur noch aus dem Augenwinkel. »Warte nicht auf mich«, riet er und trat in die Schatten der hohen Felswände.

    Hinter ihm murmelte der Hirte noch etwas, doch Davaron schenkte ihm keine Beachtung mehr. Der Boden der Schlucht war mit Schutt und Geröll bedeckt, durch die ein schmales Rinnsal floss. Jetzt im Sommer rieselte es mal über die Steine, mal verschwand es darunter, aber Auswaschungen im Fels zeugten von den Wassermassen, die zur Schneeschmelze durch die Klamm tosten. Nur wenige Sträucher vermochten ihnen zu widerstehen, und sie alle behielten zerfetzte Zweige zurück, an denen noch getrocknetes Treibgut hing. Der Tempel musste dann unerreichbar sein. Existierte er überhaupt noch, oder hatten ihn die Fluten längst fortgerissen?

    Unwillkürlich beschleunigte Davaron seine Schritte, als ob er sich beeilen müsste, um die düstere Pilgerstätte noch vorzufinden. Der Legende nach hatte sich hier einst die Tochter des Dunklen verborgen – bevor ihr Vater sie ins Schattenreich entführte. Dass er sie dazu erst einmal töten musste, hatte ihn nicht aufgehalten. Der Gedanke ließ Davaron schaudern. Niemals hätte er der kleinen Mevetha etwas antun können. Sie war ihm das Kostbarste auf der Welt gewesen. Und die verfluchten Chimären hatten sie ihm genommen.

    Mit einer Hand am Schwertgriff spähte er die steilen Wände empor. In seiner Heimat kreisten Harpyien über so schroffen, abgelegenen Schluchten. Schon bei der Erinnerung an ihre Schreie umschloss er die Waffe fester. Noch immer sah er vor sich, wie sie Eretheya und Mevetha in die Tiefe gestürzt hatten. Der Anblick hatte sich so tief in sein Gedächtnis eingegraben, dass die Bilder schärfer und eindringlicher waren als alles, was in der Gegenwart geschah. Zwei der Mörderinnen hatte er aufgespürt und mit Blut für ihre Taten bezahlen lassen. Eines Tages würde er sich auch an den anderen rächen, doch seit er gesehen hatte, wie Eretheyas Schönheit im Tod verwelkte, widmete er sich ganz der Suche nach einem Gegenmittel, einem Zauber, der ihr neues Leben schenken und ihm Frau und Kind zurückgeben würde.

    Nur ein Geier zog am Himmel über der Schlucht seine Kreise. Seit Eretheyas Tod verabscheute Davaron sämtliche Aasfresser, aber immerhin war der Vogel nicht gefährlich. Bei Antakores Priesterinnen war er sich nicht so sicher. Dennoch musste er sie sprechen. Er würde sie sogar anbetteln oder bedrohen – alles, was nötig war, um ihnen ihre Geheimnisse zu entreißen. Zu lange schon zog er vergeblich umher. Dieser Tempel war seine letzte Hoffnung. Dass er auch hier nicht finden könnte, was er suchte … Er wagte es nicht einmal zu denken.

    Beinahe unmerklich wichen die Wände zurück. Eben noch war die Klamm so eng gewesen, als hätte Davaron nur die Arme ausstrecken müssen, um zu beiden Seiten den Fels zu berühren, doch allmählich wurde sie breiter. Auch wenn der Talgrund noch immer im Schatten lag, reichte das Sonnenlicht tiefer hinab als zuvor. Wo im Frühjahr das Schmelzwasser von den Hängen herabschoss, türmte sich loses Gestein. Eher beiläufig ließ Davaron den Blick über Schutthaufen und Felswände schweifen, bis er eine glänzende Stelle bemerkte. Zwischen Farn und Flechten lugte glattes, dunkleres Gestein hervor. Irgendetwas war seltsam daran. Davaron blieb stehen und betrachtete die Felswand genauer. Wo Schmelzwasser und Frost dem Gestein weniger zugesetzt hatten, zeichneten sich flache Figuren ab. Ihre Umrisse verschwammen im Gewirr von gesprungenem, bröckelnden Fels und verschiedensten Flechten, doch Davaron konnte Beine, Körper und Köpfe erkennen. Ich bin auf der richtigen Spur.

    Rasch ging er weiter. Hoffnung, aber auch Angst trieben ihn voran. Waren verwitterte Skulpturen alles, was von Kharnam geblieben war? Es konnte, es durfte nicht sein.

    Langsam wurde die Schlucht noch breiter. Während sich die linke Wand und der Bach parallel zueinander krümmten, wich die rechte immer weiter zurück und beschrieb einen deutlich größeren Bogen. Der Boden stieg auf dieser Seite in mehreren Stufen an, und jede der Terrassen war mit Reliefen aus poliertem Gestein gesäumt, das sich dunkel vom umgebenden Fels abhob. Davarons Herz schlug schneller. Auf der höchsten Stufe zeichnete sich ein von Statuen flankiertes Portal ab. Er hatte den Tempel Antakores gefunden. Am liebsten wäre er hinaufgestürmt, um die Priesterinnen mit seinem Anliegen zu überfallen, sie bei den Gewändern zu packen und zu schütteln, bis sie seine drängenden Fragen beantworteten. Stattdessen straffte er die Schultern und stieg gemessenen Schritts die Terrassen hinauf. Er musste vorsichtig sein. Gegen Magie würde ihm die schwarze Rüstung, die er unter seinem grauen Umhang trug, nichts nützen. Er versuchte, fremde Zauberei zu erspüren, doch die mannshohen Figuren der Reliefe lenkten ihn ab. Im Vorübergehen sah es aus, als ob sie sich bewegten. In wildem Morden und Schlachten fielen grauenhafte Wesen über wehrlose Gestalten her, die ebenso gut Menschen wie Elfen darstellen konnten. Davaron wagte nicht, genauer hinzusehen, denn dazu hätte er den Blick zu lange vom Eingang abwenden müssen. Er erhaschte nur flüchtige Bilder – von zweiköpfigen Hunden, die an den Gliedmaßen niedergestreckter Opfer zerrten. Von Skorpionschwänzen, die in die Leiber stachen. Von Köpfen, aus denen sich Schlangen wanden.

    Was hat das zu bedeuten? Noch nie hatte er von solchen Wesen gehört. Waren es Imerons geheimste Chimären, von denen Menschen und Elfen nichts ahnten? Hatten ihn die Harpyien in eine Falle, in einen Tempel ihres Schöpfers gelockt? Rasch sah er zum Himmel auf, während die Hand zum Schwert fuhr. Nichts. Nur graue Wolken, die sich langsam vor die Sonne schoben.

    Wachsam näherte er sich dem Portal. Wo einst nur eine Spalte geklafft haben mochte, öffnete sich nun ein breites Tor. Geschickte Steinmetze – oder waren es Elfenmagier gewesen? – hatten es so kunstvoll aus dem Fels gehauen, dass es von Weitem wirkte, als besäße es ein von Säulen getragenes Dach. Steinerne Schlangen ringelten sich vermeintlich um die Säulen, so sorgsam poliert, dass jede einzelne Schuppe glänzte. Davaron musterte die beiden Statuen, die wie Wächter zu beiden Seiten des Eingangs aufragten. Doch es waren keine Krieger, sondern Frauen in langen Gewändern, Priesterinnen, die eine Hand zum Gebet oder zum Segen oder vielleicht doch zum Schlag erhoben. Um ihren Blicken zu begegnen, musste er den Kopf ein wenig in den Nacken legen. Sofort spürte er, wie sehr er damit seine Kehle entblößte. Nie zuvor war er auf einen solchen Gedanken gekommen, doch hier kam es ihm vor, als streife plötzlich ein kühler Hauch seine verwundbarste Stelle. Alarmiert pulsierte die Ader unter der dünnen Haut. Hastig senkte er das Kinn und ärgerte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Seit wann ließ er sich von ein paar leblosen Figuren ins Bockshorn jagen?

    Das Seltsamste war jedoch ein düsterer Strauch, der als einzige Pflanze dem harten, trockenen Boden trotzte. An einer scheinbar wahllosen Stelle wuchs er nur wenige Schritte vom Tor entfernt. Die dornigen Ranken waren so dick und knorrig, dass sie Jahrhunderte alt sein mussten, und doch besaß der Strauch noch Blätter und eine einzelne schwarze Blüte. Eine schwarze Rose. Erwachsen aus Antakores vergossenem Blut. So hatte es ihm ein Schwarzmagier in Ithara erzählt, aber der Mann war nie in Kharnam gewesen. Weshalb hätte er ihm glauben sollen? Alles erweist sich als wahr. Durfte er hoffen, endlich am Ziel seiner Suche zu sein?

    Entschlossen wandte er sich den drei Stufen zu, die von der Torschwelle in die Höhle emporführten. Da sie im Schatten lagen, vermochte er nicht zu sehen, was ihn im Innern erwartete. Der Vorplatz des Tempels mochte still und leer sein, doch die Stätte wirkte nicht verlassen. Irgendjemand fegte die Terrassen und hielt Reliefe und Statuen sauber, sonst hätten sich auch hier längst Moose und Flechten ausgebreitet. Langsam, um seinen Augen Zeit zu geben, sich an das Zwielicht zu gewöhnen, stieg Davaron die Stufen hinauf. Dahinter erwartete ihn ein Gang, an dessen Ende er bereits eine größere Kammer erahnen konnte. Zu beiden Seiten setzten sich die in den Stein gemeißelten Schlachtszenen fort, und sie zeigten dieselben Kreaturen, die sich an wehrlosen Opfern vergingen. Davaron beließ die Hand an der Waffe und beschwor sein bisschen Magie herauf. Verglichen mit Eretheya beherrschte er das Feuer nur lausig. Von seinem brachliegenden Talent für Erdmagie ganz zu schweigen. Es zu fördern, hätte allen nur unter die Nase gerieben, dass er ein widernatürlicher Bastard war.

    Aus der Nähe entpuppte sich die Kammer als schwach erleuchteter Saal. Säulen aus schwarzem Marmor schimmerten im Schein einiger Öllampen, die in kleinen Wandnischen standen. Davaron glaubte, Blut zu riechen, und sah sich hastig um, doch vielleicht war es nur heißes Metall, denn mit glimmender Kohle gefüllte Becken spendeten Wärme und unstetes Licht. Zwischen ihnen standen Karaffen, Becher und große, mit Tüchern abgedeckte Körbe. Umherliegende Kissen wirkten, als hätte eben noch jemand auf ihnen gesessen, aber wo waren die Priesterinnen jetzt? Waren sie etwa vor ihm geflohen? Hinter Vorhängen schienen sich mehrere Ausgänge zu verbergen.

    Misstrauisch schritt Davaron auf zwei große Statuen am anderen Ende der Halle zu. Die hintere stellte einen gewaltigen schwarzen Stier dar, der aussah, als wendete er sich gerade dem Besucher zu und richtete mit dem grimmigen Blick auch die tödlichen Hörner auf ihn. Fast wie ein halbkreisförmiger Wall umgab sein Rumpf die vordere Figur, die majestätisch über Davaron hinwegblickte. Von Weitem hielt er sie für einen Elfenkrieger, denn sie trug eine Rüstung und hielt einen Speer in der Hand. Doch als er sich näherte, bemerkte er weibliche Rundungen. In respektvollem Abstand blieb er stehen und sah zu den schönen, aber strengen Zügen der Kriegerin auf. Ein Helm verbarg ihre Ohren und das aufgesteckte Haar, und dennoch hatte er keinen Zweifel daran, eine Elfe vor sich zu haben.

    »Knie nieder vor Antakore, Herrin über die Heere des Schattenreichs!« Die Stimme hallte so laut, dass sie von allen Seiten zugleich zu kommen schien.

    Überrascht zuckte Davaron zusammen und fuhr herum, doch noch immer war niemand zu sehen. »Ich bin ein Elf«, erwiderte er und nahm die Kapuze ab, die zwar nicht sein Gesicht, aber seine Ohren verdeckt hatte. »Wir werfen uns nicht vor Göttern in den Staub.« Es mochte nicht die klügste Antwort sein, aber er würde nicht ausgerechnet vor der Tochter des Dunklen mit menschlicher Kriecherei anfangen.

    Er spürte die Magie einen Lidschlag, bevor der Flammenkreis aufloderte. Zu spät, um das Feuer im Keim zu ersticken. Vielleicht hätte er es ohnehin nicht vermocht. Es war magisches Feuer, das keiner Nahrung bedurfte, geisterhaft bläulich und doch so heiß, dass seine Wangen in der Hitze spannten.

    »Wer der Herrin keinen Respekt bezeugt, ist hier nicht willkommen«, belehrte ihn die unsichtbare Priesterin. »Du kannst nur Diener oder Opfergabe sein.«

    Davaron griff mit seiner Magie nach den Flammen. Sein Talent reichte selten aus, um magisches Feuer zu erzeugen, doch er konnte die Hitze lenken, teilte sie wie einen Vorhang und schritt unverletzt aus dem Flammenkreis hinaus. Nicht, um zu fliehen, sondern auf die Statue Antakores zu. Er würde das Knie nicht beugen, niemals, vor niemandem, aber er verneigte sich, bevor er sich erneut nach der Priesterin umsah. »Ich weiß nicht, ob mir Eure Herrin geben kann und will, was ich suche, aber wenn es so ist, bin ich bereit, ihr jeden Dienst zu erweisen, den sie verlangt.«

    Fünf Priesterinnen traten hinter Säulen und Vorhängen hervor. Zwei lächelten spöttisch, während ihn die anderen abschätzend musterten. Erstaunt bemerkte er, dass es Elfen waren. Wann hatten sie die Elfenlande verlassen? Wie lange lebten sie schon hier? Dem rotblonden bis rotbraunen Haar nach zu urteilen, gehörten sie den Töchtern Piriths an, doch es gab keine Geschichten über Frauen seines Volks, die in die Welt gezogen und nicht zurückgekehrt waren. Über etwas so Ungewöhnliches hätte man noch Jahrhunderte später gesprochen.

    »Wir wissen, wer du bist«, behauptete die Priesterin, die sich ihm am nächsten befand. Ihre Augen waren groß und dunkel, zu dunkel für eine Frau mit flammend rotem Haar. Das magische Feuer spiegelte sich für einen Moment in der Schwärze, bis es lautlos erlosch. »Du wurdest uns angekündigt.«

    Ach, wirklich?, dachte Davaron schmunzelnd. Wenn sie ihn mit solchen Sprüchen beeindrucken wollte, musste sie schon mehr aufbieten.

    »Du bist gekommen, weil Antakore aus Blut neues Leben verheißt.«

    Davaron lächelte unverbindlich. Warum sonst sollte jemand nach Kharnam kommen, als um Blutmagie zu erlernen?

    Die Priesterin kam näher. Im Gegensatz zu ihrer Herrin trug sie keine Rüstung, sondern ein dunkles Kleid, das die weißen Arme unbedeckt ließ. »Bist du wirklich bereit, alles zu tun, um deine tote Frau zu neuem Leben zu erwecken?«

    Vergebens versuchte Davaron, sich nichts anmerken zu lassen. »Woher wisst Ihr das?« Nie hatte er jemandem erzählt, warum er die schwarzen Künste erlernen wollte. Lieber hatte er gelogen, als seine wahren Gründe zu verraten.

    »Wir haben von deiner traurigen Geschichte gehört, Davaron von den Söhnen und Töchtern Piriths. Wir wussten, dass dich deine Suche zu uns führen würde.«

    »Ihr könnt Eretheya zurückholen?« Davaron merkte, dass er wie ein aufgeregter Junge klang, und bemühte sich um Beherrschung. Rasch rief er sich die grausamen Szenen auf den Reliefen ins Gedächtnis. Er musste auf der Hut bleiben.

    »Es steht nicht in unserer Macht, eine Seele aus dem Schattenreich zu rufen«, erwiderte Antakores Dienerin. »Um diese Gunst wirst du die Herrin selbst anflehen müssen. Vielleicht legt sie bei ihrem Vater ein gutes Wort für dich ein – wenn du dich als würdig erweist.«

    War ja klar. Davarons Hoffnung fiel in sich zusammen wie der magische Flammenkreis. »Und was habt Ihr mir stattdessen anzubieten?«

    »Setz dich.« Bestimmt und einladend zugleich deutete die Priesterin auf die Kissen zwischen den Körben und Kohlenbecken. »Othere wird es dir zeigen.«

    Zwei andere Dienerinnen Antakores holten Öllampen aus den Nischen und stellten sie zu beiden Seiten einer dritten Priesterin auf, die sich auf einem der Kissen niedergelassen hatte. Sie musste wohl Othere sein, und aus irgendeinem Grund wollten die Frauen, dass er genau sah, was sie tun würde. Argwöhnisch wartete Davaron ab, bis sich keine Priesterin mehr hinter seinem Rücken befand – zumindest falls sich niemand irgendwo versteckte. Erst dann nahm er ebenfalls auf den Polstern Platz und rückte sein Schwert so zurecht, dass es mühelos hervorgleiten würde, wenn er daran zog.

    Othere schien die älteste der Priesterinnen zu sein. Ihr kastanienbraunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und Davaron sah die kaum wahrnehmbare Erschlaffung der Lider, die mattere Haut, die kleinen Anzeichen, die das hohe Alter einer Elfe verrieten. Wie erbärmlich dagegen die Menschen dem Tod entgegenverfielen …

    Das Aufblitzen einer Klinge zerschnitt den Gedanken. Erst jetzt fiel Davaron die unscheinbare dunkle Scheide an Otheres Gürtel auf. Wo hatte er nur seine Augen gehabt? Sie alle trugen die gleiche Waffe. Verbarg ein Zauber die Dolche vor den Blicken der Opfer? Unwillkürlich näherten sich seine Finger dem Schwertgriff, spannten sich Beine und Rücken zum Sprung. Doch die Priesterinnen schenkten ihm keine Beachtung. Eine von ihnen hob ein dunkelbraunes Lamm aus einem der Körbe. Sobald sie es aufnahm, begann es zu zappeln. Kurze Bocksbeine strampelten in der Luft herum. In Davarons Anspannung mischte sich Unbehagen. In den Elfenlanden war das Schlachten von Lämmern, Ferkeln und Kälbern verpönt. Das Sein hatte ihnen nicht das Leben geschenkt, damit man es ihnen wieder nahm, bevor sie ausgewachsen und selbst zu Eltern geworden waren. Nur so blieb der Kreislauf des Lebens erhalten. Dass Menschen gegen diese Regel verstießen, gehörte zu ihrer barbarischen Natur, aber Elfen …

    Sie dienen der Tochter des Dunklen. Ihre ganze schwarze Magie verstieß gegen die Gebote des Seins. Gereizt verscheuchte er die eigenen Skrupel. Wenn er nicht bereit war, sich auf die Seite des Nichts zu schlagen, hätte er gar nicht erst herkommen sollen. Was kam es darauf an, ob ein dümmliches Schaf ein wenig länger sein dümmliches Leben führte? Niemand hatte seine Tochter gefragt, ob sie schon sterben wollte, und nun war sie tot. Er würde sie zurückbringen, auch wenn es hundert Leben kosten sollte.

    Die Priesterin hatte das Lamm in Otheres Schoß gelegt, wo das Strampeln von einem Moment auf den anderen versiegte. Obwohl die Augen weit geöffnet waren, sank das Tier schlaff gegen den Körper der Priesterin. Fast schon behutsam bettete Othere das Lamm, sodass der Hals auf ihrem linken Arm zu liegen kam, und mit derselben Andacht führte sie den Dolch. Gebannt sah Davaron zu, wie die Klinge durch die Haut des Opfers schnitt. Er hatte eine schnelle Geste erwartet, nach der das Blut dramatisch über die Versammelten spritzte, doch stattdessen rann es nur auf Otheres Arm hinab und schlängelte sich in roten Bögen über die Haut.

    Was würde nun geschehen? Welchem Zauber sollte der Tod des seltsam reglosen Lamms mehr Macht verleihen? Othere tat nichts. Sie saß einfach nur da und sah zu, wie ihr das Blut über den Arm floss. Ungeduldig rutschte Davaron auf seinem Kissen herum, bis ihm ihr abwesender Blick auffiel. Der Blick, der verriet, dass sie Magie anwandte. Und im gleichen Moment sah er es. Die Veränderung ging so langsam vor sich, dass sie ihm bis dahin entgangen war. Otheres Lider strafften sich. Die grauen Haare verschwanden, dunkelten von den Wurzeln her nach, bis sie mit dem rötlichen Braun der anderen Strähnen verschmolzen. Ihre Haut gewann den gesunden Schimmer der Jugend zurück, und Davaron begann zu begreifen, dass sie älter, viel älter war, als er sich auszumalen vermochte. Wie ein Schwamm sog sie die Lebenskraft des Lamms in sich auf. Schon sah er vor sich, wie Eretheyas mumifizierter Körper unter diesem Zauber zu neuer Schönheit erblühte. Wie die brüchige Haut wieder geschmeidig wurde. Wie sich die Lippen in neuer Fülle über die Zähne schoben und das schreckliche Totengrinsen verschwand. Alle Grausamkeiten, die der Tod ihrem Körper zugefügt hatte, würden von der Blutmagie rückgängig gemacht. Wenn es mir gelingt, sie aufzuerwecken.

    Der Gedanke ernüchterte ihn ein wenig. Seine Skepsis kehrte zurück. »Seid Ihr sicher, dass ich die Lebenskraft auch auf andere übertragen kann?«

    »Das hängt von deinem Talent ab und wird sich weisen, wenn wir dich unterrichten«, antwortete die Priesterin, die bislang als Einzige zu ihm gesprochen hatte.

    Davaron betrachtete sie mit neuen Augen. Womöglich war sie Tausende Jahre alt. »Aber selbst, wenn es dir nicht gelingt, was wird dich daran hindern, deine Frau den Zauber zu lehren, sodass sie sich selbst zu heilen vermag?«

    Wie er es auch drehte und wendete, alles setzte voraus, dass er sie zum Leben erweckte, dass er ihre Seele aus dem Schattenreich stahl. Aber wenn es so weit war, würde er die Blutmagie brauchen. »Welchen Preis verlangt Ihr dafür?«

    Das Lächeln der Priesterin ließ Davaron an eine Spinne denken, die eine Fliege einlud, sich in ihrem Netz auszuruhen. »Du musst dich der Gnade unserer Herrin ausliefern. Nur dann wird sie geneigt sein, dir zu geben, was du suchst.«

    »Das sind leere Worte«, erwiderte Davaron gereizt. »Sagt, was Ihr wollt!«

    »Es gibt ein Ritual …«

    Täuschte er sich, oder schauderte die Priesterin schon bei der Vorstellung?

    »Wenn du es ausführst, werden wir deinen Wunsch erfüllen.«

    Um Zeit zu gewinnen, stand Davaron auf. An diesem Angebot musste es einen Haken geben. Argwöhnisch versuchte er, in ihrer Miene zu lesen. »Wenn es selbst ein dahergelaufener Fremder wie ich durchführen kann, warum tut Ihr es nicht einfach selbst?«

    »Weil es mich das Ewige Licht kosten würde.«

    Davaron stutzte. Antakores Dienerinnen legten also keinen Wert darauf, sich nach dem Tod in das Reich ihrer Herrin zu begeben. Wie alle Elfen wollten sie ins Ewige Licht eingehen, um wiedergeboren zu werden. Was schert es mich? »Ihr frevelt doch ständig«, wandte er ein und deutete vielsagend auf Othere. »Habt Ihr Eure Seelen nicht längst verwirkt?«

    Lächelnd näherte sich die Priesterin einem der abgedeckten Körbe und schlug das Tuch zurück. Anstelle eines weiteren Lamms kamen aufgeplatzte Eier zum Vorschein. Kleine Schlangen wanden sich aus den Schalen hervor. »Für jedes Leben, das ich nehme, stifte ich neues – ganz, wie es uns das Sein befiehlt.« Erneut richtete sich ihr Blick auf Davaron. »Doch was du für uns tun wirst, kann selbst mit tausend neuen Leben nicht gesühnt werden.«

    Sie verlangt meine Seele. Fast hätte Davaron vor Bitterkeit gelacht. Was außer seiner Seele war ihm überhaupt noch geblieben? Und doch würde er sie geben – für Eretheya.

    1

    Fallender Fluss, zwei Jahre nach Theroias Untergang

    Hier stimmt etwas nicht. Leones lauschte in die neblige Herbstnacht. Solange kein Wind wehte, herrschte um diese Jahreszeit immer Stille im Moor. Selbst das Sirren der Stechmücken war längst verstummt. Und doch … Hätte er nicht wenigstens den Ruf eines Vogels hören müssen? Ein Rascheln im Gesträuch? Aber da war nichts, nur Sturmlöwes Atmen. Wie eine riesige Katze hatte sich der Greif zusammengerollt und schlief. Noch vor wenigen Jahren hätte Leones den Sinnen der Chimäre vertraut und sich entspannt zurückgelehnt. Schließlich waren sie nicht allein. Danael saß bei ihnen, und dessen Greif jagte hinter den Sumpfschweinen her, die sie bei der Landung aufgescheucht hatten. Doch Sturmlöwe war im Dienst der Grenzwache alt geworden. Sein Leib wurde immer knochiger, und Fell und Gefieder hatten den einstigen Glanz verloren. Nach einem weiten Flug wie heute konnte ihn nicht einmal die Aussicht auf Beute locken. Bedauernd strich Leones über den klobigen Löwenschädel. Er war stets stolz auf seinen Greif gewesen, einen der wenigen, die keinen Adlerkopf, sondern ein Löwenhaupt besaßen. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er zu alt war, um einen Reiter zu tragen.

    »Es ist zu still hier.« Auch Danael spähte nervös in die Nacht. Da sein Gesicht ungewöhnlich schmal war, lagen die Augen zu eng beieinander, um als schön zu gelten, aber er besaß den scharfen Blick, den man allen Abkömmlingen Heras nachsagte.

    »Soll ich ein Feuer machen?«, bot Leones an. Die Feuchtigkeit zog ihm bereits in die Kleider, und es wurde mit jedem Augenblick kühler. Längst hatte er sein inneres Feuer geschürt und nährte es mit Magie, um nicht mehr zu frieren. Was für ein unwirtlicher Ort. Kein einziger Stern zeigte sich am Himmel. Der Schleier, der neuerdings Sonne und Mondlicht dämpfte, verbarg sie. Gab es ihn nur hier, in den Sümpfen und Mooren entlang des Fallenden Flusses, oder trübte er auch den Himmel über Beleam?

    »Nein, kein Feuer«, warnte Danael. Erneut sah er sich um und stand auf. »Es könnte Orks oder einen Oger anlocken.«

    Nur zu gern folgte Leones seinem Beispiel. Sie hatten für ihr Nachtlager zwar einen halbwegs trockenen Platz gefunden, aber der Boden war dennoch klamm. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie den Spähflug die Nacht hindurch fortgesetzt, doch die Greife waren müde und hungrig.

    Verstohlen behielt ihn Danael im Auge. Der Sohn Heras traute ihm nicht – wie alle in Nehora. Erst vor zwei Monden war Leones aus Beleam gekommen, und er wusste, was sie hier an der Westgrenze über das Verräternest dachten. Zu viele Söhne und Töchter Piriths hatten dort Dienst getan, weshalb Kavaraths Einfluss größer gewesen war als der des Kommandanten im fernen Uthariel. Nun waren beide tot, und die neue Kommandantin hatte Beleams Besatzung aufgelöst und auf die anderen Stützpunkte verteilt. So wollte sie die alten Verflechtungen zerschlagen und neuen Verrat verhindern.

    Insgeheim nahm Leones die Strafe demütig an. Er war ein Verräter. Auch wenn er nicht damit gerechnet hatte, dass Kavarath über Leichen ging, trug er eine Mitschuld am Tod vieler Elfen und – noch schlimmer – am Verlust ihrer Seelen, da sie fern des Ewigen Lichts gestorben waren. Der Hohe Rat hätte ihn dafür auf Lebenszeit aus den Elfenlanden verbannt. Dagegen war die Versetzung nach Nehora fast ein Geschenk. Danael konnte nichts davon wissen. Es gab keinen Beweis und keinen Zeugen, der gegen Leones ausgesagt hätte. Doch sie alle vermuteten es und flüsterten über ihn.

    Wachsam blickte sich Leones um. Nebelschwaden hingen so niedrig über den sumpfigen Wiesen, als ob sie an eine gläserne Decke stießen. Darüber reichte der Blick recht weit, gen Westen sogar bis zum hohen Schilf am Fluss. Langsam drehte sich Leones einmal um sich selbst. Vereinzelt erhoben sich Bäume und Büsche wie dunkle Skulpturen aus dem weißen Dunst und boten verborgenen Feinden Deckung. Es war so kalt, dass sein Atem als Wolke vor ihm aufstieg.

    Plötzlich schrillte in der Ferne ein Quieken. Der Schrei eines Sumpfschweins, bevor ihm der Greifenschnabel die Kehle aufriss. Leones und Danael wechselten einen Blick. Alles schien in Ordnung. Wildfang hatte seine Beute gepackt und würde zurückkommen, sobald er sich den Wanst vollgeschlagen hatte. Mit etwas Glück würde noch eine Mahlzeit für Sturmlöwe bleiben. Doch gerade, als sie sich wieder ins Gras setzen wollten, gellte ein anderer Schrei durch die Nacht. Abrupt riss Sturmlöwe den Kopf empor. Selbst nach fast hundert Jahren Dienst in der Wache klangen für Leones alle Greifenschreie gleich. Er vermochte nicht zu sagen, ob sie Furcht oder Freude, Hunger oder Hass verspürten, aber die Chimären erkannten es. Ein weiterer Adlerschrei zerriss die Stille.

    »Warte!«, rief Leones, doch es war zu spät. Sturmlöwe sprang bereits in die Luft. Der Flügelschlag wehte Leones eisigen Wind ins Gesicht.

    »Was ist da los?« Hastig klaubte Danael seinen Bogen aus dem Gras.

    »Keine Ahnung«, erwiderte Leones, während er sein Schwert zog. Sturmlöwe flog in Richtung der Schreie davon. Rasch nahm Leones die Verfolgung auf. Wurde Wildfang angegriffen? Warum kam das Biest dann nicht einfach zurück?

    Neben ihm rannte Danael und legte im Laufen einen Pfeil auf. »Sieh dich vor! Das Moor ist tückisch!«

    Leones nickte nur. Noch federte der Boden wie die Bohlen eines Stegs, doch schon wenige Schritte weiter sanken die Füße in Morast. Schlamm quatschte unter Leones’ Sohlen, zog erst zaghaft, dann immer fester an seinen Stiefeln. Nahebei glänzte Wasser zwischen den hohen Gräsern.

    »Dort entlang!«, rief Danael und deutete auf ein helleres Stück Wiese. Einen Augenblick lang hing er fest. Leones hielt inne, um ihm zu Hilfe zu kommen, aber der Schlamm gab bereits schmatzend nach. Danael hetzte weiter, und Leones folgte ihm. Um ihre Füße spritzte Wasser aus flachen Pfützen auf. Wo steckte der verdammte Greif? Wildfangs Kreischen klang nah, und über ihnen forderte Sturmlöwes Brüllen den unsichtbaren Gegner heraus.

    »Da!« Leones wies Danael die Richtung. Flatternde Schwingen ragten aus dem Dunst. Je näher sie kamen, desto besser konnte sein Blick den Nebel durchdringen. Wo war der Gegner? Steckte die Chimäre etwa in einem Schlammloch fest? Unvermittelt blieb Leones stehen. Vor ihm spiegelte sich das Mondlicht auf Wasser. Mit ausgestrecktem Arm hielt er Danael zurück. »Vorsicht!«

    Der Weiher reichte so weit wie sein Blick. Schilf und Gräser ragten wie Inseln daraus hervor, aber dazwischen konnte er tiefer sein. Nur noch ein dünner Schleier trennte sie von Wildfang, der in flachem Wasser zappelte, dass es rauschte und spritzte. Zwischen seinen Schreien hackte er in die aufgewühlte Brühe, doch der Schnabel schien ebenso machtlos zu sein wie die verzweifelt schlagenden Flügel. Immer wieder schlugen sie, immer wieder bog sich Wildfangs Rücken bei dem Versuch, sich vom Boden zu heben. Vergebens.

    »Bei allen Astaren!« Aufgebracht fuchtelte Leones mit dem Schwert, um Sturmlöwes Aufmerksamkeit zu erregen. Für eine solche Lage kannte er kein Zeichen, keinen Befehl, den der Greif verstanden hätte, und doch musste er irgendetwas tun. »Zieh ihn da raus, verdammt!«

    Verblüfft sah er, wie Sturmlöwe herabkam und sich flatternd über Wildfang senkte. Begriff der Greif etwa doch, was man ihm sagte?

    »Er steckt nicht im Schlamm«, warnte Danael leise und zielte unsicher hierhin und dorthin. »Seine Beine sind nicht weit genug eingesunken, um festzuhängen.«

    Jetzt, da es Danael gesagt hatte, glaubte auch Leones, die Wahrheit zu erkennen. Oder lag es an Sturmlöwes Schwingen, deren kräftige Schläge den Nebel vertrieben? Gerade schlug der Greif die Zähne in Wildfangs Nacken und zerrte daran. Grollend und kreischend flatterten beide mit den Flügeln und sandten zitternde Wellen über den Teich. Ihr Lärmen übertönte jedes andere Geräusch. Sturmlöwe hob Wildfang höher als zuvor. Gebannt beobachtete Leones, wie sich Wildfangs Beine streckten. Irgendetwas hielt sie fest, aber im verfluchten Nebel konnte er nichts Genaues erkennen.

    Danael ließ einen Pfeil von der Sehne schnellen. Über die Hälfte verschwand im Wasser, doch der Rest wackelte so heftig, dass Leones alarmiert das Schwert hob. Was auch immer der Pfeil getroffen hatte, bewegte sich.

    Plötzlich blitzte unter Wildfangs Bauch etwas auf und stieß senkrecht nach oben. Der Greif schrie. Danael schoss und griff bereits nach dem nächsten Pfeil. Wildfangs Flügelschläge verloren an Kraft. Leones sah Sturmlöwe vor Anstrengung zittern. Vergeblich zerrte er an Wildfangs Nacken. Wieder und wieder glänzte auf, was aus dem Weiher nach dem Greif stach. Fluchend jagte Danael Pfeil um Pfeil ins Wasser, doch es half nichts. Wildfangs Bewegungen erlahmten bereits, und er hing immer noch fest.

    »Weg da!«, schrie Leones. Hektisch klopfte er mit der freien Hand auf den anderen Arm, um Sturmlöwe zu sich zu rufen. Einen Lidschlag lang verhüllte sein Atem ihm den Blick wie der Nebel. Als er den Weiher wieder sah, stiegen vereinzelte Blasen darin auf. Irgendwo zur Linken plätscherte es. Zur Rechten schmatzte Schlamm. Mit aufgelegtem Pfeil fuhr Danael herum, doch er schien ebenso wenig zu sehen wie Leones, denn er schoss nicht.

    Wildfang stürzte ins Wasser, dass es mit lautem Klatschen aufspritzte und in den Weiher prasselte wie Regen. Reglos blieb er liegen, während sich Sturmlöwe höher schwang und auf Leones zukam. Überall schien es plötzlich leise zu schwappen und zu plätschern.

    »Wir müssen hier weg!«, warnte Leones.

    Widerwillig löste sich Danael vom Anblick seines Greifs. Der Zwiespalt stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

    »Er ist tot. Du kannst nichts mehr für ihn tun«, drängte Leones. Hastig drehte er sich um. Hatte nicht direkt hinter ihm …

    Etwas Glänzendes hob sich aus dem Weiher. Im ersten Augenblick sah er nur triefendes Wasser und schlaffe Stängel, doch dann erkannte er darunter die Axt. Eine schwarze Hand hielt den Stiel gepackt. Überall wallte und wogte das Wasser. Hände und Waffen tauchten daraus auf.

    Leones spürte Sturmlöwe neben sich landen. »Komm!«, rief er Danael zu und sprang auf den Rücken des Greifs. Schon wollte sich Sturmlöwe vom Boden abstoßen. Rasch streckte Leones die Hand nach seinem Kameraden aus. Danael griff zu. Sie waren zu schwer, der Greif würde sie nicht beide in Sicherheit tragen können, doch Leones sah, wie sich Danaels Blick nach innen wandte. Der Sohn Heras beschwor seine Magie. Sturmlöwe schwang sich in die Luft. Für einen Moment riss Danaels Gewicht an Leones’ Arm, zog ihn beinahe vom Rücken des Greifs, dann wirkte plötzlich der Zauber, und Danael wurde leicht wie eine Feder. Seine Hand umklammerte Leones’ so fest wie zuvor, sie fühlte sich ebenso stark und warm an, und doch schwebte der Sohn Heras nun schwerelos neben ihm. Solange Danaels Magie nicht versiegte, musste er ihn nur noch festhalten.

    Leones bemerkte Danaels forschenden Blick. Sorgte er sich, ob er dem Verräter vertrauen konnte? Worte würden daran nichts ändern. Besorgt sah Leones nach unten. Unzählige Tümpel schimmerten zwischen den Nebelfetzen im Mondlicht – und in allen regten sich die Toten einer längst geschlagenen Schlacht.

    * * *

    Mit dunklen Ahnungen blickte Laurion zur Elfenstadt Everea zurück. Selbst im fahlen Licht der dunstverschleierten Sonne schimmerten die Schilfdächer golden, und an den Giebeln glänzte Perlmutt mit silbernen Fahnen um die Wette. Wie passte so viel Schönheit nur zu so viel Argwohn und Hass? Wie konnten so hartherzige Wesen so anmutige, zerbrechliche Gebäude hervorbringen? Gab es unter den Elfen, die sich auf den Stegen drängten, denn niemanden, der Mitleid mit ihnen empfand? Viele von ihnen waren selbst Flüchtlinge und hatten gerade ihr Zuhause verloren. Die riesige Flutwelle hatte ihnen alles genommen, Angehörige und Freunde, Boote und Häuser. Sie standen ebenso vor dem Nichts wie die Dionier. Doch dass sie Elfen und Laurion und seine Begleiter Menschen waren, schien ein unüberwindliches Hindernis zu sein. Dieser Älteste, Ameahim, hatte Mahanael sogar als Verbrecher beschimpft, weil er gewagt hatte, zwei Dutzend Menschen in die Elfenlande zu bringen. Als ob sie Räuber, Mörder oder gar eine tödliche Krankheit wären. Wenn der Morgen mit einer blutroten Sonne beginnt …

    Die Kemethoë und die Kaysas Segen wurden nun von schlanken Schiffen voll finster blickender Krieger eskortiert. Wie alle Abkömmlinge Ameas trugen sie blaue Gewänder, aber auch Rüstungen aus riesigen Fischschuppen und poliertem Horn. Einige hielten Schilde aus den Panzern großer Wasserschildkröten, und fast alle hatten sich mit Speeren bewaffnet, deren Spitzen Schilfblättern nachempfunden waren.

    Misstrauisch spähte Otreus zu ihnen hinüber. »Hab ich nicht gleich gesagt, dass wir hier nicht willkommen sind? Wir hätten fliehen sollen, solange wir noch konnten.«

    Die Regentin warf ihrem Leibwächter einen strafenden Blick zu. Sah er denn nicht, dass es weit und breit keine Zuflucht für sie gab? »Ihr Fürst erwähnte diese Grenzwächter, die über unser Schicksal entscheiden werden, also gibt es noch Hoffnung. Wenn wir uns vollkommen friedlich verhalten, können wir bestimmt ihr Vertrauen gewinnen.«

    Otreus schnaubte, und alle anderen mieden Nemeras Blick. Es tat Laurion leid, aber auch ihm fiel es angesichts der vielen Waffen schwer, noch an ein gutes Ende zu glauben. Angeblich hatte Ameahim seinen Leuten nur befohlen, sie zu einer Insel zu bringen, die weit genug von der Stadt entfernt lag, damit die Menschen den Elfen nicht gefährlich werden konnten. Doch entsprachen seine Worte der Wahrheit? Was erwartete sie dort wirklich? Die Mienen der Elfenkrieger verhießen nichts Gutes.

    Rasch gerieten die Häuser Evereas außer Sicht, und schon bald verlor Laurion im Labyrinth aus Wasser, Sandbänken, Auwald und Schilf die Orientierung. Die Gegend erinnerte ihn an das Delta des Mekat, wo die Fürsten von prunkvollen Barken aus Vögel gejagt hatten, aber hier war es kälter, und die einzigen Bogenschützen trieben dionische Flüchtlinge vor sich her. Einmal tauchte aus der Wildnis eine flache Brücke über einen abzweigenden Wasserweg auf – ein einsamer Beweis, dass sie sich noch in der Nähe der Stadt befanden. Die Elfen bogen jedoch nicht dorthin ab. Schweigend starrten sie zu den Menschen herüber, und einige – wie Otreus – blickten feindselig zurück. Lange Zeit war das leise Plätschern um die Schiffe der einzige Laut in der Stille.

    »Dort könnt ihr landen und euer Lager aufschlagen!«, rief schließlich jemand auf dem vordersten Elfenschiff und deutete auf einen schmalen Sandstrand. Dahinter erhob sich lichter Wald.

    »Es ist euch verboten, diese Insel zu verlassen«, warnte der Elf. »Wer dagegen verstößt, erweist sich als Feind und wird auf der Stelle getötet!«

    »Was müssen Menschen ihnen angetan haben, dass sie uns so sehr misstrauen?«, fragte Nemera traurig.

    Laurion konnte nur nicken. Der Hass der Elfen schien beinahe ebenso tief zu reichen wie die Bosheit der Drachen. Umso mehr verwunderte ihn, dass die Schiffe davonfuhren, sobald die Kemethoë und die Kaysas Segen am Ufer lagen und ausgeladen wurden.

    »Ha!«, platzte Otreus heraus. »Woher wollen die Dreckskerle wissen, dass wir bleiben? Steigen wir wieder ein und verschwinden, Herrin!«

    »Kannste allein machen, Hornochse«, brummte Djefer. Der stämmige Fischer schulterte, was von ihrem Kornsack geblieben war, und sprang damit an Land. »Das riecht nach Falle wie’n gammliger Fisch.«

    »Du bist doch bloß zu feige, weil du Stümper den Kahn nicht schnell genug bekommst!«

    »Hört auf damit!«, befahl Nemera. »Wir sind alle erschöpft und enttäuscht. Aber wir dürfen uns nicht provozieren lassen! Wenn wir uns keinen Fehler leisten, werden die Elfen erkennen, dass wir nicht ihre Feinde sind.«

    »Euer Schiffsführer hat recht«, meinte Mahanael ernst. Der Elf war von Bord der Kaysas Segen gesprungen und hatte geholfen, sie höher auf den Strand zu ziehen. »Die Abkömmlinge Ameas werden euch im Auge behalten, auch wenn ihr sie nicht seht. Es sind ihre Inseln, und sie wissen sich lautlos in Wasser und Schilf zu bewegen.«

    Sogleich glaubte Laurion, heimliche Blicke auf sich zu spüren. »Was schätzt du, wie lange sie uns hier festhalten werden?«

    Mahanael hob ratlos die Schultern. »Ich weiß nicht, wie weit die Grenzwächter entfernt sind und wie schnell sie zu einer Entscheidung kommen.«

    »Kann der Kaysar uns helfen?«, fragte Nemera bang.

    »Er hat uns nicht einmal in Sianyasa angekündigt«, wagte Laurion einzuwenden.

    »Er war in Eile, um diesem Riesen zu folgen«, verteidigte sie Athanor.

    Er war in Eile, um Elfen zu retten, während wir hier von ihnen bedroht werden, grollte Laurion im Stillen. Auf wessen Seite steht er eigentlich?

    »Ich weiß nicht, wie viel Athanors Wort bei den Grenzwächtern gilt«, gab Mahanael zu. »Ameahim hat wohl recht. Ich bin nur ein Seemann, der nichts von den Vorgängen an Land versteht.«

    Nemera seufzte. »Also gut. Ich glaube zwar, dass Ihr sehr viel mehr seid – was Ihr ihm auch deutlich gesagt habt –, aber vorerst sollten wir uns darauf einstellen, ein paar Tage zu bleiben. Müßiggang bringt die Leute nur auf dumme Gedanken«, fügte sie mit einem Blick auf Otreus leise hinzu.

    Rasch teilte sie die Flüchtlinge dazu ein, Unterstände aus jungen Baumstämmen und Schilf zu errichten, Holz für Kochfeuer zu sammeln und am Ufer die salzverkrustete Wäsche zu waschen. Rhea und Laurion schickte sie aus, um nach Kräutern und Beeren zu suchen – die einzige Aufgabe, die seinem Rang als Magier halbwegs angemessen war.

    Zögernd erkundete er mit Rhea die Umgebung. Neugierig lief das kleine Mädchen voraus und führte ihn so immer weiter fort. Insgeheim erwartete er, jeden Augenblick auf einen versteckten Elfenkrieger zu stoßen, doch nichts dergleichen geschah. Waren sie wirklich allein auf der Insel? Obwohl ihm die Beobachter nie aus dem Kopf gingen, nahm er schließlich sogar ein kurzes Bad im Fluss. Endlich juckte kein Salz mehr auf der Haut. Rhea tauchte wie ein Otter und holte stolz ein paar Muscheln herauf. »Für die Regentin«, verkündete sie, bevor sie in ihrem triefnassen, aber nun sauberen Kittel weiterzog. Ein paar essbare Beeren fanden sie tatsächlich, nur mit den Kräutern hatte Laurion kein Glück. Viele der Pflanzen waren ihm fremd, und selbst wenn sie einem dionischen Küchenkraut ähnelten, schmeckten sie noch lange nicht wie ihre Verwandten jenseits des Ozeans.

    Beim Abendessen war Mahanael noch stiller als sonst. Laurion nahm an, dass ihr Freund um seine Familie trauerte, denn die Flutwelle hatte Sianyasa völlig zerstört, und fast alle Bewohner der schwimmenden Stadt waren ums Leben gekommen. Deshalb hatte Mahanaels Älteste ihn mit den Dioniern nach Everea geschickt, wo sie sich Obdach und Nahrung erhofft hatten.

    Plötzlich stand Mahanael auf und trat mit entschlossener Miene vor Nemera. »Heute Vormittag haben wir Ameahim überrascht. Das war unklug, denn so fehlte ihm die Zeit, sein Vorgehen zu überdenken. Ich gehe noch einmal zu ihm und versuche, ruhig mit ihm zu sprechen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er davon. Im Schatten der Bäume verschwand er so rasch, dass es Laurion vorkam, als hätte ihn die Dämmerung verschluckt.

    Besorgt sah Nemera ihm nach. »Das gefällt mir nicht. Dieser Ameahim ist zornig auf ihn, weil er uns hergebracht hat. Sagte er nicht, dass er ihn dafür zur Rechenschaft ziehen will?«

    Laurion nickte. Es war mutig von Mahanael, den Elfenfürsten noch einmal aufzusuchen, aber …

    »Darf er die Insel überhaupt verlassen?«, fragte Nemeras Zofe. »Er wurde bei dem Verbot nicht ausgenommen, oder?«

    Vergeblich versuchte Laurion, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. War ausdrücklich von Menschen die Rede gewesen? »Ich fürchte nicht.« Brachte Mahanael nicht nur sich selbst, sondern sie alle in Gefahr? Laurion sprang auf. Wenn er sich beeilte, konnte er den Elf noch einholen. »Ich werde ihn aufhalten.«

    »Aber seid vorsichtig!«, rief Nemera ihm nach.

    Das habe ich vor. Solange er Mahanael fand, bevor er die Insel verlassen hatte, würde ihnen hoffentlich nichts geschehen. Doch leider wurde es mit jedem Augenblick dunkler, und Laurion verstand ohnehin nichts vom Fährtenlesen. Selbst eine Fackel hätte ihm daher wenig genutzt. Hastig stolperte er durch die Finsternis. Dornige Ranken schienen nach seinen Füßen zu angeln und rissen an seiner Robe. Wo befand sich die vermaledeite Brücke? Lief er noch in die Richtung, die Mahanael eingeschlagen hatte?

    Vor ihm wurde es heller. Die Bäume wichen einer Lichtung, die von Schilf und Gesträuch umgeben war. Wo die Schilfgräser wuchsen, musste das Ufer sein. Wenn er dort entlanglief, würde er irgendwann auf die Brücke stoßen. Aber der schnellste Weg war es wahrscheinlich nicht. »Mahanael?«, rief er leise. Nur ein Rascheln im Gebüsch antwortete ihm.

    Nicht trödeln! Wenn er schon den längeren Weg nehmen musste, galt es, umso schneller zu sein. Mit dem Lärm eines zornigen Büffels brach er durchs Gestrüpp. Manchmal geriet er ins Schilf, dessen scharfe Blätter in seine Füße schnitten, und schon im nächsten Moment versank er bis zu den Knöcheln in Schlamm und hastete auf trockenen Grund zurück. Wie groß war die verfluchte Insel eigentlich?

    Ständig musste er auf den Boden achten, um nicht in einem Sumpfloch zu landen. Als er wieder einmal aufblickte, leuchtete zwischen den Halmen fernes Licht. War er womöglich im Kreis gelaufen?

    Laurion reckte sich, um übers mannshohe Schilf zu spähen. Der flackernde Schein mehrerer Fackeln bewegte sich durch die Dunkelheit und spiegelte sich auf dem Wasser. Wer auch immer sie trug, kam näher. Vorsichtig eilte Laurion weiter. Schon konnte er Gestalten ausmachen, die über eine schmale Brücke schritten. Viele Gestalten. Und im Fackellicht glänzten Speerspitzen auf. Laurion erstarrte.

    »Was habt ihr vor?« Erst die anklagende Stimme machte ihn auf den einzelnen Elf aufmerksam, der am Ende der Brücke stand. Mahanael.

    »Wir werden die Menschen töten«, antwortete der vorderste Fremde. Auch er trug eine Fackel und hielt eines der gebogenen Schwerter in der Hand.

    »Sie haben nicht gegen die Vereinbarung verstoßen«, protestierte Mahanael.

    »Die Lage hat sich geändert«, gab der Schwertträger zurück. Er hatte Mahanael fast erreicht und hielt an. Misstrauisch ließ er den Blick schweifen. Offenbar fürchtete er, dass die Dionier im Dickicht lauerten. Laurion verwünschte seine weiße Robe und webte einen Zauber. Ich bin nur das Schilf. Ihr seht mich nicht, weil ich Schilf bin.

    »Das Ewige Licht wurde zerstört!«, rief der Schwertträger wütend. »Diese Menschen bringen nichts als Unglück über uns!«

    »Wie können sie das Ewige Licht zerstört haben? Sie waren doch die ganze Zeit hier«, hielt Mahanael dagegen. Doch seine Stimme klang unsicher. Aus irgendeinem Grund hatten ihn die Worte getroffen.

    »Erst haben sie die Flutwelle gesandt, dann den Riesen«, schimpfte jemand.

    »Sie wollen uns auslöschen!«, brüllte ein anderer.

    Die aufgebrachten Elfen setzten sich wieder in Bewegung. Mit begütigend erhobenen Händen wich Mahanael zurück. »Ich lebe seit Monden bei ihnen. Sie sind unsere Freunde.«

    »Du solltest dich schämen, Verräter!« Der Schwertträger schwang die Fackel nach ihm.

    »Menschen sind tückisch«, tönte eine Kriegerin mit Schild und Speer. »Wir müssen sie töten, bevor sie uns im Schlaf ermorden!«

    Unter aufgebrachten Rufen schob die Menge Mahanael von der Brücke. Am Ufer drängte sie sich um den Anführer und ihn.

    »Wir schützen auch dich, du Narr!«, blaffte irgendjemand.

    »Kein Elf darf mehr sterben, sonst ist seine Seele verloren!«

    Laurion zitterte. Wovon sprachen sie da nur? Warum glaubten sie so fest daran, dass alle Menschen ihre Feinde waren? Er musste die anderen warnen. Für eine Flucht blieb kaum noch Zeit. Und wie sollten sie ohne Mahanael entkommen? Hin- und hergerissen starrte er auf die wütende Meute. Plötzlich zog sie weiter, und eine Gestalt blieb am Boden zurück. Mahanael!

    Laurion rannte los, ohne auf das Knacken und Rascheln zu achten, mit dem er durch Ried und Büsche brach. War der Elf etwa tot? Was sollten sie dann tun? Barmherzige Urmutter, hilf! Atemlos ließ er sich neben Mahanael fallen und tätschelte ihm die Wange. »Wach auf!«

    Aus dem sonnengebleichten Haar sickerte Blut. Offenbar hatte ihn jemand hinterrücks niedergeschlagen. Diese elenden Schweine! Laurion sprang wieder auf und hetzte ans Wasser. Mit den Händen formte er eine Schale, doch sie fasste erbärmlich wenig. Kurz entschlossen tauchte er die Arme bis über die Ellbogen unter. Blitzschnell saugte sich der Stoff seiner Robe voll. Er lief zu Mahanael zurück, ließ das kalte Wasser auf dessen Gesicht rinnen und wrang einen weiteren Schwung aus den Ärmeln heraus. Blinzelnd kam Mahanael zu sich.

    »Komm!«, schrie Laurion und zerrte den benommenen Elf auf die Füße. »Sie werden alle umbringen!«

    Bei der Erinnerung riss Mahanael die Augen auf.

    »Komm schon!«

    »Warte! Ich weiß einen besseren Weg.«

    »Welchen denn?« Sah er denn nicht, wie viel Vorsprung die Feinde hatten?

    »Du kannst sie überholen, aber du wirst nicht schnell genug sein, um die Schiffe rechtzeitig ins Wasser zu bringen. Vertrau mir!«

    Die Umrisse des Elfs verschwammen vor Laurions Augen, schrumpften und verwandelten sich. Im nächsten Moment stieß sich ein weißer Vogel vom Boden ab. Vor Ehrfurcht stand Laurion wie versteinert. Das ist wahre Magie! Beinahe lautlos schwang sich das Tier in den Nachthimmel hinauf. Gegen den Vogel bewegten sich die anderen langsam. Und ich stehe immer noch hier herum! Aufgeschreckt rannte Laurion los. Im Gegensatz zu ihm kannten die Elfen die Richtung. Für den Umweg am Ufer blieb keine Zeit. Er musste ihnen folgen, bis er allein weiterkam. Zwischen den Bäumen konnte er den Schein der Fackeln noch sehen und holte rasch auf.

    Sobald er näher kam, zuckte er bei jedem knackenden Zweig zusammen. Mahanael hatte ihn zwar nur gesehen, weil er sich bemerkbar gemacht hatte, doch sicherheitshalber verstärkte Laurion seinen Zauber. Ihr seht mich nicht. Ich verschmelze mit der Nacht. Gerade rechtzeitig, denn schon blickte jemand argwöhnisch über die Schulter. Du siehst mich nicht. Ich bin der Schatten des Waldes, das finstere Gestrüpp, die Dunkelheit zwischen den Sternen.

    In entschlossenem Schweigen marschierten die Elfen voran. Nur das Rascheln ihrer Schritte störte die Stille. Für Laurion klang es wie ein Messer am Schleifstein. Zügig überquerten sie eine kleine Lichtung. Im Fackellicht glaubte Laurion, einen alten Baum zu erkennen. Hier war er mit Rhea vorübergekommen.

    Jetzt! Laurion stürmte los und schlug sich seitlich in die Büsche. Wie er durchs Unterholz brach, war unüberhörbar. Alarmierte Rufe ertönten. »Da bewegt sich was!«

    Laurion konnte nicht verhindern, dass Zweige förmlich einladend winkten. Mit leisem Knall schlug vor ihm ein Pfeil in einen Baum. Er rannte noch schneller. Gleich hatte er die Mörderbande hinter sich. Wenn er aus dem Fackellicht verschwand, würden sie kein wackelndes Laub mehr sehen. So plötzlich fuhr neben ihm ein Speer in den Boden, dass er vor Schreck fast gegen einen Baumstamm sprang. Im letzten Moment stieß er sich ab und hetzte keuchend weiter. Um ihn herum wurde es dunkler. Die Schatten verschmolzen zur Finsternis der mondlosen Nacht.

    Wie aus dem Nichts traf ihn von hinten ein Stoß gegen die Schulter. Wucht und Schmerz warfen ihn nieder, und er landete auf den Knien. Weiter! Weiter! Aufstöhnend strauchelte er vorwärts. Seine Schulter brannte, als ob sie in Flammen stünde. Halb erwartete er einen erneuten Schlag in den Rücken, doch niemand war hinter ihm, nur der Schmerz, der ihm Tränen in die Augen trieb. Lauf, verdammt! Er richtete sich auf und wieselte um die Bäume. Leuchtete dort nicht ein weißes Segel in der Dunkelheit? Er entdeckte den schnell gezimmerten Unterstand am Waldrand. Dahinter glänzte der Fluss im Sternenlicht. Die anderen hatten die Schiffe bereits ins Wasser geschoben und die Segel gesetzt.

    »Da hinten ist schon Fackelschein!«, rief Emmos. »Wie lange sollen wir denn noch warten?«

    »Ich bin hier!«, krächzte Laurion. Jetzt würde selbst der undankbare junge Fischer ihn sehen. Atemlos hetzte er über den Strand und ins hoch aufspritzende Wasser, doch der weiche Flussgrund bremste seine Schritte. Sofort sog sich der Saum seiner Robe voll Wasser. Der schwere Stoff behinderte ihn.

    »Laurion!«, schrie Nemera.

    Mehrere Paar Hände streckten sich ihm entgegen. Als er danach griff, loderte der Schmerz in seiner Schulter wieder auf. Dunkelrote Wolken trübten seinen Blick. Panisch umklammerte er die Hände, die an ihm zogen.

    »Schafft ihn endlich an Bord!«, brüllte Djefer.

    Neben Laurion knallte ein Pfeil in die Bordwand.

    »Da kommt ein Schiff!«, gellte es schrill von der Kaysas Segen herüber.

    »Jetzt ist alles verloren«, murmelte Otreus.

    2

    Als Athanor und Akkamas Anvalon betraten, war kaum ein Elf zu sehen, aber Athanor maß den ausgestorbenen Wegen und Gärten nicht viel Bedeutung bei. Wer vor dem nahenden Giganten nicht geflohen war, hielt sich in den Häusern versteckt, und noch hatte sich der Sieg über den Riesen nicht herumgesprochen. Doch auch über Peredins Amtssitz lag ungewöhnliche Stille. Athanor hatte geschäftiges Kommen und Gehen erwartet, Heiler, die den Verwundeten halfen, ausgesandte Boten, Diener, die den geschwächten Kriegern ein Mahl bereiteten. Stattdessen standen kreuz und quer erschöpfte Pferde herum und knabberten ungestraft an den Rosen. Licht fiel nur aus einigen Fenstern privater Gemächer. Der Empfangssaal dagegen war dunkel und leer.

    Neugierig blickte Akkamas zu der Decke aus silbrigen Baumkronen hinauf. »Die Elfen haben eine ungewöhnliche Art, Gäste willkommen zu heißen. Sie zeugt jedoch von großem Vertrauen«, befand er grinsend.

    »Man könnte es auch abweisend und respektlos nennen«, brummte Athanor. Nach dem langen Kampf wollte er endlich eine Mahlzeit. »Gehen wir in die Küche und sehen nach, was wir finden.«

    Doch auch dort begegnete ihnen niemand. Stattdessen stießen sie auf die Spuren des übereilten Aufbruchs. Aus einem umgeworfenen Krug war Wein über den bemehlten Tisch geflossen, auf dem noch gekneteter Teig herumlag, und beim Spülbottich lagen Scherben auf dem Boden verstreut. In der großen Herdstelle knisterte Glut unter der Asche. Nur deshalb war der darüber hängende Kessel mit Eintopf nicht völlig erkaltet. Athanor und Akkamas bedienten sich und fanden auch ein paar Fladen Hirsebrot, die sie mit Apfelmost hinunterspülten.

    Der volle Magen stimmte Athanor gnädiger. Geflohene Elfen konnten eben keine Gäste bewirten. Offenbar hatte die Nachricht vom Erlöschen des Ewigen Lichts die Verteidiger Anvalons schwer getroffen. Sicher würde er bald wieder vernünftig mit Peredin reden können.

    »Du siehst übel aus«, befand Akkamas und deutete auf Athanors blutverkrustete Stirn, wo die Platzwunde von ihrem Zusammenprall mit dem Giganten klaffte.

    »Auf einen Elfenheiler kann ich wohl nicht zählen.« Mit Wehmut erinnerte er sich an Elanyas Hände, die sich so oft lindernd auf seine Wunden gelegt und sie auf magische Weise geschlossen hatten. Ohne Elanya fühlte er sich den Elfen fremder denn je. Sie hätte ihm erklärt, was hier vorging, und bei Peredin ein gutes Wort für die Flüchtlinge einlegt. Nein. Wenn sie noch leben würde, hätte ich niemals den Ozean überquert. Es hätte ihm vieles erspart. Auch Vindur wäre dann noch bei ihnen. Am liebsten hätte er den Gedanken in einem Krug Zwergenbier ertränkt.

    »Ich werde es nähen«, beschloss Akkamas. »So kann ein Kaysar nicht vor den Hohen Rat Anvalons treten.«

    »Wohl wahr.« Athanor fand einen Eimer sauberes Wasser, wusch das Blut ab und biss anschließend auf das Heft seines Messers, während Akkamas mit Nadel und Faden hantierte.

    »Was ist mit deinen Wunden?«, fragte er dann.

    »Sind an Stellen, die dieser Körper gar nicht besitzt«, erwiderte Akkamas verschmitzt. »Oder hat er neuerdings Flügel?« In gespielter Neugier lugte er über die eigene Schulter.

    »Du bist gegen diesen wandelnden Felsen gekracht«, rief ihm Athanor ins Gedächtnis.

    Akkamas zuckte mit den Schultern. »Ein paar Prellungen. Nichts Ernstes.«

    Vor dem Eingang der Küche ertönte ein dumpfer Schlag, der den Most in Athanors Becher zittern ließ. Akkamas sprang auf, während Athanor nach dem Schwert griff.

    »Kann mir hier jemand ein Pferd braten?«, grollte Orkzahn von draußen. »Das rohe Zeug bekommt mir nicht mehr so wie früher«, erklärte der Troll, als Athanor zur Tür kam. Vor der Schwelle lag ein ausgeweideter Pferdekadaver.

    »Das hast hoffentlich nicht du auf dem Gewissen.« Athanor hatte wenig Lust, einen Streit um ein totes Pferd zu schlichten.

    »Ich schwöre bei allen Geistern! Es lag herrenlos bei dem toten Ahnen herum.«

    Athanor grinste. »Vermutlich sollte ich froh sein, dass du keinen herumliegenden Elf aufgesammelt hast.«

    »Ich würde Euch das Tier rösten, werter Troll, aber leider ist mir das Feuer ausgegangen«, bedauerte Akkamas.

    »Das Herdfeuer ist zu klein für einen solchen Braten«, stellte Athanor fest. »Kann dein Hunger bis morgen warten?«

    Orkzahn nickte. »Ich hatte im Wald schon was.«

    »Dann ruhen wir uns jetzt aus«, beschloss Athanor. »Morgen gilt es, einiges anzupacken.« Müde bedeutete er Akkamas, ihm zu folgen. Da sie niemand aufhielt, führte er seinen Freund zu den Gästeräumen und legte sich dort schlafen. Der kommende Tag hielt genügend Aufgaben bereit. Er würde Peredin um freies Geleit für die Dionier bitten müssen, was selbst der Erhabene wohl nicht ohne Zustimmung des Hohen Rats gewähren durfte. Außerdem wollte dieser zwielichtige Alte namens Omeon über ein Bündnis mit ihm sprechen, und Orkzahn hielt den Kerl offenbar nicht nur für heimtückisch, sondern auch für brandgefährlich. Warum war der Troll überhaupt nach Anvalon gekommen, obwohl er die Herrschaft der Elfen gerade erst abgestreift hatte? Sein Freund hatte damit Kopf und Kragen riskiert. Zumindest den Kopf, schränkte Athanor belustigt ein, denn Trolle trugen nichts als ein gegerbtes Fell um die Hüften. Doch das Schmunzeln verging ihm, als ihm die wichtigste Aufgabe einfiel. Er musste die Elfen auf einen Kampf gegen den Dunklen einschwören.

    * * *

    Plötzlich setzte sich die Kemethoë in Bewegung. Laurion spürte, wie ihn der Widerstand des Wassers zurückhielt, während der Schiffsrumpf vorwärtsglitt. Von einem Augenblick auf den nächsten heulte Wind in seinen Ohren. Immer schwerer hing er an den Händen, die sich verzweifelt bemühten, ihn an Bord zu hieven.

    »Zieh!« Nemera klang flehend und angestrengt zugleich.

    Laurion sah, dass sie gemeinsam mit Otreus an ihm zerrte, als ob sie mit dem Fluss rang, der ihn als Opfer verlangte. Immer schneller rauschte die Kemethoë durchs Wasser. Vergeblich strampelte Laurion gegen den Sog an. Seine Schulter war wie ein Klumpen, in den Feuerspeere stachen.

    »Lasst mich ran, Herrin!« Neben Nemera tauchte Emmos’ entschlossene Miene auf. Er mochte schmal sein, aber er konnte volle Netze an Bord ziehen. »Auf drei!«, rief er in das Pfeifen des Winds. »Eins, zwei …!«

    Mit einem Ruck wurde Laurion angehoben und über die harte Kante der Bordwand gezerrt. Irgendjemand schrie auf, irgendwo ertönte ein Knall, doch Laurion sah in der Dunkelheit nur Füße und Stiefel. Wie eine nasse Strohpuppe sank er auf die Planken.

    »Sie schießen auf uns!«, kreischte Emmos’ Frau.

    »Mentes ist tot!«, gellte es auf der Kaysas Segen.

    »Runter!«, brüllte Otreus. »Köpfe unter die Bänke! Eine Schulter zum Feind!«

    Um Laurion herum scharrte und polterte es. Seine Gefährten warfen sich zu ihm auf den Boden. Wo war die nächste Bank? Weit konnte sie nicht sein. Laurion schob seinen benommenen Schädel darunter und fand sich Nase an Nase mit Rhea wieder, nur dass ihr Gesicht auf dem Kopf stand.

    »Können wir uns unsichtbar machen?«, flüsterte sie.

    »Dafür ist es zu spät. Sie haben uns schon gesehen.«

    Wieder verriet ein Knall einen einschlagenden Pfeil, dann ein zweiter. Jemand stöhnte. Taue und Holz knarrten unter Mahanaels magischem Wind.

    »Ich hab ja gleich gesagt, dass es ’ne Falle ist«, murrte Djefer.

    »Pass lieber auf, dass dich kein Pfeil erwischt!«, mahnte Otreus.

    Laurion lauschte dem Rauschen des Wassers und dem heulenden Wind. Die Kemethoë fuhr so schnell … Konnten sie den Pfeilen nicht entkommen? Wie zur Antwort schlug wieder ein Geschoss in das Schiff. Als er versuchte, sich noch weiter unter die Bank zu schieben, bereitete sengender Schmerz dem ein jähes Ende. Er spürte, wie sich die Pfeilspitze in seinem Körper bewegte. Um Rhea nicht zu erschrecken, unterdrückte er einen Schrei und ignorierte ihre großen fragenden Augen.

    »Wir hängen sie ab!«, jubelte jemand auf der Kaysas Segen.

    »Wie kann das sein?«, wunderte sich Otreus. »Haben diese Dreckskerle etwa keine Zauberkräfte?«

    Gute Frage. Was hatte Mahanael über die verschiedenen Völker der Elfen erzählt? Die Abkömmlinge Ameas beherrschten nur die Wassermagie, nicht das Luftelement. Sie konnten deshalb weder auf magische Art Pfeile lenken, noch Wind beschwören, während Mahanaels Volk aus Bastarden bestand, die sich oft auf beide Elemente verstanden. Kaum zu glauben, dass die anderen dennoch auf sie herabsahen. Sie vereinigten enorme Fähigkeiten in sich. Vielleicht verachtete man sie aus Neid umso mehr.

    »Ist es wirklich sicher? Können wir rauskommen?«, fragte Nemera.

    »Wie soll ich das in dieser Finsternis sehen?«, beschwerte sich Djefer.

    »Wenn wir noch in ihrer Reichweite wären, hätten sie nicht aufgehört zu schießen«, schätzte Otreus.

    Laurion war es gleich. Er hatte nicht vor, sich zu bewegen. Jede Regung bedeutete Schmerz. Je mehr die Anspannung von ihm abfiel, desto schwerer wurden seine Lider. Rheas Gesicht vor seiner Nase verschwand. Er hörte Kleidung rascheln und Sohlen schaben.

    »Gütige Urmutter!«, entfuhr es Emmos’ Frau. »Du bist getroffen!«

    Schmeichelhaft, dass sie das so berührt, dachte Laurion schläfrig.

    »Ist zum Glück nur der Arm«, sagte Emmos. »Ohne Otreus’ Rat hätte mich der Pfeil vielleicht ins Herz getroffen.«

    »Auch ’n blinder Fischer fängt mal ’nen Thun«, höhnte Djefer. »Uns schützt die Urmutter, sonst wären wir jetzt hin.«

    Dankt mir nur nicht alle auf einmal … Aber woher sollten sie wissen, dass Mahanael nur seinetwegen rechtzeitig zur Stelle gewesen war?

    Jemand kniete sich neben Laurion und spähte unter die Bank. »Der Göttin sei Dank! Du bist am Leben«, freute sich Nemera. »Für einen Moment habe ich das Schlimmste gefürchtet.«

    »Ich auch«, seufzte Laurion. In der Dunkelheit glaubte er ein Lächeln zu erkennen.

    »Da steckt ein Pfeil in seinem Rücken«, stellte Rhea fest. »Muss er jetzt sterben?«

    »Nein, aber wir müssen seine Wunde versorgen. Nur geht das auf dem fahrenden Schiff nicht so leicht.«

    »Wenn ich Euch einen Rat geben darf, Herrin, dann lasst den Pfeil stecken«, mischte sich Otreus ein. »Jedenfalls bis wir in Sicherheit sind.«

    Und wann soll das sein?, wollte Laurion fragen, doch die Stimme zu heben, kam ihm zu anstrengend vor. Die Aussicht darauf, dass jemand den Pfeil herausriss, war nicht verlockend. Er wollte nur hier liegen und irgendwann aus diesem Albtraum erwachen. Nemera strich ihm über Haar und Nacken. Vielleicht war der Traum doch nicht so schlecht.

    »Wir können nur auf Mahanael vertrauen und beten.« Vorsichtig nahm sie seine Hand. Ihre Finger waren von Sonne und Seewasser rau, aber seine waren es auch. Fast schien ihm der Moment zu kostbar, um darüber einzunicken, doch sein Körper fragte nicht danach. Bevor er einschlief, streifte ihn ein letzter Gedanke. Der magische Wind in ihrem Segel würde nicht ewig andauern. Was dann?

    * * *

    Entsetzt spürte Leones Danaels Hand erschlaffen. Wenn sie ihm entglitt, würde sein Kamerad in die Tiefe stürzen. Hastig packte er fester zu. Der harte Griff ließ Danael die Augen aufreißen. Schon seit einer Weile drohte er vor Entkräftung ohnmächtig zu werden, doch sie hatten bereits zu viel Zeit verloren, um ein zweites Mal zu landen. Zum Glück zeichneten sich die Türme Nehoras bereits vor ihnen gegen den Nachthimmel ab.

    »Wir sind gleich da«, versicherte Leones. »Hältst du noch durch?«

    Danael richtete den müden Blick auf die Festung. In der Dunkelheit lauerte sie auf dem Hügel wie ein zum Sprung geduckter Greif. Menschen und Elfen hatten sie einst gemeinsam errichtet, auf der steilsten Erhebung eines Höhenzugs, der die Elfenlande von den Sümpfen des Fallenden Flusses trennte.

    »Ich versuch’s«, flüsterte Danael. Der Schwerelosigkeitszauber kostete ihn zu viel Magie. Obwohl Sturmlöwes nachlassende Kräfte sie gezwungen hatten, tagsüber zu rasten, war der Sohn Heras am Ende.

    Leones wünschte, er hätte sich ebenfalls leicht machen können. Greife hassten Nachtflüge. Mit der Sonne schwanden die warmen Aufwinde, auf denen sie tagsüber segelten. Er konnte spüren, wie sehr sich Sturmlöwe anstrengte, um sie alle drei am Himmel zu halten – auch wenn Danael wie eine Fahne hinter ihnen wehte. Wäre ihr Anhängsel nicht gewesen, hätte er sich wenigstens flach hinlegen können, um den Greif möglichst wenig zu stören. Doch dann hätte Danael vor Sturmlöwes Brust herabhängen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1