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Anna-Maria und die anderen 99 Schafe: Ein Gemeinde-Roman
Anna-Maria und die anderen 99 Schafe: Ein Gemeinde-Roman
Anna-Maria und die anderen 99 Schafe: Ein Gemeinde-Roman
eBook379 Seiten4 Stunden

Anna-Maria und die anderen 99 Schafe: Ein Gemeinde-Roman

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Über dieses E-Book

Ein Roman mit viel Humor und großem Ernst, der einen nachdenklichen Blick auf das Miteinander in christlichen Gemeinden wirft.
Als Gemeindeseniorin Agnes nach einer (wieder einmal todlangweiligen) Predigt tot vom Stuhl kippt, löst dies einen Sturm in der kleinen, verstaubten Kirche aus, die der Single Jan seine Heimat nennt. Denn zur Beerdigung taucht Agnes' Enkelin Anna-Maria auf, seine Sandkastenfreundin, die vor über 20 Jahren urplötzlich die Stadt verlassen hatte, als sie mit Horst auf dem Motorroller durchgebrannt ist. Ihr Auftauchen bringt ein dunkles, längst verdrängtes Kapitel der Gemeinde wieder ans Tageslicht - und neuen Schwung in Jans Hauskreis, der die Jugend von 17 bis 68 Jahren versammelt (und im Übrigen der einzige weit und breit ist).
Der Hauskreis beschließt, die Gemeinde zu verändern, was direkt zum offenen Konflikt mit der Gemeindeleitung führt. Jan und seine Freunde müssen bald schon feststellen, dass es hierfür keine einfachen Rezepte gibt. Doch sie wissen: Aufgeben wollen sie nicht - denn es ist ihr Zuhause, und das soll endlich einladend werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberSCM R.Brockhaus
Erscheinungsdatum12. Juli 2017
ISBN9783417268317
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    Buchvorschau

    Anna-Maria und die anderen 99 Schafe - Daniel Deutsch

    Daniel Deutsch – Anna-Maria und die anderen 99 Schafe – Ein Gemeinde-Roman – SCM R.BrockhausSCM | Stiftung Christliche Medien

    Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

    ISBN 978-3-417-26831-7 (E-Book)

    ISBN 978-3-417-26824-9 (lieferbare Buchausgabe)

    Datenkonvertierung E-Book:

    CPI books, Leck

    © der deutschen Ausgabe 2017

    SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Bodenborn 43 · 58452 Witten

    Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

    Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

    Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

    Text auf S. 280/281 aus: Daniel Deutsch, »Sicher« © 2008 Daniel Deutsch

    Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

    Titelbild: Matthias Holländer, Bonn, www.derholle.de

    Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Über den Autor

    Daniel Deutsch, Jahrgang 1980, studierte Germanistik und Kulturwissenschaft, arbeitete viele Jahre als Lobpreisleiter und Gottesdienstplaner und lebt heute in Bremen und Stuttgart als Singer-Songwriter, Lektor und Autor. Die Idee zu seinem Debütroman hatte er bereits mit 17 Jahren. www.danieldeutsch.de

    Inhaltsverzeichnis

    Über den Autor

    Teil 1: GLAUBE

    Kapitel 1 – Sonntag, 7. Dezember 1997

    Kapitel 2 – Sonntag, 7. Dezember 1997

    Kapitel 3 – Sonntag, 7. Dezember 1997

    Kapitel 4 – Donnerstag, 11. Dezember 1997

    Kapitel 5 – Donnerstag, 11. Dezember 1997

    Kapitel 6 – Freitag, 12. Dezember 1997

    Kapitel 7 – Sonntag, 14. Dezember 1997

    Kapitel 8 – Sonntag, 14. Dezember 1997

    Kapitel 9 – Mittwoch, 17. Dezember 1997

    Kapitel 10 – Donnerstag, 18. Dezember 1997

    Kapitel 11 – Donnerstag, 18. Dezember 1997

    Kapitel 12 – Donnerstag, 18. Dezember 1997

    Kapitel 13 – Freitag, 19. Dezember 1997

    Kapitel 14 – Samstag, 20. Dezember 1997

    Kapitel 15 – Mittwoch, 24. Dezember 1997

    Kapitel 16 – Mittwoch, 31. Dezember 1997

    Teil 2: HOFFNUNG

    Kapitel 17 – Donnerstag, Neujahr 1998

    Kapitel 18 – Donnerstag, Neujahr 1998

    Kapitel 19 – Freitag, 2. Januar 1998

    Kapitel 20 – Freitag, 2. Januar 1998

    Kapitel 21 – Mittwoch, 7. Januar 1998

    Kapitel 22 – Montag, 12. Januar 1998

    Kapitel 23 – Dienstag, 13. Januar 1998

    Kapitel 24 – Dienstag, 13. Januar 1998

    Kapitel 25 – Donnerstag, 15. Januar 1998

    Kapitel 26 – Sonntag, 18. Januar 1998

    Teil 3: LIEBE

    Kapitel 27 – Samstag, 14. Februar 1998

    Kapitel 28 – Samstag, 20. März 1998

    Kapitel 29 – Mittwoch, 25. März 1998

    Kapitel 30 – Samstag, 28. März 1998

    Kapitel 31 – Donnerstag, 2. April 1998

    Kapitel 32 – Sonntag, 5. April 1998

    Kapitel 33 – Mittwoch, 8. April 1998

    Kapitel 34 – Sonntag, 8. April 1998

    Kapitel 35 – Samstag, 9. Mai 1998

    Teil 4: ABER DIE LIEBE IST DIE GRÖSSTE UNTER IHNEN

    Kapitel 36 – Montag, 15. Juni 1998

    Kapitel 37 – Samstag, 20. Juni 1998

    Kapitel 38 – Mittwoch, 24. Juni 1998

    Kapitel 39 – Mittwoch, 24. Juni 1998

    Kapitel 40 – Samstag, 27. Juni 1998

    Kapitel 41 – Samstag, 4. Juli 1998

    Kapitel 42 – Mittwoch, 12. August 1998

    Kapitel 43 – Dienstag, 18. August 1998

    Kapitel 44 – Dienstag, 18. August 1998

    Kapitel 45 – Dienstag, 23. August 1998

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Teil 1: GLAUBE

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    1

    Sonntag, 7. Dezember 1997

    Es war schon nach Mitternacht, als es klingelte.

    Hatte er das eben geträumt?

    Doch da klingelte es wieder, diesmal etwas länger.

    Er warf sich in seinen Morgenmantel und schlurfte über die alten Dielen langsam zu seiner Wohnungstür.

    Es klingelte noch ein drittes Mal. Wahrscheinlich wieder irgendwelche Betrunkenen von drüben aus dem Ratskeller. Er ließ es drauf ankommen, räusperte sich mehrmals und nahm den Hörer von der Sprechanlage in die Hand. »Hallo?«

    »Ach, Gott sei Dank! Hallo, Herr Weber. Hier ist Katja … Barloschky.«

    Er kratzte sich am Kopf. Beinahe wäre er wieder eingeschlafen, mit dem Vorderkopf an der Wand.

    »… Ihre Nachbarin!«

    Plötzlich war er hellwach. Katja Barloschky! Tagtraum seiner endlos scheinenden Stunden in der Buchhandlung, Göttin der Morgenröte, Lehrerin der Herzen, Lieblingsmieterin (und im Übrigen auch seine einzige). Sie war vor einigen Monaten in die Wohnung über ihm eingezogen, und noch nie hatte er sich so sehr über den Türspion in seiner Wohnungstür gefreut wie seit jenem Tag. Sie allmorgendlich engelsgleich die Treppe herunterkommen zu sehen, dafür legte er sogar – sobald er ihre Wohnungstür oben ins Schloss fallen hörte – seine heiß geliebte Zeitungslektüre weg und schlich vom Frühstückstisch zum Spion.

    »Herr Weber? Sind Sie noch da?«

    »Äh, ja, Entschuldigung.«

    »Könnten Sie mir bitte aufmachen? Ich habe mich ausgesperrt. Meine Schlüssel liegen oben in meiner Wohnung.«

    »Ja, natürlich.« Er drückte auf den Summer – und geriet sofort in Panik, denn nun wurde ihm klar, dass er ihr mitten in der Nacht in diesem Aufzug gegenübertreten musste, um ihr den Nachschlüssel zu überreichen. Während er die Schritte auf der alten Holztreppe näher kommen hörte, schloss er vor dem Spiegel noch fein säuberlich seinen Morgenmantel und brachte seine Haare in Ordnung. Automatisch lugte er durch den Türspion, bis ihm plötzlich klar wurde, dass er ja heute einen Schritt weitergehen musste.

    »Hallo, Herr Weber!« Dieser umwerfende Augenaufschlag, mit dem sie sich für die nächtliche Ruhestörung entschuldigte! Und dann ihr blondes, schulterlanges Haar, in dem ein paar Schneeflocken hängen geblieben waren, ebenso wie auch auf ihrem Mantel, der wirkte, als sei er ihr auf den Leib geschneidert worden …

    Seine Knie wurden weich. Er kam sich plötzlich ziemlich schäbig vor in seinem Aufzug – und hielt sich sicherheitshalber am Türrahmen fest. »Frau Barloschky, was machen Sie denn hier? Nikolaus war doch bereits gestern.« Er freute sich, dass er damit über seine Unsicherheit hinwegtäuschen und sie zum Lächeln bringen konnte.

    »Es tut mir sehr leid, dass ich Sie geweckt habe. Das ist mir wirklich sehr unangenehm, aber ich komme gerade von der Weihnachtsfeier mit dem Kollegium und, na ja, habe erst jetzt gemerkt, dass ich mich ausgeschlossen habe. Sie sagten mal, Sie hätten noch einen Nachschlüssel, weil Sie neulich auch die Handwerker …?«

    »Ja, natürlich.« Er griff in den Schlüsselkasten neben der Haustür und gab ihn ihr, wobei sich ihre Hände kurz berührten, was auch sie offenbar kurzzeitig aus der Fassung brachte.

    Nach einer etwas zu langen Pause sagte sie: »Vielen herzlichen Dank! Sie haben mich vor einer eiskalten Nacht im Auto gerettet.« Sie ließ noch mal ihren Augenaufschlag vom Stapel, der seine Wirkung nicht verfehlte.

    »Oder vor einer sehr teuren im Hotel. – Keine Ursache!«

    Katja B. hatte sich schon halb zur Treppe umgewandt, da drehte sie sich um und sagte plötzlich: »Darf ich Sie als Entschuldigung zum Frühstück einladen?«

    Diese Einladung traf ihn wie ein Blitz. Was für ein Traum! Sie und er, zusammen an einem Tisch …

    Doch gleich darauf folgte die Ernüchterung. »Ähm …« Plötzlich war seine Unsicherheit wieder da. »Tut mir leid«, sagte er, während er an seiner Brille herumnestelte. »Ich habe eine …«, – er rang um ein passendes Wort – »Vereinssitzung, ja. Wir treffen uns immer sonntags.«

    »Ah, ach so, schade. Was ist das denn für ein Verein? Sagen Sie bloß, Sie sind im örtlichen Schützenverein? Ein paar meiner Schüler sind dort auch aktiv, vielleicht kennen Sie sie.«

    »Nein, nein.« Er lachte, leicht hysterisch vielleicht sogar, denn ihm wurde sichtlich unwohler. »Es ist eher eine Veranstaltung zum Sitzen, in die ich gehe. Weniger zum Schießen.«

    »Zum Sitzen? Schach?«

    Er schüttelte den Kopf.

    Er bemerkte, wie ihr Blick auf den Segensspruch an der Wand hinter ihm fiel, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Ach so! Sie gehen zum Gottesdienst. Warum sagen Sie das denn nicht gleich!«

    Er kratzte sich am Kopf. »Wenn man so will, ja.«

    »Das ist aber interessant! Ich finde das immer sehr spannend. Ich hatte schon überlegt, hier in Rhiemberg auch mal eine Kirche zu besuchen.« Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. Offenbar erwartete sie eine Reaktion von ihm, doch er nestelte nur an seiner Brille herum und schaute in seinen dunklen Flur, so als habe er seinen Text vergessen und halte Ausschau nach dem Souffleur.

    »Vielleicht nehmen Sie mich ja mal mit?« Ihre Augen waren wie die eines kleinen Mädchens auf ihn gerichtet, doch er sah nur auf den Boden und musste schlucken.

    »Ist Ihnen nicht gut?«

    »Ich … äh, glaube, das ist keine so gute Idee. Das mit dem Mitkommen, meine ich«, fügte er noch murmelnd hinzu.

    Und als sie nichts erwiderte, blickte er auf und sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht, die sie durch ein tapferes Lächeln zu kaschieren versuchte. Und schon hatte sie sich wieder halb weggedreht. »Ich sollte mich jetzt besser wieder hinlegen.«

    So traurig hatte er sie noch nie gesehen. »Okay, dann danke noch mal für den Schlüssel.« Sie hielt ihn lustlos in die Luft und presste ihre Lippen aufeinander. »Ich lege Ihnen den dann morgen früh hier vor ihre Tür. Gute Nacht.« Und damit war sie auch schon auf der Treppe.

    »Gute Nacht.« Er schloss die Tür. Und lehnte sich erschöpft dagegen.

    Was für ein Riesenhornochse er doch war. Aber in diese Gemeinde, da konnte er wirklich niemanden mitnehmen.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    2

    Sonntag, 7. Dezember 1997

    Um diese Zeit war auf dem Uhlandplatz noch weniger los als sonst. Daran konnten auch die wenigen Gottesdienstbesucher nichts ändern, zumeist graue Gestalten, die für gewöhnlich schnell im Gemeindegebäude verschwanden.

    Heute aber wurden sie von zwei 17-Jährigen daran gehindert. Einer von ihnen hatte ein Mikrofon in der Hand, der andere eine Videokamera. Im Moment warteten sie noch auf die nächsten Besucher, und so nutzte der Junge mit der Videokamera die Zeit für ein paar Großaufnahmen des Platzes, an dessen einem Ende das Rhiemberger Stadttheater lag.

    Die Kamera fing den Eingangsbereich mit den weißen Säulen ein, zwischen dessen Türen Schwarz-Weiß-Bilder der aktuellen Inszenierungen zu sehen waren, und schwenkte dann über den Platz mit den stattlichen Wohnhäusern aus dem 19. Jahrhundert, die sich auf der einen Seite nahezu lückenlos aneinanderreihten. In der Mitte lag eine Grünfläche mit einem Teich, um den Wege, Parkbänke und alter Baumbestand gruppiert waren. Nun, da der Platz wie mit Puderzucker bestäubt war, wirkte alles wie auf einer Postkarte. Das Eis auf dem Teich war von den Anwohnern wieder aufgehackt worden. Darin schnatterten ein paar Enten herum, denen ein kleines Mädchen Brotkrumen zuwarf.

    »Erik!«

    Erik schaute von der Kamera auf und zu Simon herüber. »Was ist?«

    »Du solltest nur einen kurzen Schwenk über den Platz machen und keinen Naturfilm!«

    »Ich dachte, es passt so gut zur Atmosphäre …«

    »Wir haben schon genug Atmo im Kasten. Also los jetzt!«

    »Soll ich noch mal von vorne anfangen?«

    »Nein, wir schneiden das später raus. Film einfach weiter!«

    Erik tat, wie ihm geheißen, und drehte sich mit der Kamera herüber auf die nicht so schöne Seite des Platzes, zum Gemeindehaus, einem wenig einladenden Bau aus den Fünfzigern, mit einer gräulichen Fassadenfarbe aus den Siebzigerjahren, die nun langsam abblätterte. Hinter den Fenstern im Erdgeschoss waren abschreckende grobmaschige Gardinen zu sehen, und neben dem Eingang hing ein Schaukasten mit einer Magnettafel, auf der die Termine standen. Allerdings waren einige der Magnetbuchstaben heruntergefallen, sodass es jetzt hieß:

    Gotte dien t onntag 9.3 Uhr

    Daneben hing ein ausgeblichenes Plakat aus den Siebzigern, irgendwas mit Ähren, einem Kornfeld und einem Bibelvers, den man nur noch erraten konnte, da die Schrift fast verblichen war und sich das Plakat an den Ecken schon einrollte.

    Erik fokussierte auf Simon, den jungen Mann mit dem Mikrofon, dunkelblonden Haaren und einem schwarzen Dufflecoat. Betont ernst sprach Simon ins Mikrofon: »Die Gemeinde am Uhlandplatz, am Ende des 20. Jahrhunderts. Was sich hinter diesen Mauern abspielt, lässt sich nur schwer erahnen. Ist es lediglich der Treffpunkt eines kleinen religiösen Zirkels? Oder womöglich einer Sekte? Was verbirgt sich hinter dem heiligen Schein? Wir wollen es genauer wissen und fragen nach.«

    In diesem Moment kam Agnes Wagenknecht, eine 85-jährige Dame mit Faltenrock und grauem Dutt, auf ihrem alten Fahrrad angefahren. Der Arzt hatte ihr eigentlich verboten, mit ihrem schwachen Herzen noch so sportlich unterwegs zu sein, gerade bei dem Schnee und der Glätte, aber sie ließ es sich nicht nehmen. Man kannte sie auch gar nicht anders.

    Simon näherte sich ihr vorsichtig mit dem Mikrofon: »Hallo, Tante Agnes, darf ich dich mal was fragen?«

    »Nun lass mich erst mal mein Rad abschließen, Simon.«

    »Wir machen eine kleine Umfrage für ein Video, und ich wollte dich fragen, warum du eigentlich jeden Sonntag zum Gottesdienst kommst …«

    Sie blickte irritiert auf und entdeckte Erik mit der Kamera. »Video? Fernsehen ist nichts für uns, das hab ich euch schon oft genug gesagt. Ihr solltet lieber mal mehr in der Bibel lesen.« Damit nahm sie ihre fleischfarbene Handtasche aus dem Fahrradkorb und begab sich ins Gemeindehaus, wo sie etwas aus ihrem Fach herausholte. Erik filmte ihr noch eine Weile hinterher, während Simon nur mit den Schultern zuckte. »Bibel? Ist das nicht dieses Atomkraftwerk?«

    Als Nächstes kamen Katrin Jacobsen, Simons Mutter, und seine Oma Berta aus dem Auto. Oma Berta grantelte mal wieder vor sich hin, weil Katrin offenbar zu weit weg vom Bürgersteig geparkt hatte und Oma Berta beim Aussteigen in einen kleinen Schneehaufen hatte treten müssen. Nun hatte sie sich aber bei ihr eingehakt, wobei sich aufgrund von Bertas Leibesfülle schon die Frage stellte, wer hier wem Geleit gab.

    Simon stellte sich ihnen in den Weg, direkt vor den Eingang des Gemeindehauses. »Hallo, ihr beiden. Erik und ich machen eine Umfrage. Warum geht ihr denn in den Gottesdienst?« Und damit hielt er das Mikro unter die Nase seiner Mutter, deren bleiches Gesicht nur noch bleicher wurde.

    »Also Simon, was soll das denn nun schon wieder? Macht ihr das für die Schule?«

    Oma Berta, die mit einem grünen Mantel, Wanderstock und Jägerhütchen eher für einen zünftigen Waldspaziergang als für einen Gottesdienst gerüstet zu sein schien, war auf einmal voll in Fahrt. Sie nahm ihrem Enkel beherzt das Mikrofon aus der Hand und sprach so laut hinein, als wenn sie es mit einem Schwerhörigen zu tun hätte: »Mein Junge, ich will dir jetzt mal was sagen! Dein Großvater, der Opa, mein verstorbener Mann, der Kurt, ja Kurt hieß er, genau wie dein Papa …« Es klang, als ginge es um fünf verschiedene Personen.

    »Ich weiß, Oma!«

    »… der hat diese Gemeinde hier gegründet und dieses Haus mit seinen eigenen Händen mit aufgebaut, damals noch mit dem Werners Jürgen und diesem, diesem, wie hieß der doch noch … Katrin, sag mal schnell!«

    »Werner Schneider.«

    »… und dem Schneiders Werner … Also dein Opa, der hat hier mit den Stunden angefangen, und das ist bis heute so geblieben!« Berta hatte sich so in dieses Thema hineingesteigert, dass sie sich etwas Spucke vom Mund abwischen musste. Sie legte eine kurze Pause ein, die Simon geschickt nutzte.

    »Ja, Oma, das ist ja auch schön, aber warum gehst du denn immer jeden Sonntag hier hin?«

    »Na, das weißt du doch, mein Junge! Wir treffen uns hier immer zur Unterweisung unter dem Wort! Das ist doch für einen Christenmenschen das A und O! Die Schrift! Also wenn ihr junges Gemüse euch besser aufs Abitur vorbereiten würdet, dann hättet ihr auch nicht so viel Flusen im Kopf, so wie mit diesem neumodischen Krams da, diesem …« Mit einer abfälligen Handbewegung zeigte sie auf Erik und die ihr offenbar sehr suspekte Kamera.

    »Flausen, Mutter, das heißt Flausen, nicht Flusen«, sagte Katrin nahezu im Flüsterton. Es war nicht das erste Mal, dass die Familie für eines von Simons Videos herhalten musste.

    Simon wollte zu einer neuen Frage ansetzen, doch Katrin meinte: »Du weißt doch, dass Oma sich nicht so lange auf den Beinen halten kann. Frag bitte jemand anderen, und dann komm rein, der Gottesdienst fängt gleich an. Du holst dir ja noch den Tod hier draußen.« Dabei ließ sie die Oma kurz los, die sich daraufhin ganz verwirrt auf ihren Wanderstock stützte und Katrin dabei zusah, wie diese Simon seinen Mantel zuknöpfte

    »Ja, ja, ist ja schon gut, Mama!« Er wurde rot und sah, wie Erik das alles aufnahm und ein Grinsen nicht verbergen konnte. »Das schneiden wir später natürlich alles raus«, fügte Simon hastig zu.

    Auch Jan hatte nun den Uhlandplatz erreicht. Er hatte es nicht weit, denn die Gemeinde lag nur wenige Gehminuten vom Marktplatz entfernt. Wie jeden Sonntag schlenderte er mit den Händen in den Manteltaschen zur Gemeinde, dieses Mal jedoch nicht mit der Frage beschäftigt, welche Bücher er nun morgen ins Schaufenster stellen sollte, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln. Vielmehr fragte er sich, wie er nur so selten dämlich sein konnte, der schönen Katja B. einen Korb zu geben. Nur wegen dieser Gemeinde. War der kleine Haufen es wirklich wert, dafür ein Rendezvous sausen zu lassen? Das Problem war nur: Würde er seine schöne Mieterin hierher mitnehmen, würde sie ihn eben genau wegen dieses kleinen Haufens sausen lassen. Er hatte noch keinen Menschen erlebt, der nach einem erstmaligen Besuch der Gemeinde wiedergekommen wäre. Katja B. hätte ihn als weltfremden Sektierer abgestempelt und ihn als bedauernswerte Person vor ihren Freundinnen dargestellt – Frühstückseinladungen und weitere Verabredungen wären in weite Ferne gerückt. Diese Gemeinde war ein Liebestöter, ebenso wie Mundgeruch oder ein Damenbart. Jan überlegte, ob es vielleicht einen literarischen Helden gab, der schon einmal in einem ähnlichen Dilemma gesteckt hätte. Ihm fiel keiner ein. Ein Kanarienvogel in einem Käfig hatte wahrscheinlich ein spannenderes Leben als er.

    Als er die Jungen sah, schob er diese Gedanken schnell beiseite. »Ach, schau mal einer an, Simone und Erika!« Er wusste, dass die beiden diese Bezeichnung hassten, und gebrauchte sie deswegen umso lieber. »Macht ihr wieder eines von euren Filmchen?«

    »Nein«, sagte Simon. »Das wird ein kleines Tatsachenvideo über unsere Gemeinde.«

    »Investigativer Journalismus, sozusagen«, meinte Erik.

    »So so, und wer soll sich das dann anschauen? Die Video-AG?«

    »Nein, das ist für unsere kleine Weihnachtsfeier im Hauskreis.«

    Jan grinste. »Du meinst, falls wir uns gar nichts mehr zu sagen haben, können wir ja immer noch ein Video einschieben.«

    Simon überlegte kurz, dann sagte er: »Ja genau. Und deswegen würden wir dich auch gern noch interviewen. Erik, schmeiß mal die Kamera wieder an, mit einer schönen Großaufnahme auf Jan.«

    »Na, wenn ihr meint …« Jan konnte nicht so recht einschätzen, auf was er sich da eingelassen hatte, aber das wusste man bei den beiden sowieso nie so genau. Skeptisch hörte er sich Simons Frage an.

    »Nun sag mal, Jan, warum kommst du denn jeden Sonntag hierher?«

    Jan überlegte kurz, dann sagte er vollkommen ernsthaft, immer noch mit den Händen in den Manteltaschen: »Das ist eine reine Kundenbindungsmaßnahme. Hier in der Gemeinde sind einige meiner besten Abnehmer. Ich kann mir einfach nicht leisten, die zu verlieren. Gerade jetzt nicht im so wichtigen Vorweihnachtsgeschäft.« Und damit war er auch schon im Gemeindehaus verschwunden.

    Simon ließ enttäuscht das Mikrofon sinken und schaute Erik an. »Ich glaube, die nehmen uns nicht ernst.«

    Jan hatte sich wie immer in die vorletzte Reihe gesetzt, neben Agnes, bei der er schon in der Kinderstunde gesessen hatte und die daher für ihn genauso wie für Simon und Erik immer nur »Tante Agnes« war. Mittlerweile war er es, der sich immer wieder um sie kümmerte, auch wenn ihn ihr Gejammer oft störte. Heute war sie zum Glück nicht so gesprächig, und er genoss die Ruhe vor dem Gottesdienst. Doch irgendetwas schien sie zu beschäftigen, während sie durch die ganze Zettelwirtschaft in ihrer Bibel kramte. »Diese Gemeinde bringt mich noch ins Grab«, murmelte sie vor sich hin.

    Jetzt kam die Leier schon wieder. »Sollen wir die Heizung wärmer drehen? Du weißt aber, dass wir eigentlich auf der letzten Gemeindeversammlung …«

    Sie schüttelte nur den Kopf, ohne von ihrer Bibel aufzublicken. »Sie macht mir das Leben schwer …«

    Weiter sprach sie nicht, und da begann glücklicherweise schon der Gottesdienst. Jan dachte sich seinen Teil. Agnes meinte mit »sie« entweder die Gemeinde, die Heizung, oder aber – und das war noch viel wahrscheinlicher – Frau Dügelsberger, die auf der anderen Seite des Ganges saß. Agnes zufolge hatte Frau Dügelsberger ihr »das Blumenamt« entrissen, während Frau Dügelsberger behauptet hatte, Agnes damit nur »entlasten« zu wollen. Sie habe dies überdies nur mit Agnes’ Zustimmung getan, woran diese sich aber nach eigener Aussage nicht erinnern konnte. Das Ganze war sogar ein Tagesordnungspunkt bei einer Gemeindeversammlung gewesen, die allerdings zu großen Teilen Frau Dügelsberger das Recht zugesprochen hatte, sich nun fortan um den Blumenschmuck für den Gottesdienst kümmern zu dürfen, da sie mit ihren 65 Jahren noch zur »jungen Generation« gehörte. Heute, da der Adventsschmuck so trocken aussah, als könnte er jeden Moment in Flammen aufgehen, kam wahrscheinlich alles wieder hoch. Martha, eine ebenfalls rüstige Rentnerin, die neben Agnes saß, tätschelte ihr nur tröstend den Arm und schaute dann nach vorn.

    Das leise Gemurmel im Gemeindesaal mit dem pflegeleichten, grauen PVC-Boden aus den Siebzigern und den grellen Neonröhren an den Decken (einige waren schon ausgefallen, eine andere flackerte bedenklich) verstummte langsam, als Kurt Jacobsen, ein etwas zu klein geratener Mann mit Knopfaugen und einem grauen Haarkranz, um Punkt 9 Uhr 30 (nachdem er drei Mal auf seine Funkuhr geschaut hatte) auf den Fußhocker (den er selbst für sich angefertigt hatte) hinter der Kanzel stieg und mit seinem durchdringenden Blick auch seinen Sohn und dessen besten Freund in der letzten Reihe zum Schweigen brachte. Der Raum war nur halb gefüllt. Etwa 20 Leute, die meisten davon schon jenseits der Berufswelt, saßen verstreut auf ihren Stammplätzen.

    Kurt schaute auf seine Papiere, räusperte sich und sagte: »Ich begrüße Sie alle zum heutigen Gottesdienst am 1. Advent. Ja … Weihnachten rückt näher und … äh … Es ist auch nur noch eine Woche bis zum zweiten Advent. Und dann ist ja auch bald schon Weihnachten. Ja …«

    Simon rollte mit den Augen.

    Kurt fuhr munter fort. »Lassen Sie uns zu Beginn das Lied unter der Nummer«, er raschelte wieder mit seinen Zetteln, »173 singen: Tochter Zion, freue dich!«

    Während die Gemeindeorganistin Elvira Hoppe-Schlenker, in deren zugesprayten und hochtoupierten Haaren eine ganze Vogelfamilie problemlos hätte nisten können, sich an die alte Wurlitzer-E-Orgel setzte, die links neben der Kanzel an der Wand stand, machte Kurt keine Anstalten, sich hinzusetzen. Vielmehr fing er (nach Elviras leicht dissonantem Vorspiel im Vibrato-Sound) mit voller Leibeskraft zu singen an, wobei ihm bei »ja-a-a-a-auch-ze laut, Je-ru-u-u-u-sa-lem!« auch schon wieder die Puste ausgegangen war und er nur noch einige gepresste Laute hervorbringen konnte.

    »Peinlich!«, meinte Simon zu Erik und versuchte sich hinter dem Liederbuch zu verstecken, damit er nicht länger den Anblick seines Vaters ertragen musste, der ihn momentan eher an ein quietschendes Meerschweinchen erinnerte. Die Gemeinde quälte sich ebenfalls durch das Lied, bis es endlich zu Ende war.

    Und bis der Gottesdienst endlich zu Ende war, verging eine weitere halbe Ewigkeit. Kurt hatte, seitdem er vor wenigen Jahren das Amt des Gemeindeleiters von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte, eigentlich alles, was er nicht gerade für »Frauenarbeit« hielt, an sich gerissen. Nicht nur, dass er nunmehr jeden Sonntag durch den Gottesdienst führte. Wo er schon mal dort oben stand, predigte er dann auch gleich noch, und zwar meistens über seine Lieblingsthemen »Die Rolle der Frau« (Kinder kriegen und dem Mann dienen), »ein reines Christenleben« (Tanzen ist Sünde) sowie über die erbaulichen Lieder aus der »guten, alten Zeit« (spätestens nach Manfred Siebald fing die böse, neue Zeit an).

    Als Jan sich später zu erinnern versuchte, worüber Kurt heute gepredigt hatte, fiel ihm nichts ein, denn er war mit seinen Gedanken an Katjas Frühstückstisch: Eine Kerze brennt, er köpft ein Ei, und Katja schenkt ihm heißen Kaffee mit noch heißeren Blicken ein. Die Vorstellung aber, sie hierher mitzunehmen, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Die Vorstellung, sich bei ihr jede Chance vertan zu haben, allerdings auch.

    Dass der Gottesdienst zu Ende war, merkte er erst, als nur noch Agnes und er auf ihren Stühlen saßen.

    Agnes hatte die Predigt von Kurt wohl auch nicht vom Hocker gehauen. Sie saß immer noch da, mit geschlossenen Augen, die Hände auf der Bibel. Jan stand auf und wusste nicht so recht, ob er sie aufwecken sollte.

    »Ist sie eingeschlafen?« fragte Martha, die mit ihrem Weidenkorb unter dem Arm noch einmal in den Saal schaute.

    »Ich weiß auch nicht«, sagte Jan, der sich seinen Mantel zuknöpfte, den er die ganze Zeit anbehalten hatte. »Tante Agnes? Der Gottesdienst ist zu Ende.« Er gab ihr einen kleinen Stups an die Schulter. Doch sie reagierte nicht. Ihr Körper kippte zur Seite. Kurts Predigt hatte sie dann wohl doch vom Hocker gehauen.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    3

    Sonntag, 7. Dezember 1997

    »Wir müssen Anna-Maria Bescheid geben.« Das war das Einzige, was Martha gesagt hatte, nachdem Agnes Wagenknechts Tod festgestellt und ihr Leichnam abgeholt worden war. Herzversagen, hatte der Arzt gesagt.

    Jan passte das ganz und gar nicht in den Kram. Er wollte eigentlich nur einen ruhigen Sonntag haben, musste sich ab morgen ja wieder um den Laden kümmern, dann war da diese Geschichte mit seiner Nachbarin, und jetzt auch noch das. Ausgerechnet in der geschäftsintensiven Adventszeit. Hätte Agnes nicht wenigstens einen Monat warten können? Er machte sich Sorgen über das, was jetzt noch alles organisiert werden musste.

    Insofern hatte Martha Recht. Anna-Maria musste informiert werden. Sie war Jans einzige Chance auf etwas Entlastung.

    Meine Güte, wie lange war das jetzt her? Das Letzte, was er von ihr gesehen hatte, war eine kleine Postkarte, die auf der Vorderseite eine Betonwüste zeigte: »Bin mit Horst in Hannover. Ich komme nicht mehr zurück. Schönes Leben noch. Anna-Maria«. Das war 1974. Daran musste Jan jetzt denken, als er vor dem Spiegel stand, mit dem Telefonhörer in der Hand. Da

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