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Das Schälen von Orangen
Das Schälen von Orangen
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eBook275 Seiten3 Stunden

Das Schälen von Orangen

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Über dieses E-Book

„Das Schälen von Orangen“ erzählt die Geschichte, wie der junge Ire Derek Foley, während er die Tagebücher seines verstorbenen Vaters und die Korrespondenzen seiner Mutter mit einem IRA-Mann durchstöbert, entdeckt, dass Patrick Foley, ein irischer Diplomat in Francos Spanien, nicht sein wirklicher Vater war. Dereks kränkelnde Mutter weigert sich, mit ihm über die Vergangenheit zu sprechen, und zwingt ihren Sohn auf eine Suche, die ihn in die Geschichte und die Bürgerkriege zweier Länder eintauchen lässt, indem sie ihn nach Spanien und später nach Nordirland bringt, bis er herausfindet, wer sein richtiger Vater war - mit tragischen Folgen. „Das Schälen von Orangen“ ist ein Roman voller persönlicher und politischer Intrigen, voller gegensätzlicher Ideologien, der die kaum vernarbten Wunden der beiden Nationen - Irland und Spanien - offenbart. Es ist zugleich die von der Kindheit bis zum Erwachsensein reichende, lyrisch geschriebene Liebesgeschichte zwischen dem unpolitischen Derek und der leidenschaftlichen Nationalistin Sinéad Ní Shúilleabháin.

SpracheDeutsch
HerausgeberBadPress
Erscheinungsdatum14. Apr. 2018
ISBN9781547521159
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    Buchvorschau

    Das Schälen von Orangen - James Lawless

    ‘Nadie ha visto jamás una naranja.’

    (‘Niemand hat jemals eine Orange gesehen.’)

    José Ortega y Gasset.

    In Gedenken an Kit und Nell

    I  Die Denkweise eines Waisenkindes

    Als Kind dachte ich, der Versicherungsmann wäre mein Vater. Allerdings nicht, weil ich ihn kannte (ich hatte ihn nur einmal getroffen), aber ich hörte ihn oft genug. Ich kann mich noch an die eindringlich bittende Stimme meiner Mutter erinnern. Ging es um Geld? Wir waren nicht arm, obwohl mein Vater – mein richtiger Vater also – tot war. Als Diplomat hatte er uns nicht gerade mittellos zurückgelassen. Aber irgendwie kam die Idee in meinen Kopf, dass meine Mutter nicht das Geld hatte, den Versicherungsmann zu bezahlen, und dass er somit versuchte, auf andere Art bezahlt zu werden. Hierzu muss ich sagen, dass meine Mutter eine ungewöhnlich schöne Frau war. Natürlich ist jede Mutter in den Augen ihrer Nachkommen schön, aber Mamas Schönheit war allgemein anerkannt.  In ihrer besten Zeit zogen ihre strahlenden blauen Augen und ihre schlanke Figur viele Verehrer an, unter denen sich - außer dem Versicherungsmann - noch Medizinstudenten, Mitglieder des diplomatischen Corps und sogar ein IRA-Mann befanden. Der Letztgenannte war ein Freund ihres älteren Bruders Tomás.

    Herausgefunden, dass Onkel Tomás ein IRA-Mitglied war, hatte sie eines Tages, als sie noch ein Mädchen war und sie beim Aufräumen im Haus von Muddy (meiner Oma) seinen Revolver in einem ausgehöhlten Buch entdeckte. Das Buch ist jetzt im Arbeitszimmer meines verstorbenen Vaters zwischen den echten Büchern als eine Art Erbstück.

    In ihrem späteren Leben versuchte sie irgendwelche IRA-Beteiligungen abzustreiten oder zumindest herunterzuspielen. Jedenfalls hatte sie immer eine Schwäche für Michael Collins[i] und sprach öfter über den Verlust von solch einem 'feinen Kerl'. Das alles war natürlich passiert, bevor sie sich niederließ und den Diplomaten, Patrick Foley, heiratete. Na ja, außer dass sie sich eigentlich nicht wirklich niederließ.

    Mit dem Versicherungsmann gab es Streit und Geschrei und einen Umgangston, der bei rein geschäftlichen Beziehungen nicht üblich war – wahrscheinlich dachte ich deshalb, er wäre mein Vater; ich hatte ja auch kein Leitbild, an dem ich mich orientieren konnte. Mein wirklicher Vater starb, als ich zwei war, zumindest wurde mir das erzählt.

    Ich sollte vielleicht erwähnen, dass das Geschrei von dem Mann kam, denn meine Mutter war recht sanftmütig und wurde nur selten laut. Ich war ihr sehr nahe, jedenfalls dachte ich das. Als einziges männliches Familienmitglied meinte ich, sie beschützen zu müssen. Einmal bin ich in das Zimmer gegangen, als der Versicherungsmann sie beschimpfte und sie in Tränen dastand. Ich sah einen Riesen vor mir stehen. Ich erinnere mich an große, schwarze, glänzende Stiefel. Und als ich aufguckte, sah ich diesen buschigen, roten Bart, der mich verängstigte. Bärte waren etwas, um sich dahinter zu verstecken. Der Weihnachtsmann hatte seinen Bart nur, damit die Kinder ihn nicht erkannten, aber er nahm ihn ab, wenn er nach Hause kam, wie er auch seine Stiefel und den Mantel auszog. Jedes Kind wusste das. Bärte waren etwas für wichtige Anlässe. Bärte waren nicht für gewöhnliche Ereignisse da, wie das Einsammeln des Versicherungsbeitrags.

    Als ich in das Zimmer kam, verstummte er. Er war verblüfft. Dann lächelte er mich an, aber als er versuchte mir über den Kopf zu streicheln, nahm ich den Schürhaken vom Kamin und holte nach ihm aus.

    „Was haben Sie mit meiner Mutter gemacht?" schrie ich.

    Er wehrte die Schläge ab und hielt meine beiden Arme fest, ließ sie unnütz in der Luft hängen wie die Worte in dem Buch mit der Pistole, und der Schürhaken fiel auf den Boden.

    „Irgendwann, wenn ich groß bin, bring ich dich um, du Bastard."

    „Na, na, Bastard Derek, was für ein Wort von an buachaill beag (einem kleinen Jungen)[ii] ."

    Zumindest glaube ich, dass er das gesagt hat.

    Das liegt alles so lange zurück, dass es mir wie eine Einbildung vorkommt. Doch die versuchte Attacke gegen ihn habe ich noch lebhaft vor Augen. Mama weigerte sich über den Vorfall zu sprechen; sie versuchte, es als etwas Unwichtiges abzutun. Sie sagte, ich hätte eine zu blühende Fantasie. Sie sagte, ihr ging es nicht gut an dem Tag und Mr. Counihan versuchte bloß, sie zu trösten. Als ich darauf meinte, er habe aber eine laute Art, Leute zu trösten, gab sie mir einen ihrer strafenden Blicke, womit das Thema beendet war.

    Ab dieser Zeit habe ich gemerkt, dass meine Mutter und ich uns doch nicht so nah waren, und schon bald nach diesem Vorfall wurde ich in ein Internat auf dem Land geschickt.

    Die Weltabgeschiedenheit der Internate bringt eine verzerrte Sozialisation hervor (und wie ich annehme, auch beim Personal). Man wird mit Leuten in eine Gemeinschaft geworfen, mit denen man wenige oder gar keine Gemeinsamkeiten hat. Der lauteste Charakter (häufig die Stimme eines Rüpels) dominiert. Ich konnte noch nie viel mit der Idee anfangen, dass man mit jedem zurechtkommen muss, weil der Mensch ein soziales Wesen sei usw. Wenn alle gleich seien, implizierte das für mich, dass es keine Individualität gebe, keine Unterschiede und keine Freiheit zu wählen. Solche Eigenschaften werden unterdrückt (oft besonders heftig von den ‘sozialen‘ Menschen) und zwar mit der Begründung, dass sie antisoziales Verhalten darstellen.  Bei meinen Studien – alleine - habe ich aber gelernt, dass die Fortschritte der Menschen durch Individuen erreicht wurden, oft gegen kollektiven, sozialen Druck.

    Die banale Wahrheit war jedoch, dass ich, wo immer ich hinging, ein Gefühl der Unsicherheit mit mir herumtrug: in meinem Schulranzen, in meinem Hurley-Schläger[iii], in meiner Stimme, wenn ich sprechen oder laut lesen musste. Vertrauen bildet sich in einer Umgebung von Liebe und Stabilität aus. Mir fehlte irgendwie die Befähigung, Menschen zu vertrauen. Mein Schreibstift war das einzige Instrument, das frei floss, als ob die Zweifel selber sich einen Ausweg durch die Tinte suchten. Meine Schulleistungen waren recht gut, vor allem in Geschichte, wofür ich die Schul-Goldmedaille gewann.

    Einige meiner Mitschüler waren auch Diplomatenkinder, aber ich fühlte mich ihnen nicht zugehörig. Oft hatte ich versucht, meiner Mutter zu erklären, dass ich überhaupt kein wirkliches Diplomatenkind war. Immerhin war Patrick tot und wir beide, sie und ich, waren seitdem die ganze Zeit in Irland. Mir schien es eine grausame Ungerechtigkeit, dass ich meine Mutter seltener sah als andere Jungen, deren Eltern im Ausland stationiert waren. Ich war nicht sehr kontaktfreudig. Ich verzog mich oft in die Bibliothek, statt an oberflächlichen Gesprächen teilzunehmen.

    Jeden Freitagabend stellten wir uns in einer Schlange für Süßigkeiten an. Und sonntags bekam ich eine doppelte Portion, weil ich nicht einer von den Schülern war, die am Wochenende nach Hause fuhren. Süßigkeiten waren gut. Süßigkeiten konnten die schmerzende Trübsal besänftigen, welche die leeren Schlafsäle an nasskalten Sonntagabenden erfüllte, wo jedes Geräusch ein Echo hatte.

    In meinem ersten Jahr im Internat mietete die Schule einen Projektor. Zwei Filme wurden ausgeliehen: Mise Éire[iv] und Im Zeichen des Zorro. Damals gab es immer zwei Filme; deshalb war Zorro erlaubt, obwohl es ein ausländischer Film war. Als Eintrittskarten wurden Bingo-Lostickets benutzt. Ich bekam die Nummer elf.

    In meiner Klasse gab es einen kleinen, dünnen Typen mit Stupsnase, weshalb er den Spitznamen Pug (Mops, d.Ü.) hatte. Er mochte mich nicht, weil ich für mich allein blieb, weil ich mich weigerte, mich ihm unterzuordnen oder in seiner Bande mitzumachen, und vielleicht auch, weil ich in der Klasse die beste Geschichtsnote hatte.

    Er stolzierte eines Tages den Schulflur lang flankiert von ein paar seiner Kumpel. Ich grüßte auf Gälisch, wie es üblich war.

    „Hier kommt der Historiker", höhnten sie auf Englisch.

    „Der Bettnässer."

    „Was hast du für uns, Streber?"

    Sie drückten mich gegen die Wand und zwangen mich, meine Taschen auszuleeren. Eine braune Papiertüte und meine Eintrittskarte fielen auf den Boden. Einer seiner Kumpel machte die Tüte auf.

    „Weingummi. Er hat Weingummi."

    Dies waren keine von den Süßigkeiten aus der Schule, sondern welche, die meine Mutter aus dem Laden von Muddy geschickt hatte.

    „Weißt du etwa nicht, dass englische Süßigkeiten nicht erlaubt sind?, sagte Pug. „Wir tun dem Historiker jetzt mal einen Gefallen. Wir verschlucken die Beweismittel, damit es niemand rausbekommt.

    Sie verdrehten meinen Arm hinter den Rücken. „Sag danke, sagte Pug, dem ein Weingummi aus dem Mund baumelte. Dann sah er die Eintrittskarte auf dem Boden. „Bingo, die Losnummer 11 mit den zwei Beinen. Er zerriss die Karte in zwei Teile. „Jetzt ist dein Los nur noch einbeinig."

    „Dafür krieg ich dich", sagte ich.

    Pug lächelte. „Nach der Schule auf dem Fußballplatz."

    Ich wollte weglaufen. Aber in einem Internat kann man nirgendwohin laufen außer in die Wiesen und Felder. Jegliche Kraft verließ meinen Körper, als Pug mich niederschlug und mich in einem Ringergriff festhielt, bis ich aufgab. Und nur im Rückblick wird mir jetzt klar, warum ich aufgab. Nicht weil er stärker als ich war. Ich wusste, dass die Angst immer da war, aber ich konnte den Grund nie klar bestimmen. Das geschieht, wenn du dich nicht geliebt fühlst. Du hast das Gefühl, auf nur einem Bein zu stehen.

    An diesem Tag lernte ich auch, warum ich Geschichte mochte. Sie diente als Deckung. Sie half dir aus der Patsche. Du kannst deine persönlichen Ängste in die nationale Psyche projizieren. Du kannst anderen Rassen die Schuld für deine eigenen Unzulänglichkeiten geben. Und niemand braucht je etwas darüber zu erfahren.

    Die Filme habe ich nie zu sehen gekriegt. Der Lehrer sagte mir, ich dürfe nicht rein und solle in Zukunft besser auf meine Eintrittskarte aufpassen. Aber ich sah Wiederaufführungen von Zorro, auf Schultischen mit Linealen als Schwertern, und eine Weile liefen Schüler rum und markierten ein Z auf Schulheften und Wänden.

    Ich begegnete Pug noch einmal. Er trug eine Maske, aber es war leicht zu erkennen, dass er es war. Er wolle mich darüber aufklären, was im Film geschehen war. Wie schade, dass ich nicht dabei sein konnte. Er hatte eine Klinge. Seine Kumpel öffneten mir das Hemd und hielten mir den Mund zu, und Pug ritzte den Buchstaben Z auf meine Brust.

    Ich habe nicht geweint. Es war nicht mal richtig schmerzhaft, nur ein oberflächlicher Kratzer. Ich presste mein Taschentuch dagegen, um das Hemd zu retten. Es würde schon aufhören zu bluten, wenn ich nur lang genug in der Bibliothek blieb.

    Ich schlug mein erstes spanisches Wort nach, zorro für ‘Fuchs‘, am Ende des Wörterbuchs. Ich fand es lustig, beim Lernen einer Sprache von hinten nach vorne anzufangen. Es erinnerte mich daran, dass unser Geschichtslehrer gesagt hatte, wir sollten die Geschichte rückwärts lernen, weil wir die Schule verlassen würden, bevor wir bei der Gegenwart ankommen.

    Nach dem Vorfall musste ich eine Weile nach Hause kommen (zum Kummer meiner Mutter), nachdem mein Bettnässen der Schulverwaltung Sorgen bereitete. Einige Jungen in meinem Schlafsaal beschwerten sich über den Geruch und sagten, sie wollten nicht mit mir im selben Raum schlafen. Ich wurde in die Saint John of God-Klinik geschickt. Die Ärztin freute sich (jedenfalls sagte sie das), dass ich alle möglichen Monster und Drachen in den Formen erfand, die sie auf Karten für mich hochhielt. Sie gab mir zwei Buntstifte, grün und marineblau. In meinem Tagebuch sollte ich grün für die trockenen Nächte und marineblau für die nassen Nächte eintragen. Für die grünen Nächte wurde ich von den Ärzten gelobt, aber nicht von meiner Mutter. Sie seufzte nur bei den blauen Nächten und sagte, sie würde wohl ‘eine Schnur drum herum binden‘ müssen. Und über die grünen Nächte sagte sie kein Wort.

    Aus dem Jahr, in dem ich zu Hause war, erinnere ich mich nur vage an Gespräche über Unruhen in Nordirland. Die UVF[v] hatte vergeblich versucht einen bekannten Republikaner ausfindig zu machen, stattdessen töteten sie einen Unschuldigen, nur weil er Rebellenlieder sang. Meine Mutter war wegen des Vorfalls sehr aufgebracht.

    „Sie werden das Ganze auch nach hier unten bringen, so sicher wie das Amen in der Kirche", sagte sie.

    Ich machte mir Sorgen, da sie alleine war, besonders als ich hörte, dass bei ihr eingebrochen worden war. Aber mal wieder blieb sie wortkarg bei solchen Angelegenheiten und bestand darauf, dass ich im Internat bleibe, um meinen Schulabschluss zu erreichen.

    Ich erinnere mich daran, wie ich im März meines letzten Schuljahres nach Hause kam. Es war eine eisige Luft.  Die Leute waren eingemummt in schweren Mänteln und Schals und Handschuhen und ihr warmer Atem war sichtbar, als wolle er eine eigene Existenz proklamieren. Jeder beeilte sich und war sich ganz bewusst, wohin er ging, und war ungeduldig, dorthin zu gelangen. Das heißt, jeder außer mir.

    Im Zug wurde viel über einen IRA-Mann gesprochen, der an dem Morgen verhaftet worden war. Die Nelson-Säule war gesprengt worden. Ich fand es merkwürdig, wie einige Reisende, obwohl sie den Verlust der Säule beklagten, auch Enttäuschung über die Verhaftung ausdrückten. Es schien, dass sie enttäuscht waren, dass der Schuldige von der Polizei überlistet worden war. Vielleicht gibt es da einen anarchischen Hang tief unten in vielen von uns. Ambivalenz! Vielleicht hat es mit unserer kolonisierten Vergangenheit zu tun. Und es gab andere, die ihre Zunge hinter fest geschlossenen Lippen im Zaum hielten.

    Mama lauschte aufmerksam den Nachrichten im Radio, als ich ankam. Sie begrüßte mich nicht. Sie umarmte mich nicht. Sie sagte bloß: „Was für ein segensreiches Ereignis. All der Ärger, den dieses Tier verursacht hat."

    Ihre Worte oder mehr noch die Art, wie sie es sagte, verunsicherten mich. Sie ging zu weit. Ich meine, der Typ (oder die Typen? - meine Mutter benutzte auch weiter den Singular) war doch nur beschuldigt, eine Ansammlung von Steinen in die Luft gesprengt zu haben. Schon klar, dabei waren auch ein paar Schaufenster zertrümmert worden, aber niemand wurde getötet. Irgendwie sprach sie, als käme es von einer Primärquelle (wie wir in der Geschichtswissenschaft sagen), als wüsste sie, wer die angeklagte Person war.

    „Er hätte ihn umändern können. Er musste ihn doch nicht in die Luft jagen. Er hätte ihn in jemand anderen umgestalten können", murrte sie, halb zu sich selbst.

    Auch die britischen Medien übersteigerten die Explosion: sie nannten es einen terroristischen Akt.

    Die Haare meiner Mutter sind nicht mehr blond; sie sehen aus, wie graue Berge mit Strähnen aus Schnee, die da durchrinnen. Ihr geht es gesundheitlich schlecht. Trotz ihres Lungenemphysems raucht sie nach wie vor. „Sie sind doch alles, was ich habe", sagt sie und meint ihre filterlosen Zigaretten.

    Mama wird vergesslich. Nicht, dass sie jemals ein besonders gutes Erinnerungsvermögen hatte – sie war schon immer recht wählerisch dabei, was sie in ihrem Gedächtnis speicherte. Sie brachte mir bei, was ich erinnern und was ich vergessen sollte. Denk dran zu beten. Denk dran, zur Messe zu gehen und deine Zähne zu putzen und deine Schuhe zu polieren, hinten genauso wie vorne, und nicht wie die Soldaten, die nur vorne auf die Schuhe spucken und dort putzen. Wasch dich hinter den Ohren. Denk dran zu lernen. Und vergessen? Vergiss alles, was das Herz berührt oder was zu tief gräbt.

    Aber jetzt ist ihre Vergesslichkeit ungeplant. Sie geht nach oben und kommt wieder runter und fragt mich, warum sie überhaupt nach oben gegangen ist. Sie redet davon, das Haus zu verkaufen. Meine Mutter ist in einer Zeitblase gefangen. Sie schaut in alten Zeitungen nach Häuserpreisen. Sie zitiert aus einer Irish Independent aus den Vierzigern, die noch 2 Pence kostete (Mama hortet alte Zeitungen). „Haus mit 4 Schlafzimmern in Clontarf mit großem Garten oberhalb der Küste für tausend einhundert Pfund. Wir müssten doch mehr als das kriegen, sagt sie, „wir sind doch oberhalb der Berge.

    Sie erzählt mir, dass sie mit dem Umzug warten wollte, bis ich mein Studium beendet hätte, so als müsste sie versuchen, es so lange wie möglich mir zuliebe auszuhalten. Aber sie könne es nicht länger ertragen. Auf die Frage, warum sie umziehen möchte, sagt sie, sie habe das Gefühl (und Gefühle seien etwas Reales), nicht sicher zu sein.

    Im Arbeitszimmer meines Vaters sind die Wände mit Büchern bekleidet, außer der einen Wand, an der ein Gemälde hängt. Es zeigt einen Schneesturm: Leute, die mit einem Lasttier einen Berg überqueren, drängen sich zusammen unter ihren Umhängen; und ein kahler Baum, vom Sturm gebeugt, kämpft alleine ums Überleben.

    Es gibt einen Schreibtisch aus Mahagoni mit gelber Lederschreibfläche. Am Fenster beherbergt ein Tontopf einen goldfarbenen Lobivia-Kaktus, den mein Vater als Samen eingepflanzt hat. Mama sagt, dass er mit dem Samen sprach, um ihn zum Leben zu überreden, um damit etwas Sonne in einen düsteren Raum zu bringen. Neben dem Topf steht ein alter Plattenspieler und Schallplatten in verblichenen Covern.

    Eine der Schubladen im Schreibtisch ist verschlossen. Den Schlüssel finde ich in einem Umschlag in einer der offenen Schubladen -  eine Medaille für Geheimhaltung hätte mein Vater nicht gewonnen. Als ich die Schublade aufschließe, finde ich Tagebücher und Briefe, ziemlich viele. Ich nehme eins der Tagebücher und ein schon senffarbener Ausschnitt aus einer alten Zeitung fällt heraus. Es ist aus der Rubrik ‘Danksagungen‘. Eine eingekreiste Anzeige bedankt sich für den Examenserfolg bei Sankt Josef von Cupertino und lautet: „Ich verspreche, deinen Namen bekannt zu machen, damit du viele Fürbitten erhältst. Signiert: Patrick."

    Unter den Briefen entdecke ich einige alte Erotikhefte. Beim Durchblättern der Seiten mit den sepiafarbenen Fotos halte ich bei einem Bild an, welches eine umgeknickte Ecke hat. Ihre Augen sind so lebhaft, dass ich schwören könnte, sie bewegen sich. Aber das muss natürlich meine Fantasie sein, wie meine Mutter sagen würde. Aber für mich ist sie lebendig geworden; sie hat sich der Begrenztheit des Papiers und dem hölzernen Gefängnis der Schublade entwunden und ist in meinen Kopf eingetreten.

    Welch eine interessante Beobachtung: während ich mich zu ihr hingezogen fühlte, war ich nicht körperlich von ihr erregt – trotz ihrer Nacktheit. Vielmehr rief ihre Verletzlichkeit in mir den Wunsch hervor, sie zu beschützen, sie gegen die Welt abzuschirmen. Aber sie war die Frau eines anderen, eine weggeschlossene, geheimnisvolle Frau. Und das Heft war verblichen und zerknittert. Es roch alt. Sich ihr mit Begierde zu widmen, wäre einer Art Nekrophilie nahegekommen.

    Warum hat mein Vater diese Seite markiert? Entspringt es nur unserer Fantasie, dass wir Übereinstimmungen finden? Ich weiß nicht genau, warum ich das sage. Eigentlich ist mir das überhaupt nicht klar. Und ist es nie gewesen. Zu viel Fantasie, zu viele Träume.

    Mein Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Er war schon etwas älter, als er heiratete. Ich habe keine Erinnerungen an ihn. Mama findet es verständlicherweise zu schmerzhaft, über ihn zu reden. Also habe ich, seit ich die Tagebücher entdeckte, heimlich Teile daraus gelesen, wenn ich die letzten Male nach Hause gekommen bin. Mama hat das bislang nicht mitbekommen. Ich lese zufällig ausgewählte Passagen, wenn sie woanders zu tun hat.

    Er liebte die Literatur, und die Mahagoniregale seines Arbeitszimmers waren voll mit literarischen Büchern, Manuskripten und Gedichten. Auch zählte ich sechs verschiedene Bibeln. Ich nehme manchmal seine Bücher heraus und versuche, den Atem seines Lebens darin zu spüren, und stelle mir vor, wie meine Schreibschrift sich mit seinen Anmerkungen vermischt. Und - klar - eines seiner Bücher hat die Aushöhlung im Inneren.

    Trotz all der Bücher, der Hefte und des Revolvers sind es vor allem die Tagebücher, die mich wirklich in die Welt meines Vaters hineinziehen. Sie entfalten ein kryptisches Universum, das mir manchmal Angst einflößt, mich zu tief hineinzubegeben. Deshalb kann ich (zumindest anfangs) nur kleine Fragmente bei jedem Mal aufnehmen, und deshalb auch habe ich es nicht sehr eilig, zu einem 'dorthin' zu gelangen, was sonst jeder mit großer Hast anzustreben scheint.

    Ich sitze am Schreibtisch meines Vaters - mit all seinen

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