Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Just Another Chance
Just Another Chance
Just Another Chance
eBook400 Seiten5 Stunden

Just Another Chance

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Glücklich. Das sind Amanda und Marc, seit sie endlich so als Paar zusammenleben können, wie sie es sich lange gewünscht haben. Auch wenn Amy die schrecklichen Erlebnisse nicht vergessen kann, findet sie an Marcs Seite die Ruhe und Liebe, die ihr altes Leben immer unbedeutender werden lassen.

Doch als sie ins Krankenhaus gerufen wird, begreift die junge Frau, dass die Schatten der Vergangenheit nie von ihr abgelassen haben – und dass sie bloß hilflos warten und hoffen kann, während nicht nur ihr Glück am seidenen Faden hängt …
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum1. Jan. 2018
ISBN9783961730452
Just Another Chance

Mehr von Kathi B. lesen

Ähnlich wie Just Another Chance

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Just Another Chance

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Just Another Chance - Kathi B.

    möchten.

    Prolog

    Marc

    Ich hasse Notaufnahmen.

    Mir war bewusst, dass ich so etwas – gerade als Arzt – nicht mal im Ansatz denken sollte. Dennoch war es so ziemlich das Einzige, das mein Gehirn in diesem Moment zustande brachte.

    Notaufnahmen waren unpersönlich und die Medizin, die dort praktiziert wurde, war schnell und unsauber – nicht hygienisch betrachtet, sondern eher ästhetisch. Schnitte wurden in Windeseile zugenäht, egal ob im Gesicht, am Bein oder am Bauch, am Ende sahen alle Narben gleich hässlich aus.

    Ich nahm die Schwestern wahr, die hektisch über die Flure huschten und versuchten zu helfen, wo es nur ging, was in Anbetracht der massenartigen Füllung des Wartebereichs nicht einfach war. Auf jedem Stuhl oder wahlweise auf dem Boden saß ein Mensch mit seiner eigenen Geschichte und individuellen gesundheitlichen Problemen. Irgendetwas hatten sie alle, denn niemand würde sich freiwillig in dieses Ameisennest begeben. Jeder stöhnte oder beschwerte sich über die immensen Wartezeiten. Ich wusste aus Erfahrung, dass sich jeder Einzelne von ihnen weiterhin in Geduld würde üben müssen, denn es herrschte Code Black – medizinische Versorgung bekamen vorrangig diejenigen, die ohne eine Behandlung in kurzer Zeit versterben würden. Die Überflut an Patienten bei gleichzeitigem Personalmangel setzte sowohl Ärzte und Schwestern, als auch die Patienten massiv unter Druck, was die Stimmung zum Kochen brachte. Ich konnte sie zu diesem Zeitpunkt quasi mit den Händen greifen. Sie war fast schon explosiv.

    Die ineinandergreifenden Stimmen verschmolzen zu einem steten Summen. Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten, weil es so laut rauschte, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde jeden Moment platzen. So gern hätte ich mir die Hände auf meine Gehörgänge gepresst, um diese verdammte Geräuschkulisse zu minimieren, doch ich konnte mich nicht bewegen. Nur der Raum tat es, weil die Liege, auf der ich lag, weitergeschoben wurde. Mir wurde schwindelig davon. Alles drehte sich, auch mein Magen.

    »Wer ist der Nächste?«

    Die Stimme, die sich kräftig von der Masse abhob, kannte ich, doch mir wollte der Name nicht einfallen.

    »Hier! Multiple Verletzungen! Schusswunden und Kopfwunde!«, brüllte der Sanitäter hinter mir, während er die Bahre mit einem kräftigen Ruck tiefer in das Ameisennest hineinstieß. Ich hätte mich gern über seine ruppige Fahrweise beschwert, doch momentan war ich leider nicht dazu in der Lage, irgendetwas zu sagen. Generell konnte ich gar nichts. Nur blinzeln.

    Ein Kopf schob sich in mein Blickfeld. Der Blick kluger, grauer Augen, die von den ersten kleinen Fältchen des Alterungsprozesses umrahmt waren, bohrte sich in meine. »Scheiße!«, rief der Mann, den ich als Tom, meinen besten Freund, erkannte. Er war Trauzeuge auf meiner Hochzeit gewesen. Ich wusste nicht, warum ich bei seinem Anblick ausgerechnet daran erinnert wurde, doch dieser Gedanke führte mich zu Amanda, meiner Amy. Gern hätte ich jetzt ihre Hand auf meiner gespürt und ihre helle, beruhigende Stimme gehört. Hoffentlich würde sie schnell jemand verständigen, denn ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit mir noch blieb. Ich wollte nicht gehen, ehe ich ihr nicht noch einmal in die Augen gesehen hatte.

    Bevor mein schmerzendes Gehirn es wirklich bewusst registrierte, waren bereits Signale an meinen Mund gesendet worden. Wahrscheinlich wollte ich sagen, dass jemand Amy anrufen musste, weil ich es selbst nicht konnte. Jedoch war ich zu nichts anderem in der Lage, als unverständliche Geräusche von mir zu geben. Ich brabbelte wie ein Baby.

    »Du solltest jetzt nicht sprechen, Marc«, sagte Tom, der sich von dem Sanitäter abwandte, als er meine kläglichen Sprechversuche hörte. Hatten die beiden miteinander gesprochen? Falls ja, hatte ich es nicht mitbekommen.

    »Hat jemand Nolan angepiept? Er soll sofort herkommen! Vergesst den Neurologen nicht und sagt schon mal dem Herz-Thorax-Chirurgen Bescheid! Ich will, dass das hier so schnell wie möglich vonstattengeht!«, rief er daraufhin wem auch immer zu, während die Liege einen erneuten Ruck bekam. Wieder drehte sich der gesamte Raum. Mein Mageninhalt wurde hin und her geschleudert. Mir war so schlecht, dass mein Oberkörper sich ganz instinktiv aufbäumte, nachdem der Sanitäter, Tom und einige mir unbekannte Männer mich unsanft umgebettet hatten.

    »Er muss sich übergeben!«, rief Tom.

    Jemand hielt mir geistesgegenwärtig eine Bettpfanne unter die Nase, die ich jedoch halb verfehlte, als mein gesamtes, halbverdautes Essen aus mir hervorbrach.

    »Oh Gott, das ist ja Dr. Smith!«

    Ich erkannte die schrille Stimme der Assistenzärztin Judy, mit der ich schon oft zusammengearbeitet hatte. Weil sie klug und bedacht war, konnte ich sie gut leiden, doch in diesem Moment war sie unaufmerksam, denn plötzlich wurde es in meiner unmittelbaren Nähe für einige Herzschläge still, was in Anbetracht der Tatsache, dass die Räumlichkeiten der Notaufnahme aus allen Nähten platzten, beachtlich war. Ich spürte die Blicke des Pflegepersonals auf mir. Manche von ihnen waren extra stehen geblieben, um mir dabei zuzusehen, wie ich mich übergab, andere sahen von ihren aktuellen Arbeiten auf und schielten zu mir herüber. Ihre neugierigen Blicke brannten auf meiner Haut. Ich wollte fluchen und Judy belehren, demnächst besser aufzupassen, denn Gaffer waren das Letzte, was ein Patient gebrauchen konnte. Ich stierte sie, so wütend wie es mir möglich war, an, nachdem mein Magen endlich leer war. Mein EKG piepste besorgniserregend laut und schnell.

    Tom, der geistesgegenwärtig als Erster verstanden hatte, was mein Problem war, hechtete um meine Bahre herum und riss die blauen Vorhänge zu, um meinen blutenden Körper vor den Blicken des Personals abzuschirmen.

    »Entschuldigen Sie, Dr. Smith«, stammelte Judy, als sie mich vorsichtig auf meine Unterlage zurückdrückte. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich wusste, dass sie nah am Wasser gebaut war, doch mir war auch klar, dass ihr Fachwissen weit genug reichte, um zu erahnen, dass mein Zustand mehr als kritisch war. Wenn ich der behandelnde Arzt gewesen wäre, hätte ich sie kurz zur Seite genommen und sie zurechtgewiesen. Kein Mensch, der dringend medizinische Versorgung benötigte, sollte die Angst des Fachpersonals spüren. Emotionen trübten das Urteilsvermögen.

    »Judy«, zischte Tom daraufhin, als er den Blick der jungen Frau bemerkte. »Prüfen Sie den GCS«, forderte er sie in kühlem Befehlston auf. Ich kannte die Gepflogenheit, mit Situationen dieser Art umzugehen. Pragmatisches Denken schuf Distanz – genau das, was er jetzt brauchte –, deshalb auch die Überprüfung meines Bewusstseinszustandes mittels der Glasgow Coma Scale; einem Schema, mit welchem die Schwere des Traumas mittels Punktevergabe grob eingeschätzt werden konnte. Das war wichtig für das weitere Vorgehen.

    Judy schreckte auf und wischte sich rasch die kullernden Tränen von den Wangen. »Marc«, wandte sie sich danach mit zitternder Stimme an mich, »wenn Sie mich verstehen können, blinzeln Sie einmal.«

    Natürlich verstand ich sie. Mein Körper war vollgepumpt mit Adrenalin, was mich hellwach machte. Ich stand unter Strom und hatte das Bedürfnis, aufzustehen, doch meine fleischliche Hülle verweigerte mir die Annahme jeglicher Befehle, außer nach Aufforderung zu blinzeln.

    »Das ist ein gutes Zeichen«, lächelte sie mir erleichtert entgegen, wobei ich Sorge hatte, dass sie jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen würde. »Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

    Ja, natürlich wusste ich das! Wir waren im University of Washington Medical Center mitten in Seattle, dem Ort, an dem ich nahezu siebzig Prozent meiner verfügbaren Zeit verbrachte. Am liebsten hätte ich ihr entgegengeschrien, dass sie damit aufhören sollte. Ich brauchte kein Verhör, ich brauchte meine Frau. Warum kam niemand auf die Idee, sie anzurufen?

    Ich konnte deutlich spüren, wie mein Herz stolperte, als ich alles daransetzte, meine Hand auf ihre zu legen, noch bevor sie ihre Untersuchung fortführen konnte. Der Blick ihrer großen blauen Augen, die immer noch tränenfeucht glänzten, traf meinen. Ihr Kopf war zu sehr damit beschäftigt, meinen Zustand einzuschätzen, als dass sie meinen Blick hätte verstehen können. Meine Hilflosigkeit machte mich wahnsinnig. Wie sollte ich ihr begreiflich machen, dass sie an meiner statt Amy informieren musste?

    Sie umschloss meine rechte Hand mit der ihren. »Keine Sorge, Marc. Wir kriegen das wieder hin«, sprach sie in beruhigendem Ton, doch das Zittern in ihrer Stimme strafte sie Lügen.

    Mir war nicht möglich, ihr zu sagen, dass es mir weniger um mich ging. Ich wollte meine Frau in meiner Nähe wissen. Möglichst schnell. Unter der Aufbringung meiner ganzen mir zur Verfügung stehenden Kraft drückte ich meinen Mittelfinger in ihre Handinnenfläche. Sie stutzte, löste ihre Hand von meiner und sah an mir hinunter. Ich konnte erkennen, wie ihr Blick an dem silbernen Ring hängen blieb, mit dem Amy und ich unsere Liebe vor Gott und der Welt besiegelt hatten. Ich betete – gezwungenermaßen im Stillen – dafür, dass sie meinen Wink verstehen würde.

    »Stimmt«, hörte ich sie flüstern. »Er ist verheiratet … Sie …« Judy hob den Kopf, um mich direkt anzusehen. »Sie möchten, dass wir Ihre Frau anrufen!«

    Bingo! Ich blinzelte ein einziges Mal so überdeutlich, dass alle umstehenden Leute es wahrgenommen haben mussten.

    »Amy …«, sagte Tom halb im Schock, als habe er vergessen, einem Patienten während eines Asthmaanfalls Sauerstoff zu geben. »Die Nummer ist in seiner Personalakte. Gehen Sie schon!«, herrschte er Judy an, die sich sofort umdrehte und zwischen den blauen Vorhängen verschwand.

    Ein bunter Mix aus Pflegepersonal und Ärzten machte sich an meinem Körper zu schaffen, tastete ihn ab, prüfte Reflexe, erteilte Befehle für weitere Diagnosewege. Ich bekam es kaum mit. Vielmehr hing mein Blick an Tom, der mittlerweile untätig am Rand der Meute stand, die wie Raubtiere über mich hergefallen war. Offenbar war es meinem Freund nicht möglich, die Distanz, die er für einen kühlen Kopf brauchte, aufrechtzuerhalten. Ich hatte ihn während unserer langjährigen Bekanntschaft noch nie so betroffen gesehen, nicht mal, als Kelly gestorben und ich in einem Sumpf aus Arbeit und Bourbon versunken war. Es tat mir leid, dass ich ihm solche Sorgen bereitete. Ich hätte ihm so gern auf die Schulter geklopft und ihm gut zugesprochen, obwohl wir dank unseres Berufes beide wussten, dass Optimismus fehl am Platz gewesen wäre. Hoffnung war das Einzige, das mir vielleicht noch helfen konnte. Oder ein Wunder.

    Irgendjemand hatte mir Morphin gespritzt. Ich merkte es daran, dass meine innere Anspannung nachließ und meine Augenlider schwer wurden. Ich bekam nicht mit, wer auf die Idee kam, mir das Medikament zu verabreichen, denn ich hatte gar keine Schmerzen. Zumindest konnte ich sie aufgrund des Hormoncocktails, der durch mein Blut wirbelte, nicht spüren – kein gutes Zeichen. Ich hatte schon genügend sterbende Menschen gesehen. Die meisten davon verloren auf ihrem Weg über die Brücke jegliches Schmerzbewusstsein.

    Tom konnte mich nicht ansehen. Er stand die ganze Zeit einfach da und bedeckte seinen Körper nur notdürftig mit dem ihm dargebotenen Bleischutz, als ich mittels mobilem Röntgengerät durchleuchtet wurde. Dr. Nolan war irgendwann aufgetaucht, als hätte ihn jemand aus der Tasche seines Kittels hervorgezaubert, und hatte eine Thorax-Drainage gelegt. Auf dem Röntgenbild war zu sehen, dass sie ihren Zweck erfüllte. Alle Umherstehenden unterhielten sich in einem wilden Durcheinander über allerlei andere Dinge, die meinen gesundheitlichen Zustand betrafen, denn man wollte mir die beste medizinische Versorgung zukommen lassen, die man hier aufbringen konnte. Ich war geschmeichelt, weil sie mich wie ein wichtiges Familienmitglied behandelten. In gewisser Weise war ich das sogar.

    »Gut, er ist stabil, ab ins CT!«, rief irgendjemand.

    Nein, nein, nein!, wollte ich dagegenhalten. Ich hatte Sorge, dass ich nicht mehr bei Bewusstsein sein würde, wenn ich dort wieder herauskam. Ich musste aber auf Amy warten, ich musste sie sehen, ihr mit meinen Blicken all die Dinge vermitteln, die ich ihr nicht mehr sagen konnte.

    Ich blinzelte wie ein Verrückter, immer zweimal hintereinander, um den Menschen, die allesamt Entscheidungen für mich trafen, irgendwie klarzumachen, dass ich nicht zum CT gebracht werden wollte. Noch nicht jedenfalls. Zweimal blinzeln war in der einfachsten Kommunikationsmethode das Zeichen für Nein. Sie mussten es akzeptieren, wenn sie denn auf mich aufmerksam wurden. Aus meinem Mund kamen undefinierbare Laute, die im allgemeinen Geräuschpegel des Code Black in der Notaufnahme untergingen. Ich fühlte mich wehrlos ausgeliefert, als das Bett in Bewegung gesetzt wurde. Was sollte ich tun?

    »Nein!«, rief Tom plötzlich. Sein Blick traf meinen, während die Blicke aller Anwesenden zu ihm schnellten. Er wurde taxiert, als sei er der Verursacher meiner schwerwiegenden Verletzungen, nach welchem seltsamerweise noch niemand gefragt hatte.

    »Haben Sie den Verstand verloren?«, herrschte Nolan ihn an. »Sein Zustand ist verdammt kritisch, das wissen Sie so gut wie ich!«

    »Marc, du willst warten, oder?«, wandte Tom sich an mich, als er auf mich zuging.

    Mein Freund, meine Rettung! Ich gab das entsprechende Signal zur Bejahung seiner Antwort.

    »Warten? Worauf?«, verlangte Nolan zu wissen. Die Fassungslosigkeit in seiner Stimme war unüberhörbar.

    »Auf seine Frau. Er möchte auf Amy warten«, sprach Tom für mich.

    »Dann haben wohl Sie den Verstand verloren, Smith!«

    Das mochte wohl sein, aber es war mir egal. Ich musste sie noch mal sehen. Kein Weg führte daran vorbei.

    »Kommen Sie schon, Smith, Sie sind ein kluger Mann. Wir wissen beide, wie es enden wird, wenn wir unnötig Zeit verschwenden«, redete mein Vorgesetzter auf mich ein. Um seine blauen Augen legten sich Züge verzweifelter Besorgnis. Mir war klar, dass er mir nur helfen wollte, doch ich musste mich von Amy verabschieden. Ich hätte Kelly damals, als sie von mir gegangen war, schließlich auch gern noch mal gesehen, ehe sie starb. Ich konnte Amy nicht das Gleiche antun, weil ich genau wusste, wie schlecht es einem ohne einen vernünftigen Abschied ergehen konnte. Vor allem, wenn er so plötzlich kam.

    Ich blinzelte zweimal.

    »Herrgott, Smith!« Nolan raufte sich mit beiden Händen seine kurzen grauen Haare. »Sobald Sie das Bewusstsein verlieren, werde ich handeln, Marcus. Dann werde ich für Sie entscheiden«, fügte er in drohendem Ton hinzu, woraufhin ich entsprechend blinzelte, um ihm zu bedeuten, dass ich seine Worte begriffen hatte.

    Alle standen um mich herum und betrachteten mich mit mitleidigen Blicken wie ein Tier im Zoo. Auch das war mir egal, vor allem, weil meine Augenlider so entsetzlich schwer wurden und immer wieder für längere Abschnitte zufielen, ohne dass ich es hätte verhindern können.

    Das stete Summen der umherschwirrenden Stimmen wurde leiser und dumpf. Instinktiv war mir bewusst, dass es nicht daran lag, dass die Räumlichkeiten sich allmählich leerten, sondern dass es vielmehr damit zu tun hatte, dass mein inneres Ich langsam, aber sicher einschlief. Mein Körper zwang mich dazu, obwohl mein Geist seine ganze Kraft aufbot, sich gegen das schwarze Loch zu wehren, das mich immer tiefer zu sich sog.

    Bitte, Amy, komm. Schnell.

    Teil 1

    Kapitel 1

    Marc

    »Marc, wach auf.«

    Ich mag die sanfte Stimme, die sich in meine Träume schleicht. Ich habe sie schon so oft gehört und trotzdem laufen mir noch immer wohlige Schauer über den Rücken, wenn sie erklingt. Gepaart mit dem Gefühl ihrer warmen Fingerkuppen auf meiner nackten Brust ist diese Frau dazu in der Lage, einen Rausch in mir hervorzurufen. Sie ist wie eine Droge, die nur für mich erschaffen worden ist.

    »Hör nicht auf«, brumme ich, als ich ihre Hand nicht mehr spüre.

    »Ich mache erst weiter, wenn du endlich aufwachst. Du verschläfst den ganzen Tag.«

    Vorsichtig öffne ich die Augen und blinzele der Sonne entgegen, die durch die halb geöffneten Vorhänge auf unser Bett fällt. Ihre warmen Strahlen blitzen zwischen den dichten Tannenzweigen hervor, die ich durch das Fenster des Häuschens sehen kann, das wir uns gemietet haben. Eine leichte Brise bringt die beigefarbenen Vorhänge zum Flattern und weht mir den Duft von Wald und feuchtem Moos in die Nase. Ich kann mir gut vorstellen, wie der Morgentau im frühen Licht funkelt, als seien die kleinen Perlen Diamanten und kein Wasser.

    Kelly und ich haben diese Hütte vorletzte Woche gebucht und sind direkt hergefahren. Wir brauchen diese Auszeit fernab der Zivilisation und des Alltags, weit weg vom überfüllten Seattle, von klingelnden Handys oder Krankenwagen, die mit ohrenbetäubendem Gejaule über die Straßen donnern. Wir möchten keine Menschen um uns herumhaben, außer uns selbst, weil wir die Zeit, die uns noch bleibt, genießen möchten. Allein.

    Ich mag es sehr, Kelly anzuschauen. Ihre braunen Augen sind so dunkel, dass sie manchmal beinahe schwarz aussehen. Sie ziehen mich an wie ein Magnet. Die Sonne strahlt die Rückseite ihres Körpers an, dessen frauliche Konturen unter der eng anliegenden Decke deutlich hervortreten. Es mag übertrieben klingen, aber sie sieht aus wie ein Engel, auch wenn ihr Haar nicht blond und gelockt ist. Mein Engel. Bald wird sie ein Engel im Himmel sein – ein Gedanke, den ich seit einiger Zeit mit aller Mühe zu verdrängen versuche.

    »Da bist du ja endlich«, lächelt Kelly mir entgegen.

    »Du tust so, als hätte ich bis nachmittags geschlafen. Ich wette, es ist noch nicht mal sieben Uhr.«

    »Zwanzig nach sechs, wenn du es genau wissen willst.«

    Ich ziehe die Brauen zusammen und stöhne erschöpft. »Ich brauchte einfach ein wenig Ruhe …« Mit einem seligen Lächeln denke ich an die gestrigen und heutigen Stunden des Abends und der Nacht, die durch nichts anderes als unsere Leidenschaft gefüllt worden waren. Ineinander verschlungene Körper, Küsse, Seufzen, Schweiß, das Rascheln der Bettwäsche. Außerdem haben wir herausgefunden, dass die Federn der Matratze auf Kellys Seite quietschen, wenn man sie zu sehr … sagen wir mal … beansprucht. Ich habe noch unser berauschend lautes Lachen in den Ohren, als wir versuchen, der Matratze immer schrillere Geräusche zu entlocken.

    »Stell dich nicht so an, du bist doch noch jung«, entgegnet Kelly. »Ich kann ja nicht ahnen, wie lange du noch im Schlummerland geblieben wärst … Ich musste dich wecken«, fügt sie hinzu.

    Ich möchte gerne so tun, als sei ich sauer auf sie, doch das kann ich nicht. Viel lieber würde ich sie küssen, also tue ich das. Ich beuge mich zu ihr hinüber und fange ihre Lippen mit meinen ein. Ich spüre ihren Widerstand für einen Moment, der jedoch schnell erlischt. Ich weiß ganz genau, was sie gern mag und wie ich sie rumbekomme. Es ist, als seien wir beide füreinander geschaffen worden, um uns zu lieben. Dumm nur, dass das Schicksal sich etwas anderes für uns ausgedacht hat; einen kilometerhohen Berg, den wir nur für eine gewisse Zeit gemeinsam erklimmen können. Irgendwann würde ich allein weitergehen müssen. Inklusive schlechter Wanderschuhe und Sauerstoffmangels.

    Ich merke, dass Kelly an das Gleiche denkt wie ich. Ich kenne sie so gut, dass wir uns ohne Worte verstehen. Nur widerwillig lasse ich von ihr ab. Ich sehe in ihrem Blick, dass sie darüber reden möchte. Das versucht sie schon seit der Diagnose, doch ich blocke sie immer wieder aufs Neue ab, weil mein Herz sich weigert, auch nur im Ansatz darüber nachzudenken, geschweige denn, sich mit den drohenden Konsequenzen auseinanderzusetzen, obwohl mein Kopf natürlich ganz genau weiß, dass wir das Thema nicht totschweigen können – der Tod wird es irgendwann von ganz allein tun.

    »Marc …«, seufzt sie, als sie die Decke zurückschlägt und sich aufsetzt. Erst jetzt sehe ich, dass sie mein T-Shirt trägt. Sexy.

    »Ich weiß …« erwidere ich, während ich mich zurück in meine Kissen sinken lasse und mich auf die Seite drehe, um sie besser betrachten zu können. »Es ist soweit«, stelle ich leise fest. »Wir müssen darüber reden.«

    »Ja«, haucht sie. Mir ist bewusst, dass es ihr nicht leichtfällt, immerhin ist es ihr Leben, um das es geht, doch mir fällt es mindestens genauso schwer. Denn sie ist mein Leben.

    »Okay«, sage ich, nachdem ich tief durchgeatmet habe. »Dann leg mal los.«

    Sie nickt und streicht sich ihr kastanienbraunes Haar zurück, das im Schein der morgendlichen Sonne mit einem goldenen Schimmer belegt ist. Ich betrachte sie so unendlich gerne. Ihre leicht gebräunte Haut, von der ich ganz genau weiß, wie weich sie sich unter meinen Händen anfühlt; die Schlüsselbeine, die unter dem Rundausschnitt meines T-Shirts hervorlugen; ihre langen seidenglatten Beine (wobei ich mich frage, wie sie das hinbekommt), die sie zum Schneidersitz verschränkt hat. Ihre Fußnägel sind lackiert und glänzen blutrot. Blut, das Elixier des Lebens.

    »Marc, ich möchte mit dir über meine Patientenverfügung sprechen.«

    Ein Schmerzreiz durchzuckt meine Magengegend. »Hast du etwa eine gemacht?«

    »Ja.«

    »Was möchtest du?«

    »Dass du mich sterben lässt, wenn es soweit ist.«

    »Das kannst du nicht von mir verlangen«, erwidere ich prompt, obwohl ich weiß, dass sie es ernst meint.

    »Marc …«

    »Ich habe einen Eid geleistet!«

    »Ja und? Ich will nicht an irgendwelchen Schläuchen hängen, die mein ohnehin totgeweihtes Leben notdürftig für ein paar Tage verlängern. Wenn mein Herz aufhört zu schlagen, dann soll es so sein.« Auf ihrer Stirn bilden sich Falten der Besorgnis. Ihr Gesichtsausdruck zeigt Entschuldigung. »Es ist mein Körper und ich bestimme, was damit passiert. Ich will das kontrollieren, was ich kontrollieren kann. Was in mir passiert, kann ich nicht ändern, aber das Drumherum.«

    Es ist nicht so, als könnte ich sie nicht verstehen, doch der Gedanke, dass sie mich in ein paar Monaten allein lassen wird, schmerzt mich so sehr, dass ich ihr ihren Wunsch nicht zugestehen kann. »Der Krebs bringt nicht nur dich um, Kelly. Er tötet auch uns«, erwidere ich leise. Ich bin mir nicht sicher, ob Kelly klar ist, was es für mich bedeutet, wenn sie mich allein lässt, denn momentan habe ich das Gefühl, ich sterbe mit ihr.

    Zwei Wochen sind seit der Diagnose ihres Bauchspeicheldrüsenkrebses vergangen. Seither verstecken wir uns, zweifelsohne in dem hoffnungslosen Versuch, die Zeit anzuhalten, in einer kleinen Berghütte mitten im Wald, der nur zwei Stunden von Seattle entfernt liegt. Wir gönnen uns diese Auszeit einfach, solange Kelly noch gute und schmerzfreie Tage hat, und weil wir beide erst lernen müssen, mit dieser Situation umzugehen; mit ihr zu leben, so lange die Zeit, die allmählich zu meinem schlimmsten Feind mutiert, es uns ermöglicht.

    »Du musst mich gehen lassen, Marc«, flüstert Kelly mit Tränen in den Augen. »Irgendwann wirst du eine andere Frau finden, mit der du Kinder bekommst und alt wirst. Ihr werdet gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten, der uns verwehrt wird. Du wirst mit ihr lachen und weinen …«

    »Hör auf …«, unterbreche ich sie.

    »… Du wirst dich mit ihr streiten, dass die Fetzen fliegen, ihr werdet euch so sehr hassen, dass ihr merkt, wie sehr ihr euch liebt und dann werdet ihr den besten Versöhnungssex haben, den es auf der ganzen Welt gibt«, fährt Kelly unbeirrt fort. Ich verkneife mir den Kommentar, dass ich mit keiner anderen Frau schlafen möchte außer mit ihr, weil ich sie dann wahrscheinlich angeschrien hätte.

    »Mit ihr wirst du aber auch über diese Dinge sprechen müssen, wie wir beide jetzt. Es ist wichtig, dass du ihr Aufmerksamkeit schenkst und ihre Wünsche respektierst und dass du dir Gedanken darüber machst, was du dir für deinen Tod vorstellst, damit sie im Falle des Falles für dich entscheiden kann. Weil ich dich nicht vor vollendete Tatsachen stellen möchte, habe ich dir von meiner Verfügung erzählt und … Marc? Hörst du mir überhaupt zu? Marc? Marc?«

    »Marc!«

    Ruckartig schlug ich die Augen auf.

    »Oh Gott!«

    Ich blickte in Amys Gesicht, das sie halb mit ihrer vor den Mund geschlagenen Hand verdeckte. Ihre Wangen waren tränennass. Ich spürte, wie mein Herz stolperte, als es schneller zu schlagen begann. Ich wollte mich aufsetzen und meine Arme um ihre bebenden Schultern legen, um sie zu trösten und ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebte und dass sie durch ihre bloße Anwesenheit meine Einsamkeit vertrieben und meine rastlose Sehnsucht nach Kelly gestillt hatte. Doch da mein Geist in einem schwer verletzten Körper gefangen war, konnte ich nichts dergleichen tun und war stattdessen zu blinzelnder Untätigkeit verdammt.

    »Was ist denn bloß passiert?«, fragte Amy mit zitternder Stimme, die sich deutlich vom allgemeinen Gemurmel abhob. Vielleicht lag es daran, dass ich meinen Blick auf sie fokussiert hatte oder dass mein Gehirn nicht dazu fähig war, alle Reize aufzunehmen und deshalb einen Großteil ausblendete.

    Ich wusste nicht mehr genau, wie ich mir die Verletzungen zugezogen hatte; hatte noch nicht mal eine vage Erinnerung. In diesem Moment war mir das aber gar nicht so wichtig. Ich war einfach nur erleichtert, dass Amy hier war, die meine Hand mittlerweile mit der ihren umschlossen hatte. Ich konnte spüren, dass ihre Haut vor lauter Angst und Nervosität eiskalt war.

    »Bitte sag mir, dass du es schaffst. Du musst kämpfen, Marc, hörst du? Wir brauchen dich doch!« Ihre Tränen, die in wahren Sturzbächen aus ihr hervorbrachen, perlten von ihrem Kinn ab. Ich hatte das große Bedürfnis, sie zu mir zu ziehen und ihren Schmerz mitsamt ihren Tränen hinfort zu küssen.

    »Er kann nicht sprechen, Amy«, sagte Tom, der plötzlich an meiner anderen Seite aufgetaucht war. »Wir müssen jetzt mit ihm zum CT«, fügte er etwas leiser hinzu.

    »Was ist, wenn du stirbst?«, fragte Amy, als hätte sie Tom nicht gehört. »Du hast nie gesagt, was du möchtest. Darüber haben wir nicht geredet! Was soll ich denn tun? Sag mir, was ich ohne dich machen soll! Wo willst du beerdigt werden? Ich weiß das alles nicht! Du darfst nicht sterben, du darfst nicht sterben, nein, du darfst nicht sterben!« Ihre Stimme war schrill und schmerzte in meinen Ohren.

    Es war seltsam, dass ich ausgerechnet von Kelly und dem Moment geträumt hatte, in welchem sie mich darum gebeten hatte, sie sterben zu lassen. Nun steckten Amy und ich in der gleichen Situation, nur dass ich bisher keinen Wunsch zu diesem Thema geäußert hatte. Ich hatte auch keine Patientenverfügung, weil ich bis heute davon überzeugt gewesen war, dass das Schicksal mir ein langes und gesundes Leben an der Seite meiner Frau bescheren würde. Nun war ich zweifelsohne wider Willen eines Besseren belehrt worden.

    Wie gern hätte ich Amy beruhigt und ihr zugeflüstert, dass sie all diese Dinge stellvertretend für mich entscheiden sollte. Ich hatte im Gefühl, dass sie es intuitiv richtigmachen würde. Vieles hätte ich lieber getan, als bewegungsunfähig auf dieser unbequemen Liege zu fristen und schweigsam mit anzusehen, wie die Frau, die ich liebte, allmählich die Nerven verlor.

    Amy begann, unkontrolliert zu zittern. »Nein, nein, nein«, sagte sie immer wieder, während sie vor meinem Bett auf und ab tigerte. Ich flehte Tom mit meinen Blicken an, mit ihr zu reden, was er tatsächlich auch tat. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sprach beruhigend auf sie ein.

    »Amy, ich werde alles in meiner Macht Stehende für ihn tun und dich über alles auf dem Laufenden halten lassen. Marc wird kämpfen, genau wie wir.«

    »Warum passiert das nur?«, schluchzte sie, als sie sich kurz gegen seine Brust lehnte. Ihr Blick lag über seine Schulter hinweg endlich auf mir und begegnete dem meinen zum ersten Mal richtig, seit ich wach war. Amy ruhte sich nicht lange aus und löste sich von Tom, um an mein Bett zurückzukommen. Zärtlich strich sie mit ihren Händen über mein Gesicht. Ich schloss für einige Herzschläge die Lider, um ihr zu zeigen, dass ich die Berührung genoss.

    »Gib nicht auf«, flüsterte sie. »Du musst kämpfen. Ich werde hier auf dich warten.« Sie überwand jegliche Distanz zwischen uns und drückte ihre Lippen auf meine, was ein wohlig warmes Gefühl in mir auslöste. Ich liebte es, wenn sie mich berührte und mir zeigte, dass ich der einzige Mann für sie war. Sie war ebenso die einzige Frau für mich – was ein sagenumwobenes Wunder darstellte, da ich nach Kellys Beerdigung das Gefühl gehabt hatte, ein Sterbender unter einem Haufen Lebender zu sein. Als hätte der Tod vergessen, mich abzuholen.

    Viel zu schnell löste Amy sich von mir. So lange es mir möglich war, hielt ich ihren Blick mit meinem fest, als mein Bett von einem Krankenpfleger in Bewegung gesetzt wurde. Ich hoffte inständig, dass wir uns wiedersehen würden.

    Kapitel 2

    Amy

    Eine junge Frau in blauen OP-Klamotten, die ich als Judy – Marcs zugeteilte Assistenzärztin – wiedererkannte, rettete mich aus einem Meer aus umherschwirrenden Menschen, in welchem ich zu versinken drohte, weil ich wie gelähmt war, seitdem Marc fortgebracht worden war. Ihre leuchtend roten Locken waren wie ein Wegweiser für mich, an dem ich mich orientieren konnte. In der Notaufnahme ging es zu wie in einem Bienenstock, was auf mich systemlos und chaotisch wirkte. Jeder schien jedem zu helfen, keine bestimmte Person war für einen bestimmten Patienten zuständig, Schwestern und Pfleger schwirrten umher, Ärzte waren kaum vertreten, und wenn, dann sahen sie extrem

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1