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Anna: Schritt für Schritt ins neue Leben
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eBook270 Seiten3 Stunden

Anna: Schritt für Schritt ins neue Leben

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Über dieses E-Book

Annas Traum ist es, Primaballerina zu werden. Doch ein schwerer Autounfall zerstört nicht nur beinahe ihr Leben, sondern auch ihre Chancen auf die große Tanzkarriere.
Schritt für Schritt kämpft Anna sich zurück ins Leben und auf die Bühne. Bald wird sie sich entscheiden müssen: Ballett oder Liebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Verlag
Erscheinungsdatum18. Dez. 2017
ISBN9783732011926
Anna: Schritt für Schritt ins neue Leben

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    Buchvorschau

    Anna - Justus Pfaue

    Titelseite

    Inhalt

    Kapitel 1 – Philipp!« Philipp Pelzer …

    Kapitel 2 – Als Anna aus …

    Kapitel 3 – In den Tagen …

    Kapitel 4 – Stefans Gehilfe, Josef, …

    Kapitel 5 – Professor Happe registrierte …

    Kapitel 6 – Wochenlang setzte Anna …

    Kapitel 7 – Einen Monat nach …

    Kapitel 8 – Anna hatte sich …

    Kapitel 9 – Jakob schien alles …

    Kapitel 10 – Um die Jahreswende …

    Kapitel 11 – Das Prüfungskomitee bestand …

    Kapitel 12 – Fast ein Jahr …

    Kapitel 13 – Chaos war für …

    Kapitel 14 – An der Nebenpforte …

    Kapitel 15 – Schon den zweiten …

    Kapitel 16 – Ute war reichlich …

    Kapitel 17 – Dr. Gremillon war …

    Kapitel 18 – Auf der Bühne …

    Kapitel 19 – Herzlich war der …

    Kapitel 20 – Ein bisschen übergangen …

    Kapitel 21 – Anna fand am …

    Kapitel 22 – Ganz früh, als …

    Kapitel 23 – Der Friede bei …

    Kapitel 24 – Stefan arbeitete allein …

    Kapitel 25 – Anna war in …

    Kapitel 26 – Direktor Fabian erhob …

    Kapitel 27 – Das Einzige, was …

    Über den Autor

    Weitere Infos

    Impressum

    vign

      1

    Philipp!«

    Philipp Pelzer drehte sich ohne Eile um und sah zu dem blauen Pick-up, der mit laufendem Motor im Gang des Parkhauses stand. Er war nicht gerade begeistert, seine Mutter am Steuer des Lieferwagens zu sehen.

    Ute Pelzer winkte ihm energisch und rief: »Mach schon! Steig ein!«

    Philipp fertigte schnell seine letzte Kundin ab: »Zwei Euro fünfzig, die Firma dankt!«, leierte er einen seiner Sprüche runter. Dann rannte er zum Wagen und auf die Fahrerseite zu seiner Mutter.

    »Ich hab erst das Geld für zwei Fahrstunden zusammen«, maulte er und sah sie trotzig an.

    Philipp war fast achtzehn Jahre alt und in der Schule eher unauffällig. Vor Kurzem hatte er eine Leidenschaft entdeckt, die die Familie mit großer Gelassenheit über sich ergehen ließ: Autofahren. Philipp hatte beschlossen, so schnell wie möglich seinen Führerschein zu machen. Denn erst mit dem in der Tasche, dachte er, sei er ein echter Mann. Den Antrag und das nötige Foto hatte er schon vorbereitet, aber die nötigen Fahrstunden fehlten noch.

    Jetzt stand er vor dem blauen Lieferwagen und war gekränkt, weil ihm seine Mutter die Aussicht auf eine private Fahrstunde verdorben hatte. Aber es kam noch schlimmer.

    Ute Pelzer zeigte auf die Einfahrt des Parkhauses, wobei die bunten Armreifen an ihrem Arm klimperten, und sagte: »Dein selbst erfundener Job hier gefällt mir überhaupt nicht!«

    Immer, wenn Ute ernsthaft böse wurde, betonte sie jede einzelne Silbe. Das hatte sie von ihrer Mutter geerbt. »Wenn sie dich erwischen, bekommst du deinen Führerschein nie!«

    Damit hatte sie recht. Philipp fuhr im Parkhaus die Wagen von Kunden, die in der Dunkelheit und zwischen den Betonwänden der engen Rampen ins Schwitzen kamen, an die freien Stellplätze.

    »Da bekomme ich jede Menge Trinkgeld und auch noch Fahrpraxis«, sagte er.

    »Aber ohne Führerschein«, sagte Ute. »Und jetzt rein mit dir! Anna wartet schon!«

    Philipp änderte seine Taktik und versuchte es mit Erpressung. »Nur, wenn du mich fahren lässt.«

    Jetzt wurde seine Mutter richtig böse. »Mach erst deinen Führerschein! Und wenn ich dann den Wagen nicht brauche, kannst du ihn haben. Vorher auf gar keinen Fall! Und damit das klar ist: Du wirst den Pick-up auch nicht heimlich fahren, verstanden!«

    Schmollend stieg Philipp ein: »Papa wollte doch Anna abholen.«

    »Schnall dich an! Papa sitzt in der Dienststelle des Landesdenkmalpflegers fest! Sonst noch Fragen?«

    Jetzt war auch Philipp sauer. Kurz angebunden antwortete er: »Nein.«

    Die Fahrt verlief in finsterem Schweigen. Ute, die Realistin in der Familie, kochte innerlich vor Wut über ihren Sohn.

    Kaum zu fassen! Keine Ahnung, wo er das herhat, dachte sie. Von Stefan bestimmt.

    Stefan Pelzer … Vor knapp 20 Jahren hatte sie ihn auf der Kunstschule kennengelernt und bald darauf geheiratet. Und sie hatte es bis heute nicht bereut. Sie lächelte ein wenig in sich hinein und dachte an den Anfang ihrer Ehe.

    Nach der Hochzeit hatte Ute ihre Begabungen richtig entfaltet. Sie töpferte und sie schweißte Eisenschrott zu modernen Skulpturen zusammen. Das Kunsthandwerk machte sie glücklich und Stefan bewunderte ihre Arbeit. Dann wurde die Künstlerin Mutter: Erst kam Philipp und fünf Jahre später folgte Anna. Eine ganze Weile sagten Stefan und Ute zueinander »Papi« und »Mami«, aber das gab sich dann.

    Und wegen Anna hatten sie auch ihr erstes Zerwürfnis. Nachdem Ute auch für die Kleine alle Sachen für den ersten Schultag gekauft hatte, hatte sie ihren Stefan angesehen und gesagt: »Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, aber das Geld reicht hinten und vorne nicht.«

    Er hatte sie angelächelt und seinen Lieblingsspruch gesagt: »Wird schon reichen. Es hat immer gereicht. Mehr als ein Kotelett kann keiner essen.«

    Sie hatte tagelang gegrübelt, wie sie ihren weltfremden Mann wachrütteln konnte, und dann war sie auf die Idee gekommen, selbst etwas zu tun.

    Die Idee, die dann schließlich das Leben der Familie veränderte und die finanzielle Lage deutlich besserte, kam ihr eines Nachts, kurz nach dem Tod ihrer Mutter.

    Sie war aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte ihren Mann wachgerüttelt und gefragt: »Weißt du, was der Blumenschmuck auf Omas Sarg und der Kranz gekostet haben?«

    »Wenn du so fragst, war er bestimmt teuer«, brummelte Stefan schläfrig.

    »So meine ich das nicht! Daran ist was zu verdienen! Verstehst du das?«

    »An Beerdigungen?« Jetzt war Stefan entsetzt und mit einem Schlag hellwach.

    »Zum Beispiel. Und an Geburten und Taufen und Geburtstagen und Konfirmationen …«

    Stefan war auch nicht auf den Kopf gefallen. Er hatte Utes Idee begriffen und dachte selbst weiter: »Verlobungen, Hochzeiten … Und die Leute kaufen ja auch sonst zu jeder Gelegenheit Blumen. Glaubst du denn, dass Omas Geld als Startkapital ausreicht?«

    »Leicht«, sagte Ute und bei dem Gedanken, wie lange ihre Mutter daran gespart haben mochte, kamen ihr die Tränen.

    Das Blumengeschäft, das ihnen nach langer Suche in der ganzen Stadt dann schließlich von einem Makler vermittelt worden war, mauserte sich unter Utes tatkräftiger Leitung tatsächlich bald zu einem gesunden Unternehmen und mit der Familie ging es finanziell aufwärts.

    Ja, und ausgerechnet sie musste einen Sohn haben, der den Realitäten des Lebens völlig ahnungslos gegenüberstand.

    Ute seufzte, als sie vor der Ballettschule hielt und nun ihre Tochter auf sich zukommen sah. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie grazil Anna auf den Pick-up zuschritt.

    Als Stefan Pelzer spät am Abend von seiner Dienststelle nach Hause kam, wollte er sofort in Annas Zimmer gehen, um den allabendlichen Gutenachtkuss einzuheimsen.

    Er hatte schon die Hand an der Klinke, da rief Ute: »Sie schläft schon.«

    Stefan zögerte. Er war runde 40 Jahre alt, trug einen erstklassig gebürsteten Schnurrbart und war von Beruf Restaurator. Er liebte seinen Beruf und konnte sich bei der vielfältigen und abwechslungsreichen Arbeit entfalten. Wenn er etwas reparierte, das im Laufe der Jahre und Jahrhunderte Schaden erlitten hatte, war er Maler, Bildhauer, Stuckateur, Maurer, Tischler oder Vergolder, je nach Auftrag. Und er war nicht nur irgendein Restaurator, sondern einer mit einem guten Auge, Fingerspitzengefühl und Fantasie. Deshalb sagte der Oberlandesdenkmalpfleger hin und wieder: »Sie sind mein bestes Pferd im Stall«. Denn wenn Stefan Pelzer Denkmäler, Reliefs, Skulpturen, Ornamente und Bemalungen reparierte, dann war auch auf den zweiten und dritten Blick nichts von seiner Arbeit zu sehen.

    Stefan legte ein Ohr an die Tür zum Zimmer seiner Tochter. Was er hörte, machte ihn froh, denn er war einer jener Väter, die unbelehrbar daran glaubten, dass Töchter ohne väterliche Gutenachtküsse nicht gut schlafen. Auch wenn sie schon dreizehn waren.

    Anna schlief jedenfalls noch nicht. Sie hatte einen kräftigen Schluckauf, was ihm leidtat. So schlich er ins Zimmer und fragte leise: »Du schläfst noch nicht?«

    »Hicks!«, antwortete sie. »Ich hab zu viel Spaghetti gegessen.«

    Er grinste und setzte sich auf den Bettrand. »Sind denn Nudeln für eine angehende Primaballerina die richtige Nahrung? Ich denke, du wolltest bloß von Salat und Obst leben, Anna Pelzer.«

    »Hicks, Papa, manchmal bist du richtig albern. Erzähl mal, was du heute gemacht hast. Wie war’s denn?«

    Es tat ihm gut, dass sie sich um ihn Gedanken machte, dass sie Interesse an ihm zeigte. Aber sollte er ihr mit Fachbegriffen erklären, dass er mit der Pinzette stundenlang fünf verschiedene Farb- und Schmutzschichten vom Holz einer dreihundertjährigen Madonnenstatue abgetragen hatte, um die ursprüngliche Tönung freizulegen? Das langweilte sie sicher. Also sagte er nur: »Manche Tage sind ganz unbedeutend. Ich hab nur geschwatzt und bin zu gar nichts gekommen.«

    Sie schien sich mit dieser Antwort abzufinden und kam auf ihre eigenen Probleme zu sprechen: »Du, hicks, Frau Breuer glaubt, dass ich eitel und ehrgeizig bin und unbedingt die Hauptrolle in dem neuen Ballett tanzen will. Hicks. Wie findest du das?«

    »›Frau Breuer glaubt‹ …, auf dich kommt es an«, tadelte er. »Willst du oder willst du nicht? Und was ist das überhaupt für ein Ballett?«

    »Die Puppenfee, eine Ballett-Pantomime in einem Akt. Für Weihnachten. Und Frau Breuer hat gesagt, dass ich es könnte und dass meine Linie wundervoll sei. Sie meint, ich hätte das Zeug zur klassischen Tänzerin.«

    Stefan war in diesem Moment sehr stolz auf seine Tochter und musste sich selbst bremsen, um das nicht zu zeigen. Deshalb fragte er nur: »Und wie beurteilst du deine Leistungen?«

    »Ich denke, Elke ist besser – ihr Adagio bestimmt.«

    »Ihr was?« Stefan wusste zwar, wie seine Tochter beim Pas de bourrée dessus, dessous oder beim Jeté en tournant par terre die Füße setzte und die Arme hielt, aber ein Adagio war ihm neu.

    »Der weibliche Charme im Pas de deux.« Ihre Stimme klang belehrend und altklug.

    »Also, Charme hast du auch!« Stefan war sich seines Urteils hundertprozentig sicher. Für ihn war seine Tochter die Liebenswürdigkeit in Person.

    Anna rückte nah an ihn heran und überlegte lange, ehe sie fragte: »Meinst du, dass ich über Nacht, hicks, ehrgeizig werden kann?«

    »Über Nacht? Nein, sicher nicht. Aber ich würde mich freuen, wenn du Erfolg hättest.«

    Etwas Ehrgeiz machte sich bei Anna nun doch bemerkbar. »Papa – du siehst doch zu, wenn es so weit ist, oder?«

    »Klar!«, antwortete er, dankbar, dass sie ihn dabeihaben wollte.

    Anna nutzte die Chance, weil sie merkte, dass ihr Vater ganz hingerissen war: »Und morgen nach der Probe holst du mich ab! Hicks! Diesmal aber wirklich.«

    »Ich versuche es«, sagte er vorsichtig, weil er ihr eine mögliche Enttäuschung ersparen wollte. »In meinem Beruf kann ich nicht sofort alles aus der Hand fallen lassen, wenn es mir passt.«

    »Hicks!«, sagte Anna diplomatisch.

    Er gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn und stand auf. »Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Sieben Schluck und der Schluckauf ist weg.«

    Anna schüttelte den Kopf. »Wer zu viel isst, muss eben leiden.«

    »Dann versuch, eine halbe Minute lang die Luft anzuhalten – dann geht er vielleicht auch weg.« Und im Türrahmen stehend sagte er noch: »Gute Nacht, Anna Pelzer.«

    Stefan war mit dem Tagesausklang hochzufrieden. Seine Tochter, was für ein Mädchen! Eine Tänzerin, eine Primaballerina vielleicht sogar! Das hatte keiner vorausgesehen an dem Nachmittag, an dem sie alle im Garten von Utes Mutter gesessen hatten. Anna und Philipp waren durch den Garten getollt, und plötzlich hatte Oma gesagt: »Anna latscht richtig! Ihr müsst mal etwas für sie tun.«

    Besorgt hatte Stefan auf die Beine von Anna gesehen und erleichtert gesagt: »Plattfüße hat sie aber nicht.«

    »Das habe ich auch nicht gesagt.« Oma hatte tief Luft geholt und erklärt: »Das Mädel läuft nicht gra-zi-ös!« Da war jede Silbe betont – Oma meinte es also sehr ernst: »In meiner Jugend nahmen Mädchen Ballettstunden! Das war gut für ihren Gang und für ihre Haltung!«

    Stefan hatte das Gespräch schnell vergessen. Aber Ute hatte sich nach Ballettschulen und nach den Preisen für Unterricht, Spitzentanzschuhe und Trainingskleidung erkundigt. Denn natürlich wünschte sie sich eine graziöse Anna, immerhin war Ute die Tochter ihrer Mutter.

    Unter dem Strich stand dann aber eine Summe, die vom Familienetat nicht verkraftet wurde. Ute hatte das ihrem Stefan schonend mitgeteilt, aber seine Antwort hatte genau am Problem vorbeigezielt: »Dann soll Oma das doch bezahlen. Sie hat dich ja auch auf die Idee gebracht.«

    Ute hatte daraufhin nur ein einziges Wort gesagt: »Ach!«

    Jetzt hatte Stefan geahnt, dass er ihr aus irgendeinem Grund in diesem Fall nicht gewachsen war, und hatte eine Erklärung verlangt: »Was heißt ›Ach‹?«

    »Das heißt, dir macht es also nichts aus, wenn deine Tochter wie ein Trampel läuft?«, hatte Ute hinterhältig gefragt.

    »Also – mir ist noch nie aufgefallen, dass Anna ›latscht‹, wie Oma sagt. Anna läuft ganz normal, nicht anders als ich.«

    Genau darauf hatte Ute gewartet. Jetzt spielte sie ihren Trumpf aus: »Ja, genau das ist es ja. Du stakst! Damals auf der Kunstschule haben wir Mädchen dich hinter deinem Rücken immer ›Schlenkerbein‹ genannt.«

    Nach diesem Streit hatte Stefan eine Zeit lang seine Denkmäler sehr aufgebracht und unwirsch restauriert, denn vorher hatte er nichts vom »Schlenkerbein« gewusst. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, machte er vorsichtig Testschritte und setzte seine Füße ganz bewusst auf. Er probte seinen Gang vor dem Spiegel und fühlte sich für alle Zukunft aus dem Tritt gebracht. Außerdem studierte er unauffällig die Beine, Füße und Schritte seiner Anna. Er beobachtete ihr Laufen, Rennen und Hopsen und er kam zu dem Schluss: Wozu Ballett?

    Immerhin war das Ganze außerdem noch ein finanzielles Problem. Dann aber war im Juli die Oma gestorben, ein Ereignis, das den Sommer überschattet hatte. Ute hatte viel geweint, und dass Oma ihnen eine Erbschaft hinterlassen hatte, mit der aus der latschenden Anna eine graziös schreitende junge Dame werden konnte, hatte ihr den Verlust auch nicht leichter gemacht.

    Und dann hatte Ute eines Nachts die Idee mit dem Blumengeschäft gehabt. Seitdem ging es ihnen gut und Anna wurde Schülerin in der kleinen, aber feinen Ballettschule von Frau Breuer.

    Der Austausch von Gutenachtwünschen mit Philipp lief rauer ab als der mit Anna. »Kasernenmäßig«, sagte Philipp immer. Ute hatte das schon bemängelt: »Der Junge braucht auch mal eine Umarmung vom Vater.«

    Stefan hielt sein Familienleben für intakt und sagte zu dieser Kritik nur: »Soll ich einen Achtzehnjährigen knutschen? Dafür hat er dich.«

    Und weil er meinte, dass ein markiger Vater Vorbild genug für einen Sohn sei, machte er auch diesen Abend nur zackig Philipps Tür auf, steckte kurz den Kopf ins Zimmer und rief: »Gute Nacht – und Licht aus!«

    Einen Teil seiner Einkünfte bestritt Philipp aus Dienstleistungen für das Blumengeschäft seiner Mutter, indem er Sträuße, Gebinde und Kränze zu den jeweiligen Kunden brachte. Diese einträgliche Arbeit hatte aber einen Nachteil. Da Philipp noch keinen Führerschein hatte, musste er für den Pick-up immer einen Fahrer engagieren – Andreas. Andreas war neunzehn und ein guter Freund. Und: Er hatte einen Führerschein.

    Heute Nachmittag packten die beiden Jungen drei Kränze auf den Wagen, dann flogen im wahrsten Sinne des Wortes sechs eingetopfte Bäumchen für die Aussegnungskapelle auf die Ladefläche und schließlich landete der Sargschmuck wie ein Fallschirm neben den breiten Schleifen der Trauerkränze.

    Als Philipp die Seitenwände des Lieferwagens hochklappte und mit den Haken sicherte, kam Ute aus dem Laden und fragte Andreas: »Du fährst, ist das klar?«

    »Klar, Frau Pelzer«, beeilte sich Andreas zu antworten.

    »Hast du gehört, Philipp?« Sie wandte sich an ihren Sohn.

    Der blickte zu Boden und grummelte etwas Unverständliches.

    »Und fahrt bitte bei der Ballettschule vorbei und holt Anna ab. Papa schafft’s nicht. Sie soll sich ihren Schal richtig umbinden.«

    »Ich weiß Bescheid, ich kenn die Welt«, spöttelte Philipp. »Sonst niest sie vielleicht noch, und Papa behauptet dann, wir hätten ihr eine Lungenentzündung an den Hals gewünscht.«

    Um dem Streit, der nach dieser Bemerkung in der Luft lag, aus dem Weg zu gehen, setzte sich Andreas schnell hinter das Steuer und startete den Motor. Philipp kletterte auf den Beifahrersitz, kurbelte das Fenster herunter und hängte lässig den Ellenbogen heraus. Andreas fuhr an.

    »Vertauscht nicht die Karten an den Sträußen«, rief Ute hinterher. »Und wenn ihr nachher Hunger habt, zu Hause ist genug im Kühlschrank.«

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      2

    Als Anna aus der Tür trat, sah sie den blauen Lieferwagen schon vor dem Haus der Ballettschule stehen. Sie seufzte: »Wie immer! Papa kann nicht!«

    Philipp stieg mit einer Körperhaltung aus dem Wagen, die Außenstehenden eindeutig signalisierte, dass jetzt der Boss kam. »Genau. Aber wie ich ihn kenne, hat er dir das auch nicht versprochen.«

    Andreas rutschte für den kurzen Schwatz hinüber auf die Beifahrerseite und zupfte Annas eingedrehte Korkenzieherlocken lang. »Wer hat dir denn die Frisur eingeredet?«

    »Frau Breuer«, gab Anna kurz zurück.

    »Die ist lustig.«

    »Hört mal auf mit dem Kinderkram«, sagte Philipp. »Wir fahren jetzt.« Er lief um den Wagen herum, zog den Startschlüssel ab und hob ihn triumphierend hoch. »Und ich fahre!«

    Anna dachte, sich verhört zu haben: »Was? Das geht doch gar nicht!«

    »Du weißt, dass ich fahren kann.«

    Anna versuchte es mit Vernunft: »Weiß ich – aber nicht auf der Straße!«

    »Was willst du«, schlug sich Andreas auf Philipps Seite: »Fahren kann er und den Schein bekommt er doch sowieso bald.«

    »Dann macht das ohne mich«, rief Anna. »Ich nehme den Bus.«

    »Benimm dich nicht so zickig!«, fuhr Philipp seine Schwester an: »Los, steig ein!«

    Anna schien auf dem Bürgersteig angewachsen zu sein. »Kommst du mit, wenn ich fahre?«, fragte Andreas.

    Philipp ließ die Autoschlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln. »Andreas. Ich fahre und du bekommst dafür das Geld für die

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