Schlüsselgewalt
Von Norbert Klugmann
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Buchvorschau
Schlüsselgewalt - Norbert Klugmann
Norbert Klugmann
Schlüsselgewalt
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2004 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
ISBN 978-3-8392-3146-3
1
Heute stieß er sich nicht den Kopf. Daran erkannte er, dass er im Begriff war, sich im Keller wie zu Hause zu fühlen. Ein Keller ohne elektrisches Licht – man konnte das Loblied auf die goldene Vergangenheit auch übertreiben. Vier Wochen hatten sie das altmodische Spiel gehorsam mitgespielt und dann für 5,99 Euro eine Stablampe aus dem Baumarkt geholt. Seitdem mussten sie mit den Flaschen nicht jedes Mal zum nächsten Kerzenleuchter pilgern. Verblasste Tintenschrift, abgeblätterte Kreide, alles in den Schriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zuerst war Grünfeldt mitgekommen, um die jungen Helfer einzuweisen. Aber wer 70 Jahre seines Lebens dem Wein und dem Handel mit Wein gewidmet hat, ist nicht fähig, sich vorzustellen, was man alles nicht wissen kann. Unter der Wucht der Persönlichkeit des Patriarchen waren sie in die Knie gegangen, hatten sich klüger gegeben, als sie waren. Seitdem stiegen sie zweimal pro Woche in die Katakomben hinab. Sie standen nicht unter Zeitdruck, bis zum Jubeltag würde es noch ein halbes Jahr dauern. Alles, was jünger war als 1950, lagerte in Holzkisten oder Regalen und gehorchte einem Ordnungsprinzip, das sich auch dem begriffsstutzigsten Archivar erschloss.
Eine Wissenschaft für sich waren nur die Kostbarkeiten. Weine, die älter als 80 Jahre waren. Ein Lafite, der den Geschützdonner des Ersten Weltkriegs gehört hatte; ein Yquem, der schon das Pensionsalter erreicht hatte, als sich Deutsche und Franzosen 1870 die Kugeln um die Ohren schossen; feinste Rieslinge vom Rhein, man hätte mit ihnen auf die Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests anstoßen können.
Die älteste Kostbarkeit stammte aus dem Jahr 1834, und sie waren mit der Inventur erst halb fertig. Mittlerweile hatte ihn der Ehrgeiz gepackt. Was zuerst nur wie ein Job ausgesehen hatte – mit acht Euro pro Stunde nicht gerade fürstlich entlohnt – wuchs sich zu einer Beschäftigung aus, der er gerne nachging – und Philipp auch. Manch ein Weinfex hätte eine Kiste seiner besten Vorräte hergegeben, um sich eine Stunde in diesen Räumen aufhalten zu dürfen. Schade, dass sich keine Flasche aus dem Jahr 1804 finden würde. Aber der alte Weinhändler hatte betont, dass der Gründer des ehrwürdigen Lübecker Weinhauses in den ersten Jahren von der Hand in den Mund gelebt hatte. Kein Gedanke daran, einzulagern und dem Wein beim Altwerden zuzusehen.
Heute war der neue Raum dran. Niedrig wie alle anderen Keller, aber noch verstaubter. Spinnennetze so dick, dass die Faust nach halbherzigen Schlägen wie von einer elastischen Wand zurückprallte. An den Wänden die obligatorischen Kerzenleuchter. Schwarzes Eisen mit oberschenkeldicken Kerzenstumpen. In der Ecke eine uralte Maschine zum Verkorken. Die Regalbretter ausgetrocknet und durchgebogen, die Flaschen fast unsichtbar unter dem Staub. Lampe aufgestellt, Laptop auf einem Holzfass aufgeklappt, Hemdkragen gegen zwölf Grad Celsius hochgeklappt. Dann begann er zu arbeiten.
Mendel Grünfeldt musste 86 Jahre alt werden, bevor er seinen ersten obszönen Anruf erlebte. Dieser war doppelt kurios, denn der Weinhändler selbst war es gewesen, der die Nummern gedrückt hatte. Am anderen Ende wurde geschnauft und gestöhnt. Grünfeldt blickte auf das Display und sagte: »Kann ich unter dieser Nummer den Marchese erreichen?«
Stöhnen.
»Sie wissen, wer der Marchese ist?«
Dann verstand er die ersten Worte: »Zahnarzt. Gerade zurück. Wünschte, ich wäre tot.«
»Ein verständlicher, aber vorschneller Wunsch, mein Lieber. Komm sofort her. Dann reden wir weiter über das Thema.«
Der Körper lag zwischen zwei Fässern. Ein drittes Fass lag auf seinem Oberkörper, bis vor kurzem hatte es auf seinem Kopf gelegen.
»Was wiegt so ein Koloss«, sagte der Marchese.
»Ein paar Zentner werden es schon sein.«
»Und wie hast du das Fass bewegt?«
»Ich habe mir vorgestellt, es liegt auf einer meiner guten Flaschen. Das verleiht mir Bärenkräfte.«
Sie hatten Felix einen Kerzenleuchter ins Gesicht gestoßen. Alle anderen Leuchter befanden sich an den Wänden, alle Kerzen brannten. Der Schädelknochen war geborsten, aus der Wunde war nicht nur Blut ausgetreten.
»Warum das Fass«?, fragte der Marchese, um selbst fortzufahren: »Vielleicht hat er den Anblick nicht ertragen.«
»Wie geht es deinen Zähnen?«
»Lass uns über etwas Schöneres reden, ja?«
»Ich sollte bei Gelegenheit die Polizei benachrichtigen.«
»Heißt das etwa, du hast noch nicht …?«
»Siehst du hier irgendetwas, das Eile nötig macht?«
Der Marchese blickte den Freund an, so lange, bis Grünfeldt sagte: »Sie werden nichts finden, weil sie nicht danach suchen werden.«
Der Marchese ging, die Polizei kam. An ihrer Spitze Kommissar Waldmeister, seine ersten Worte lauteten: »Mach mal einer Licht an!«
»Das ist wegen dem Wein«, gab ein Kollege zu bedenken.
»Geiz ist das«, murmelte der Kommissar. »Wo steckt unser orientalischer Freund? Zählt wahrscheinlich gerade seine Goldstücke. Was ist«, bellte er den Kollegen an, dessen Gesichtsausdruck er nicht zu deuten verstand.
»Er will Ihnen mitteilen, dass der Orientale hinter dem Krabbenfresser steht«, sagte eine Stimme hinter Waldmeister.
Der Kommissar drehte sich zu Grünfeldt um.
»Humor muss sein«, sagte er und reichte dem alten Mann die Hand.
»Ich habe bei 666 Goldstücken eine Pause gemacht«, sagte Grünfeldt. »Wenn ich nachher weiterzähle, muss ich nur an Sie denken und mir fällt die Zahl 666 wieder ein. Raffiniert, nicht wahr?«
Waldmeister lächelte matt und nahm sich vor, in einem Lexikon nachzuschlagen.
»Wo haben Sie Ihren Lichtschalter versteckt?«, fragte Waldmeister.
»Ich spare, wo ich kann«, sagte Grünfeldt.
»Verstehe«, sagte Waldmeister, »von nichts kommt nichts.«
»Es gibt Ausnahmen. Sehen Sie sich an.«
Waldmeister wurde das Gefühl nicht los, dass ihm die Sache aus den Händen zu gleiten drohte. Erneut forderte er Licht, als Grünfeldt versicherte, dass in diesem Keller kein elektrisches Licht zur Verfügung stehen würde, rief der Kommissar nach Scheinwerfern und Verlängerungskabeln.
Als der Raum in gleißendem Licht schwamm, gab es niemand, der sich der Atmosphäre entziehen konnte.
Kommissar Waldmeister schritt die Regale ab und sagte: »Gibt es irgendeine geheime Regel, die es verbietet, in einem Weinkeller Staub zu wischen?«
»Ja, eine einzige, die Liebe zum Wein«, sagte Grünfeldt.
Der Kommissar musterte den Hausmantel des alten Mannes.
Grünfeldt teilte den Beamten mit, was sie wissen mussten – und kein Wort mehr.
»Mal sehen, ob ich alles verstanden habe«, sagte Waldmeister und übersah, wie die Kollegen die Augen verdrehten. Er fasste nun mal für sein Leben gern zusammen.
»Ihre Firma feiert bald den Zweihundertsten. Zur Feier des Tages wollen Sie endlich mal aufräumen und heuern zwei Knaben an, um hier unten Staub zu wischen und alles auf Vordermann zu bringen. Korrigieren Sie mich, falls ich etwas falsch verstanden habe, was ich allerdings für kaum möglich halte.«
Grünfeldt hob den Arm.
»Das Weinhaus Grünfeldt besteht 200 Jahre. Wir werden feiern, da werdet ihr steifen Nordlichter euch die Augen reiben. Meine Weinvorräte sind in der Stadt an zwei Orten untergebracht. In einer banalen Lagerhalle steht das Gesöff für alle Tage …«
»Beispielsweise für welchen Anlass?«
»Beispielsweise für Ihre Beerdigung. Darf ich fortfahren? Danke. Die andere Hälfte liegt in diesen Kellern, sie sind das Älteste und Beste, was die Stadt zu bieten hat. Sagt Ihnen die Jahreszahl 1452 etwas?«
»Kam die nicht ziemlich bald nach 1451?«
»Acht Gewölbe. Sieben habe ich leidlich im Kopf. Ins achte wurde jahrelang alles geschoben, was zu gut war, zu alt, zu selten, auch zu bizarr.«
»Verstehe«, sagte Waldmeister. »Wäre ich eine Flasche, würde ich hier gelandet sein.«
Er las die Entgegnung im Gesicht des alten Mannes. Sag es, geiferte Waldmeister. Sag es endlich. Es wird dir sonst die Kehle zuschnüren.
Aber Grünfeldt sagte: »Ich habe diesen Raum im Verdacht, dass hier einige Schätzchen lagern. Deshalb waren die Jungen mit der Inventur in den vorderen Gewölben schnell fertig. Letzte Woche ging es hier los.«
»Ohne Licht.«
»Kerzenlicht schont den Wein. Es ist das Licht, das ihm angemessen ist. Seit tausend Jahren.«
»Tausend! Mann! So alt wird kein Polizist.«
»Und wer weiß, wofür das gut ist.«
»Also hat der Killer Wein geklaut«, sagte der Kommissar. »Wo ist die Inventarliste?«
»Im Computer.«
»Computer! Guter Mann, ist das nicht zu modern für Ihren Wein?«
»Mir würde Papier reichen. Aber die Jungen hielten es für eine gute Idee.«
»Okay, das erleichtert die Sache.«
Der Laptop fand sich auf dem Fußboden. Er war zerkratzt, aber funktionsfähig.
Der Arzt lieferte ein Zwischenergebnis: Tod durch mehrfachen Schädelbruch. Tatinstrument vermutlich der Kerzenleuchter oder ein anderer schwerer Gegenstand. Tatzeitpunkt: vor etwa vier Stunden. Keine Spuren eines Kampfes. Keine Gegenstände, die nicht dem Opfer zuzurechnen wären. Alles weitere nach Obduktion und Spurensicherung am Tatort.
»Der viele Staub ist ein Glücksfall«, sagte der Spurensicherer.
»Wenigstens einer, der glücklich ist«, knurrte Waldmeister. »Wo steckt der Zweite?«
Grünfeldt sagte: »Ich verstehe nicht.«
»Der zweite Staublecker. Sie sagten doch, dass Sie zwei …«
»Ich habe Philipp heute nicht gesehen. Felix auch nicht. Die beiden arbeiten selbstständig. Meine Frau lässt sie nur ins Haus.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Kinder ohne Kontrolle an Ihre Superflaschen lassen?«
»Ich verbürge mich für die beiden.«
»Würde ich nie machen. Wenn ich dann mal um Namen und Adressen bitten dürfte.«
»Philipp Bernstorff und Felix von Oldenburg.«
»Witzig. Bernstorff heißt unser Vize-Bürgermeister. Oldenburg heißt der Reeder. Und wo kommen Ihre Kandidaten her?«
»Der eine aus einer Bürgermeisterfamilie. Der andere aus einer Reederfamilie.«
Der Kommissar ließ sein Notizbuch sinken. »Auf Wiedersehen, Durchschnittsfall«, sagte er leidend.
»Arbeiterleichen gehen besser«, sagte Grünfeldt vollkommen ernst.
»Klar. Zur Not tut es auch ein Türke. Da weißt du gleich: Familien-Rache oder Rauschgift und das war’s dann. Und wer ist nun das Opfer?«
Eine halbe Stunde später brach eine Mutter zusammen. Kommissar Waldmeister wollte zwar noch zupacken, aber Ann-Kathrin von Oldenburg fiel schneller.
Um 19 Uhr ließ die Wirkung der Tablette nach. Eine Minute später war er wach. Er schwankte ins Badezimmer. Was er im Spiegel sah, deprimierte ihn zutiefst. Vier Tabletten hatten sie ihm mitgegeben, die Notfallration bis zum nächsten Termin. Er nahm sich vor, den Schmerz auszuhalten. Aber er besaß nicht das Talent, sich abzulenken. Fernsehen kam nicht in Frage. Das Angebot an Büchern war atemberaubend, aber es erforderte einen Geist, der bereit war, auf Entdeckungsreisen zu gehen.
Vor dem Haus parkten keine Polizeiwagen mehr. Trotzdem wartete er noch eine weitere Stunde, bevor er hinunterging. Er wollte in den Wohnraum, aber aus der Küche wehten Düfte, die ihn anzogen wie das Licht die Motte. Jadwiga buk Teigspezialitäten aus der Heimat.
»Du musst essen, Junge«, sagte sie, »Essen ist Leben. Alles weich, nur schlucken. Dazu ein Glas.«
Schon stand alles auf dem Tisch. Die kleine Frau war in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit unterwegs. Wenn man nur ihren Oberkörper sah, konnte man denken, sie würde auf Rollen fahren.
Der Marchese gratulierte ihr zu ihrer Fitness.
Sie sagte: »Das ist doch nichts. Wenn du alte Männer pflegst, musst du stark sein.«
Sie war zwei Jahre jünger als der Mann, mit dem sie seit kurzem verheiratet war, nachdem sie sich vier Jahrzehnte wie Kampfhähne umschlichen hatten.
»Wie nimmt er es auf«, fragte der Marchese.
»Ist ruppig. Es geht ihm nahe. Ich kriege alles ab.«
Grünfeldt war schon ins Bett gegangen. Das war kein gutes Zeichen bei einem Mann, den man zu buchstäblich jeder Tageszeit stören durfte.
Jadwiga sagte: »Ist alt. Wird nicht mehr lange machen. Ich Witwe, werde ihm schnell folgen. Muss auf ihn aufpassen. Soll viel los sein in der Hölle.«
Um null Uhr 38 machte er sich auf den Weg. Er wusste, wie man aus dem Haus in der Glockengießerstraße durch dessen Keller den Weg zum Wein fand.
Am Eingang versorgte er sich mit einer Lampe und wechselte seine Schuhe gegen die eleganten Slipper, Größe 42. Der Tatort war mit Polizeibändern abgesperrt, naturgemäß auch der schmale Gang zwischen Wand und äußerster Regalreihe. Er lag so weit vom Tatort entfernt, dass er nicht zögerte. Der Strahl der Lampe bewies, dass hier seit langem niemand gegangen war. Es gab auch keinen Grund, dies zu tun, am Ende des Ganges lag nichts als die rückwärtige Wand des Gewölbes. Hier stand das älteste von allen Regalen, windschief, nachlässig gestapelte Bretter, Reste, die übrig geblieben waren. Verstaubt wie alles andere in diesem Teil des Kellers.
Lange stand der Marchese vor dem Regal, dann legte er die Lampe auf das nächststehende Regal mit Flaschen und machte sich an die Arbeit. Der Abbau dauerte weniger als fünf Minuten. Seine Hände erinnerten sich an die Tricks und Griffe, die die Prozedur abkürzten.
Der Durchgang war mannshoch und schmal, nur zu durchqueren, wenn man sich seitlich hindurch schob. Er vergaß die Lampe nicht.
500 Flaschen, die Hälfte Magnums, drei Viertel rot. Für die schlechteste von ihnen hätte er jeden Weinkenner mitten in der Nacht aus dem Schlaf klingeln dürfen. 500 Flaschen, die in der Superliga des Weins mitspielten. Von einem 1812er-Lafite bis zu legendären Kaliforniern, von denen bis heute offiziell nicht bekannt war, ob sie jemals erzeugt worden waren. Dieser Schatz stellte einen immateriellen Wert dar. Natürlich besaß jede einzelne Flasche ihren Preis, den man in die Höhe steigern oder gleich einem der 20 Sammler anbieten konnte, die für Angebote in solchen Dimensionen in Frage kamen. Ein einziges Mal hatte der Marchese die definitive Zahl hören wollen. Der Trip nach Japan, das winterliche Bad in den heißen Quellen, um zwischen den Gelagen Kopf und Körper wieder klar zu bekommen. Unvermittelt hatte er angefangen, aufzuzählen, und der Gastgeber hatte in Sekundenfrist erkannt, woher der Wind wehte. Lebendigere Augen hatte der Marchese in diesem Gesicht vorher und hinterher nie wieder gesehen. Während er schon 150 Flaschen aufgezählt hatte, redete er sich immer noch ein, dass alles ein Spiel sei, dass er jederzeit schweigen könne. Aber da waren die Augen seines Gastgebers und das Wissen des Marchese um die Sammlung dieses Magnaten, der sich als junger Mann vorgenommen hatte, die größten europäischen Lagen zu besitzen; als er erkennen musste, dass ihm dies nicht gelingen würde, hatte er die Lagen in Flaschen füllen lassen und palettenweise in seinen Stammsitz in den südlichen Bergen schaffen lassen.
500 Namen, der Marchese hatte beim Aufzählen nicht häufiger als viermal gezögert. Nach dem letzten Namen sagte er: »Wir spielen nur ein Spiel. Wir nennen eine Zahl, dann vergessen wir das Spiel. Wir haben es nie gespielt.«
Der Gastgeber nannte die Zahl. Er erhöhte sie, die letzte Zahl, die er nannte, war doppelt so hoch wie die erste.
Der Marchese verneigte sich, so gut man dies in einer heißen Quelle sitzend tun kann. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Ich fühle mich tief geehrt.«
Der Gastgeber sagte: »Sie kennen die Wege, auf denen ich zu erreichen bin. Bevor Sie mich verlassen, wird Sie mein Sekretär den Weg wissen lassen, den Sie noch nicht kennen, weil ihn nur zwei Menschen kennen. Zwei lebende Menschen. Zögern Sie nicht, diesen Weg zu beschreiten, mag er Ihnen auch seltsam erscheinen. Sie erreichen mich, dann sprechen wir über die Zahl. Vielleicht fallen uns neue Zahlen ein. Größere.«
Dann mussten sie sich gegen Affen verteidigen, die sich lautlos angeschlichen hatten. Für sie war die Nachbarquelle reserviert, meistens hielten sich die Tiere an die Aufteilung. Manchmal nicht, vor allem dann nicht, wenn auf dem Rand der Menschen-Quelle hohe Saftgläser standen, auf deren Rand Orangenscheiben steckten.
500 Flaschen, Ernte und Bilanz eines Sammlerlebens. Die Zahl war seit vielen Jahren konstant. Für jede Flasche, die neu dazukam, musste eine andere weichen. Auf diese Weise stieg der Wert ständig an.
Der Marchese schritt durch die beiden Regalreihen, mehr Platz nahm der Schatz nicht in Anspruch. Alles war unverändert, auch am Durchgang hatte sich niemand zu schaffen gemacht. Aber vielleicht würde es eines Tages jemand gelingen, sich auf einem anderen Weg Zugang zu verschaffen. Er legte die Hand auf eine Flasche, er genoss die Berührung, las andächtig das Etikett.
Er löschte das Licht. Es wurde schwarz und blieb schwarz, auch als sich die Augen auf die neue Lage eingestellt hatten. Es war absolut still, es gab keinen Wind, überhaupt kein Wetter, und obwohl jede einzelne Flasche lebendig war, war er von Bewegungslosigkeit umgeben. Ein Keller voller Ewigkeit. Konnte man sich in besserer Gesellschaft befinden? So stellte er sich das Paradies vor. Ohne Angst. Ohne Schmerz. Im Schwarzen lächelte der Marchese ein schmerzerfülltes Lächeln.
2
Die zweite Tablette fällte ihn. Einmal torkelte er noch auf die Toilette, es war dunkel, und er war nicht wach. Vielleicht stand sie da schon auf dem Tisch. Sicher war er erst, als er gegen acht Uhr die Augen aufschlug. Schlanker Weißweinleib, braunes Glas, kein Etikett. Seit wann betrat Grünfeldt nachts Schlafräume, um seine jüngste Entdeckung zu präsentieren? Er genoss es doch, das Mienenspiel des anderen zu beobachten, den ewig gleichen und ewig reizvollen Schritt von Interesse über die Neugier und das Studieren bis zum Blick in Grünfeldts Gesicht, um herauszufinden, ob der Schatz in den Keller wandern würde oder eine spontane Weinprobe bevorstand.
Als er die Flasche anhob, gab es ein Geräusch. Er hielt den Flaschenleib gegen das Fenster und sah den Schlüssel. Er wusste sofort, dass es sich um einen Schlüssel handelte, obwohl es keinen Grund gab, so einen Gegenstand in einer gefüllten Flasche zu erwarten. Der Schlüssel war lang, bestimmt 15 Zentimeter, sein Bart war klein.
Der Marchese stellte die Flasche auf den Tisch und entfernte sich von ihr. Er glaubte nicht, dass es sich um eine Bombe handelte. Aber er hatte den Gedanken gedacht und erschrak darüber mehr als über die Vorstellung einer realen Bombe.
Zehn Minuten später saß er mit Grünfeldt am Küchentisch, zwischen ihnen stand die Flasche. Jadwiga überwachte am Herd die Herstellung ihres legendären Kaffees. Handgefiltert, weiches Wasser, eine Prise Salz, eine Prise Kakao.
»Ein Schlüssel«, sagte der Marchese.
»Es könnte auch ein Nagel sein.«
»Warum stecken sie den Schlüssel in eine Flasche?«
»Wenn es nun doch ein Nagel ist? Oder einfach ein Stück Eisen, das ein Teil von etwas Größerem ist?«
»Dann müsste es weitere Flaschen geben.«
»Und du sagst, die Flasche hat auf dem Tisch gestanden?«
»Und du hast sie dort wirklich nicht hingestellt?«
Zwei Tassen Kaffee, zwei Pfannkuchen, süß gefüllt und schon gerollt.
Die Männer aßen. Erst als der Korken ploppte, erkannten sie, was hier ablief. Jadwiga roch an der Flasche und wollte sie nicht hergeben, auch wenn Grünfeldt immer ärgerlicher agierte.
»Lass los, du dumme Frau. Du weißt nicht, was das ist.«
»Riesling, nichts besonderes. Wässrig. Wie aufgefüllt.«
Sie ließ Grünfeldt riechen, ohne die Flasche herzugeben. Vorsichtig gossen sie den Wein dann in den Ausguss.
»Nicht alles«, sagte der Marchese.
»Warum nicht?«
»Sage ich dir, wenn ich den Grund weiß.«
Der Schlüssel rutschte aus der Flasche in die Hand des Marchese.
»Sehr gut«, sagte Grünfeldt. »Nun müssen wir nur noch herausfinden, wozu der Schlüssel gut ist.«
Aber vorher unterzogen sie das Haus einer peniblen Untersuchung. Wie hatte jemand unbemerkt hereinkommen können? Grünfeldt und Jadwiga übertrieben es nicht mit der Sicherheit. Dennoch waren alle Schlösser von guter Qualität.
Sie suchten eine Stunde lang, bevor sie aufgaben.
3
Der Mann stieg aus dem Sessel empor, mit beiden Händen stützte er sich auf dem Tisch ab, wurde größer und größer.
»Hören Sie mir gut zu«, knurrte Otto Bernstorff, »ich sage es nämlich nur einmal.«
»Das geht völlig in Ordnung. Ich kann sehr konzentriert zuhören.«
»Ich kenne Sie«, knurrte Bernstorff. »Ich weiß, dass es Ihre Taktik ist, die Menschen bis zur Weißglut zu reizen. Ich gebe zu, dass ich für diese Art, so ekelhaft sie ist, ein gewisses Verständnis mitbringe.«
»Sie meinen, weil sie der Wahrheitsfindung dient.«
»Wahrheitsfindung, nett gesagt. Aber bevor hier einiges in Vergessenheit gerät: Wir reden über Philipp, meinen Sohn. Sie behaupten, er ist ein Mörder.«
»Das habe ich nicht …«
»Sie behaupten, er hat seinen besten Freund getötet. Und all dies werfen Sie einem Jungen vor, der zufällig mein Sohn ist. Stellvertretender Bürgermeister, Arbeitgeber für 80 Menschen, Mitglied in 19 Vereinen, davon viermal Erster Vorsitzender, Präsidiumsmitglied einer großen Volkspartei, nicht ganz ohne Aussicht auf höhere politische Weihen in unserem schönen Heimatland …«
»Vergessen Sie nicht den Ostseerat.«
»Wie bitte?«
»Na, wo Sie doch jetzt im Ostseerat ein großes Rad drehen. Mit 15 Nationen an einem Tisch, Wodka bis zum Abwinken und ein Fässchen saure Heringe, um wieder nüchtern zu werden.«
»Herr Kommissar Waldmeister, ich werde mich über Sie beschweren.«
»Davon würde ich abraten. Das sieht