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Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle
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Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle
eBook610 Seiten18 Stunden

Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle

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Über dieses E-Book

Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem lange zurückliegenden Flugzeugabsturz und dem angekündigten Weltuntergang? Von Zweifeln geplagt, schließt sich eine Frau einer Gruppe Gleichgesinnter an, die diesen Fragen nachgeht. Der schwäbische Kommissar August Häberle und sein Assistent Mike Linkohr treffen bei der Suche nach einem Mörder Menschen, die an den baldigen Weltuntergang glauben - oder davon profitieren wollen. Und alle scheint ein Geheimnis zu verbinden …
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum4. Feb. 2013
ISBN9783839240908

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    Buchvorschau

    Grauzone - Manfred Bomm

    Manfred Bomm

    Grauzone

    Der 13. Fall für August Häberle

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung: Julia Franze

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung des Fotos von: © suze / photocase.com

    ISBN 978-3-8392-4090-8

    Gewidmet allen, die bereit sind, an mehr zu glauben als an die Macht des Geldes und dem Streben nach immer mehr wirtschaftlichem Wachstum. Seien wir aber auch auf der Hut vor allen, die unser Vertrauen in die Geheimnisse und Wunder dieser Welt dazu missbrauchen wollen, uns auf Irrwege zu leiten und Ängste zu schüren, um daraus Kapital zu schlagen. Möge es uns gelingen, den Blick auf das Gute zu richten, damit wir nicht von denen geblendet werden, die den Glauben an das Wunderbare und Unwahrscheinliche verloren haben. Versuchen wir, sensibel zu sein, um die kleinen Signale, die uns geschenkt werden, richtig deuten zu können.

    Denn seit die Menschen begonnen haben, ihren Blick von der Natur und der Schöpfung abzuwenden, um an Maschinen und Computer zu glauben, ist vieles verlorengegangen oder gar verächtlich gemacht worden, was unseren Vorfahren noch hilfreich war. Wir sollten nicht so arrogant sein und meinen, mit unserer Zivilisation das höchste Wissen erlangt zu haben. Vergessen wir nicht, dass die Menschen eines jeden Zeitalters über das, was für sie Vergangenheit war, mit Unverständnis, Verwunderung oder Bestürzung reagiert haben. Nicht das Jetzt und Heute ist das Maß aller Dinge, sondern das, was diesen Planeten nachhaltig schützt und den Menschen Frieden und Zufriedenheit beschert. Bei jeder Begegnung mit der Natur – sei es in den Bergen oder am Meer, in Höhlen oder im Weltall – sollten wir daran denken, dass dieses wunderbare Zusammenspiel aller Systeme kein Zufall sein kann.

    1

    »Einfach Unfug. Verzeihen Sie, wenn ich das so deutlich sage.« Professor Dr. Walter Siegler, Rektor der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt, verstand es wie kein anderer, seine Zuhörer zu faszinieren. Wenn er über Weltuntergang und Aberglaube dozierte, verknüpfte er Wissenschaftliches mit Heiterem. Dann ging er mit erhobenem Zeigefinger vor dem Auditorium auf und ab und brillierte mit geschliffener Rhetorik, die in Verbindung mit seinem herben fränkischen Akzent charmant und sympathisch klang. »Nur weil die Mayas ihren Kalender nicht ins Unendliche fortgeführt haben, wird unser schöner Planet nicht mit Pauken und Trompeten untergehen«, fuhr er fort und sah in lächelnde Gesichter. Rund 50 Personen waren in dieses Kellergewölbe einer ehemaligen Weinhandlung gekommen, um sich in mystisch-gespenstischer Umgebung, zwei Etagen unter der Erdoberfläche, von dem ›Herrn Professor‹ den Weltuntergang erklären zu lassen, wie er realistischerweise durch einen Kometen- oder Asteroiden-Einschlag geschehen könnte, oder wie ihn die großen Religionen auf unterschiedliche Weise prophezeiten. »Natürlich wird eines Tages die Apokalypse über uns hereinbrechen«, wurde Siegler wieder ernst. »Dann nämlich, wenn sich in drei oder vier Milliarden Jahren, also ziemlich bald« – er hielt kurz inne und grinste – »unsere sterbende Sonne aufbläht und alles in ihrer Umgebung verbrennt.«

    Das Lächeln wich aus den Gesichtern. Es war totenstill. Siegler sog die feucht-modrige Kellerluft ein und betrachtete für einen Moment den riesigen, leicht angerosteten mächtigen Leuchter, der mit einem Dutzend brennender Kerzen zur Gewölbedecke hochgezogen worden war. Die Zuhörer saßen in zwei voneinander getrennten, unterschiedlich abgestuften Räumen, die Siegler jedoch beide von seinem Standort aus überblicken konnte. Die Wände waren ziemlich rau verputzt und mit dem Staub von Jahrzehnten behaftet. Den linken Raum, der drei, vier Stufen tiefer lag, zierten an der Rückwand riesige Weinfässer; den rechten beherrschte ein gusseiserner Holzofen, der behagliche Wärme verbreitete. Außerdem gab es von hier aus weitere Gänge und Treppen, die in noch tiefere Bereiche führten. Neben Siegler, der sich an seinem Standort nur wenige Meter bewegen durfte, um nicht aus dem Sichtwinkel der Zuschauer zu geraten, gähnte das schwarze Loch, das an einen Brunnenschacht oder an ein Verlies erinnerte. Es war mit stabilem Eisengitter abgedeckt worden. Ein von Hand betriebener verrosteter Flaschenzug ließ auf die Bedeutung dieses Schachtes schließen: Hier wurden einst Fässer hochgehievt oder in die finstere Tiefe abgesenkt. »Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, jedes Mal, wenn wieder ein Termin zum Weltuntergang ansteht, würde sich die ganze Menschheit darauf vorbereiten«, dozierte Siegler weiter und behielt mit seinen flinken Augen alle seine Zuschauer im Blick, obwohl sie im Halbdunkel flackernder Kerzen und indirekter Strahler saßen. Dort, in der letzten Stuhlreihe, hatte auch eine seiner Dozentinnen Platz genommen: Professorin Dr. Hildtraud Platterstein. Sie galt als kulturell engagiert und hatte ihn dazu überredet, an diesem ungewöhnlichen Ort über ein ungewöhnliches Thema zu reden.

    Dass dieses uralte Kellergewölbe für kulturelle Veranstaltungen genutzt werden konnte, war den jungen Inhabern eines Blumengeschäfts zu verdanken, die das Gebäude gekauft hatten, um oben im Erdgeschoss ihr Geschäft einzurichten. Tief unten aber, hier im außergewöhnlichen Ambiente dieses Kellers, wollte das engagierte Paar den Kulturschaffenden ein Forum bieten.

    Weil der Hochschul-Rektor weithin als begnadeter Redner bekannt war, hatten sie über die kulturell interessierte Professorin Kontakte zu ihm geknüpft. Zwar war Siegler von Haus aus ein Betriebswirtschaftler, doch seine philosophische Ader, vor allem aber seine scharfzüngigen Bemerkungen, machten ihn zu einem beliebten Unterhalter, der – leicht rundlich und kurz vor der Pension stehend – auch mal mit seiner Körpergröße kokettierte, die nur knapp 1,60 Meter betrug. Damit plauderte er sich in die Herzen der Zuhörer und spürte selbst, wie sie ihm an den Lippen hingen.

    »Wenn wir alle glauben würden, dass am 21. Dezember 2012 die Welt unterginge – wie es die selbst ernannten Maya-Kenner uns weismachen wollen«, erhob Siegler plötzlich seine Stimme, »würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen, noch ehe der Planet in Schutt und Asche versinkt. Denn was würde uns daran hindern, unser Vermögen noch schnell zu verprassen? Alles zu verjubeln – und uns einem Art Sodom und Gomorrha hinzugeben? Pech nur, wenn das mit dem Weltuntergang anschließend nicht klappt.« Er pausierte kurz. »Aber manche globale Finanzjongleure haben sich vermutlich schon darauf eingestellt.«

    Er hob wieder den rechten Zeigefinger, als persifliere er einen ›gelehrten Professor‹, also sich selbst. »Ein Bekannter von mir schreibt gerade über den Unfug mit den Weltuntergängen ein Buch, das im Februar erscheinen soll. Ich hab ihm gesagt: Du bist ganz schön optimistisch. Dumm ist’s nur, wenn die Mayas recht haben und im Dezember die Welt untergeht, dann ist alles für die Katz gewesen.« Ein gedämpftes Lachen erfüllte kurz die beiden Kellergewölbe. »Na ja«, sprach Siegler weiter, »auf diesen Einwand hin hat mein Bekannter gesagt, das sei ihm völlig egal. Er habe sich dann zwar mit seinem Text blamiert – aber dass er falsch gelegen sei, merke ja niemand mehr.«

    Einige Zuhörer wagten jetzt, laut zu lachen. Richtigen Beifall gab’s erst, als Siegler zum Ende kam und sich für das Interesse bedankte.

    Es folgte die obligate Aufforderung, Fragen zu stellen, was bei Veranstaltungen dieser Art meist niemand tat, weil keiner den Anfang machen wollte. Siegler ließ noch ein paar Sekunden verstreichen, bis er merkte, dass eine Frau in der zweiten Reihe Blickkontakt zu ihm gesucht und zaghaft die Hand gehoben hatte. Er nickte ihr zu und erteilte ihr mit einem auffordernden Lächeln das Wort.

    »Sie haben das sehr gut erklärt«, begann die Dame, die einen leichten Schweizer Akzent zu unterdrücken versuchte, »doch würde mich interessieren, ob Sie daran glauben, dass uns Menschen Signale aus anderen Bewusstseinsebenen gesandt werden.«

    Siegler spürte, dass er jetzt keine saloppe Antwort geben durfte. Der Kleidung nach zu urteilen, war die Fragestellerin gut situiert. Er schätzte sie auf knapp 50.

    »Diese Fragen«, begann er einfühlsam, »sind so alt wie die Menschheit. In nahezu allen Kulturen, vielleicht sogar in allen, ist von anderen Ebenen die Rede – um es mal ganz neutral und ohne religiöse Betrachtungsweise auszudrücken. Jenseitsglauben, Götter, Seelenwanderung, ewiges Leben. Dies findet sich in Variationen ziemlich überall. Vielfach auch die Einflussnahme auf andere Menschen – durch Gedanken, bösen Zauber. Denken Sie an Voodoo oder Schamanen oder an Telepathie. Es soll Heilungserfolge durch Handauflegen geben. Man muss dies kritisch-distanziert betrachten, sich aber davor hüten, es einfach als Hokuspokus abzutun. Auch Wissenschaftler sollten nicht nur an das glauben, was sie mit heutigen Mitteln erklären können. Vielleicht haben sie schon morgen andere Möglichkeiten, mit denen sich erklären lässt, was heute noch rätselhaft erscheint.«

    Beifall. Siegler hatte offenbar gesagt, was viele seiner Zuschauer dachten.

    »Sie …«, die Fragestellerin suchte offenbar Gewissheit, die sie nirgendwo finden würde, »Sie glauben also auch, es könnte so etwas wie einen Fingerzeig Gottes geben?«

    »Der Volksmund sagt: Glauben heißt nicht wissen«, konterte der Professor vorsichtig, »unser Universum ist so komplex, dass wir uns nicht erdreisten dürfen, jemals alle Zusammenhänge begreifen zu wollen.« Siegler stockte. Eigentlich hasste er ausweichende Antworten, weshalb er eine Gegenfrage riskierte: »Hatten Sie denn schon mal Erlebnisse, die Ihnen Anlass geben, sich mit solchen Themen zu befassen?«

    Die Dame zögerte kurz, schloss für einen Moment die Augen und nickte. »Ja, das hab ich.« Es klang sehr entschlossen.

    Sie hatte den ganzen Abend über an diesen Septembertag denken müssen.

    Dieser eine Tag im September hatte alles verändert. Ihre Gefühle, ihre Träume, ihre Wünsche – ihr komplettes Leben. Was ihr bis dahin unendlich wichtig erschienen war, hatte diese einzige, grausame Sekunde des Schicksals für immer vernichtet. Karin Waghäusl versuchte, den Gedanken an Glitzer und Glamour zu verdrängen, von dem sie einst in Zürich umgeben war – dort, wo sie sich im Dunstkreis der Reichen, Schönen und Mächtigen hatte sonnen können.

    Doch inzwischen waren fast 14 Jahre vergangen. 14 Jahre – seit sie alles aufgegeben und alles zurückgelassen hatte. Und sie würde es auch nie wieder wollen. Sie spürte ein fahles Schamgefühl in sich aufsteigen, wenn sie heute an den Luxus, vor allem aber an die Partys dachte, bei denen sie und ihr Mann in feinsten Kreisen des internationalen Geldadels verkehrt hatten.

    Sie wollte die Erinnerungen an diese Zeiten gar nicht mehr aufkommen lassen. Ihr war bewusst geworden, dass es mehr auf der Welt gab, als nur das ewige Streben nach Einfluss und immer noch mehr Reichtum. Dieser eine Tag im September 1998 hatte ihr die Augen geöffnet, auch wenn sie seither unter einem Trauma litt, das sie zeitlebens nicht mehr loswerden würde. Sie war durch die Hölle gegangen.

    Doch trotz aller Tragik mochte sie nicht glauben, dass dies alles zufällig geschehen war. Denn ohne jene Tage des Schreckens wäre es niemals zu diesen Begegnungen gekommen, aus denen sie unendlich viel Kraft schöpfte – auch vergangenen Samstag bei diesem Vortrag und erst recht jetzt, da sie wieder einmal auf dem Weg zu dieser Gemeinschaft der Gleichgesinnten war. Dorthin, wo der Himmel die Erde zu berühren schien. Nirgendwo sonst wurde ihr das Wunder der Schöpfung so bewusst wie dort oben. Auch wenn sich in den vergangenen Monaten einiges verändert hatte.

    Nein, an einen Zufall wollte sie nicht glauben. Schon gar nicht, wenn sie an das Gebetbuch dachte.

    Dieses kleine schwarze Buch. Formatfüllend auf einer linken Seite im Wochenendmagazin des Züricher ›Tages-Anzeigers‹ abgebildet. Es war zwar nur ein Inserat gewesen – aber wieso ausgerechnet an diesem Tag? Zwei Tage, nachdem die Zeit für sie stillgestanden war. Diese Abbildung hatte sich tief in ihre Seele gebrannt.

    Dass dieses Gebetbuch es war, das ihr den Weg in ein neues Bewusstsein geebnet hat, galt ihr als Botschaft des Himmels. Als eine Botschaft, die ganz bestimmt nicht nur an sie gerichtet war. Sondern an die ganze Menschheit. Diese aber hatte es gar nicht zur Kenntnis genommen. Wie alles, was sich nicht mit der real-materiellen Welt vereinbaren ließ.

    Dieser Tag vor 14 Jahren, der alles verändern sollte, hatte daheim bereits begonnen. Doch dort, wo das Entsetzliche geschah, zeigte die Armbanduhr des Mannes, der in Reihe 21 am Fenster saß, erst 21.10 Uhr. Es war noch die Ortszeit von New York, wo die McDonnell Douglas MD-11 vor knapp einer Stunde vom New Yorker John-F.-Kennedy-Airport in Richtung Genf abgehoben hatte. Mario Waghäusl rechnete sich aus, dass es daheim in Zürich bereits kurz nach drei Uhr war. Und während ihn jetzt, nach dem Abendessen, das monotone Dröhnen der drei Triebwerke dahindämmern ließ und der Airliner in rund 10 000 Metern Höhe durch die Nacht flog, wanderten die Gedanken zu seiner Frau, die er heute Nachmittag endlich wiedersehen würde. Dreieinhalb Wochen war er geschäftlich unterwegs gewesen, hatte im Auftrag Schweizer Banken anstrengende Gespräche mit Investment-Managern an der Wall Street geführt und sich mit einflussreichen Politikern in Washington getroffen. Einer von ihnen hatte sogar behauptet, ein enger Freund von Präsident Bill Clinton zu sein, der gerade tief in die Affäre um die Praktikantin Lewinsky verstrickt war. Zwischen Traum und Wirklichkeit produzierte Waghäusls Gehirn immer neue Bilder, die sich mit den Sehnsüchten nach seiner Frau und den Ereignissen der vergangenen Wochen vermischten. Dann schlief er ein. Und wieder bemächtigte sich seiner im Traum jenes finstre Geschehen, das viele Jahrzehnte zurücklag und das er nur vom Hörensagen her kannte. Aber seit er sich intensiv um die Aufklärung bemühte, hatte es sich tief in sein Unterbewusstsein gefressen. So tief, dass er ihm nicht mal im Schlaf entrinnen konnte. Ganz im Gegenteil. Wenn ihn die Wucht dieses Albtraumes traf, war er schweißgebadet. Etwas unfassbar Schreckliches lag über seiner Familie.

    2

    Im Cockpit hatten sich Flugkapitän Ernest Frohberger und sein Erster Offizier Henry Riedel auf den Transatlantik-Flug eingestellt, der sie wie immer bis nahe der Südspitze Islands heranführen würde. Was auf den Weltkarten wie ein Umweg erschien, war in Wirklichkeit die direkte Verbindung nach Mitteleuropa. Oft genug schon hatte der erfahrene Kapitän auch im Freundeskreis erklären müssen, dass sich eine Flugroute auf einer flachen Landkarte nicht als gerade Linie darstellen ließ. Die kürzeste Entfernung auf einer Kugel, wie sie die Erde nun mal ist, ergab, auf eine ebene Fläche projiziert, zwangsläufig eine Kurve.

    Noch war die Swissair-Maschine mit der Flugnummer 111 entlang des nordamerikanischen Kontinents unterwegs, hinauf nach Kanada. Rechts der Atlantik, links die Landmasse. Jetzt, in der Dunkelheit, war von alledem nichts zu erkennen. Im Cockpit warfen die unzähligen Instrumente ein schummriges Licht. Kontrollleuchten glimmten, Displays leuchteten, Zeiger vibrierten sanft. Die Zeit, wie sie weltweit an Bord aller Flugzeuge gilt, wurde in GMT angezeigt, die Greenwich Mean Time. Es war demnach bereits 1:10 Uhr. Dem Wetterbericht zufolge gab es in dieser Spätsommernacht auf der Route nach Mitteleuropa keine Besonderheiten. Starker Westwind würde die Flugzeit voraussichtlich um eine Viertelstunde verkürzen. Ein Routineflug also, wie ihn die beiden erfahrenen Piloten schon viele Male gemeinsam absolviert hatten.

    Während Kapitän Frohberger durch die linke Luke in den nachtschwarzen Himmel sah, wo vereinzelt Sterne glitzerten, ließ rechts neben ihm sein Kollege Riedel den Blick über die Instrumente streifen, um zufrieden festzustellen, dass alle Systeme einwandfrei und zuverlässig funktionierten. Noch.

    Aber schon mit dem nächsten Atemzug verpasste ihm sein Körper einen gewaltigen Adrenalinstoß. Noch bevor er etwas sagen konnte, hatte es auch Frohberger bemerkt, der blitzschnell die wichtigsten Instrumente checkte und Blickkontakt zu Riedel suchte. »Riechst du das auch?«

    Riedel, der gut zehn Jahre jünger war als der Flugkapitän, sog schnelle, kurze Atemzüge in sich auf und vollzog mit dem Kopf kreisende Bewegungen, um die Herkunft des Geruchs zu lokalisieren. »Die Klimaanlage?«, fragte Frohberger knapp. Seine sonore Stimme hatte plötzlich einen beunruhigten Klang.

    »Ja«, bestätigte Riedel, der bereits gegen die aufkommende innere Unruhe ankämpfte, während sie die Cockpitbeleuchtung einschalteten. Oft genug hatten sie im Simulator alle möglichen Störfälle durchgespielt. Auch etwaigen Brandgeruch. Denn Feuer war eine der größten Gefahren an Bord eines Flugzeugs. Einen Triebwerkschaden konnte man nach menschlichem Ermessen noch in den Griff bekommen und eine geordnete Notlandung einleiten, aber die Ausbreitung eines Brandes war unberechenbar.

    Die beiden Piloten wussten, dass sie sich strikt an den vorgeschriebenen Prozeduren orientieren mussten. Doch jetzt, da blitzschnelle Entscheidungen anstehen konnten, blieb keine Zeit, seitenlange Checklisten durchzugehen.

    Nur eines war wichtig: Ruhe bewahren. So lautete das oberste Gebot, das jedem Flugschüler schon in den ersten Stunden des theoretischen Unterrichts eingebläut wurde. Innerhalb von Sekunden hatten sie jedenfalls festgestellt, dass alle Systeme weiterhin funktionierten und keines der Triebwerke eine Unregelmäßigkeit meldete. Das versprach zwar eine kurze Entwarnung, nicht aber die Lösung des Problems. Denn der Geruch blieb. Und wurde schlimmer.

    Die Männer wussten, dass es jetzt auf jedes Detail ankam – auf jedes Kontrolllicht, auf die Anzeige eines jeden Instruments.

    Mit knappen Worten hakten sie sämtliche infrage kommenden Ursachen ab. Kurz und prägnant, nach außen hin emotionslos. Rieder informierte sich bereits über einen möglichen Ausweichflughafen. Denn ohne es anzusprechen, war ihnen klar, dass eine Entscheidung über Leben und Tod anstehen würde.

    Knapp drei Minuten waren seit dem ersten Auftreten des Geruchs vergangen, als sich im Schein der Cockpitlichter feiner Nebel ausbreitete. Rauch.

    Es brannte. Irgendwo. Die Blicke der beiden Männer trafen sich.

    Sie brauchten nicht auszusprechen, was sie dachten.

    »Das sieht gar nicht gut aus«, sagte Frohberger mit fester Stimme und drückte entschlossen die Taste des Funkgeräts, das ihn mit dem zuständigen Luftfahrtkontrollzentrum im kanadischen Moncton verband. »Pan-pan-pan«, meldete er so ruhig wie möglich, obwohl diese drei Worte einen Funkruf mit hoher Priorität einleiteten und alle anderen auf dieser Frequenz zum sofortigen Schweigen verpflichtete. Die ›Swissair 111‹, sagte er, befinde sich in 31 000 Fuß und etwa 66 Seemeilen südwestlich des Airports von Halifax. Frohberger teilte dem Fluglotsen mit, dass es Rauchentwicklung im Cockpit gebe, und erbat eine Freigabe zur Landung auf dem nächstmöglichen Flughafen. Dass er jetzt nicht Halifax, sondern das 300 Seemeilen zurückliegende Boston in Massachusetts vorschlug, also ein deutlich weiter entferntes Ziel, würde später für Irritationen sorgen.

    Der Fluglotse erteilte die Freigabe. Doch schon eine knappe Minute später schlug die sonore Männerstimme von der Flugverkehrskontrolle den viel näher gelegenen Flughafen Halifax vor, der sich nur noch 56 Seemeilen nordöstlich vom momentanen Kurs der Maschine befand. Frohberger akzeptierte und spürte ein bedrohliches Kratzen im Hals.

    Er zog sich wortlos die Sauerstoffmaske übers Gesicht. Riedel tat es ihm nach. Jetzt wurde es ernst.

    Der feine Rauch bildete bereits kleine Wölkchen und füllte das Cockpit bedrohlich aus. Seit sie ihn erstmals bemerkt hatten, waren nur wenige Minuten vergangen – und jetzt hatte sich der anfängliche Nebel bereits in wabernde Schwaden verwandelt.

    Noch während sie schweigend und zunehmend unsicherer ihre Instrumente prüften und den Bordcomputer mit den Anflugdaten von Halifax fütterten, erhielten sie die Freigabe für den Sinkflug auf 10 000 Fuß. Die Stimme im Kopfhörer wollte die Anzahl der Passagiere und die Menge des Treibstoffs wissen. Für den Flughafen in dem provinziellen Halifax waren dies wichtige Informationen zur Vorbereitung einer Notlandung.

    Kaum hatte Frohberger die Daten übermittelt, fuhr sein Copilot die Luftbremsen aus – jene Klappen, die das Tempo der Maschine verringerten und einen starken Sinkflug einleiteten.

    3

    Wie oft schon hatte ihr Gehirn sie mit diesen Bildern gequält? Gewiss mehr als zehntausend Mal in den vergangenen 14 Jahren. Diese Szenen waren tief in ihre Seele gebrannt, obwohl sie nichts davon selbst erlebt hatte. Es war nur die Fantasie, die ihr dieses schreckliche Ereignis vorspielte, als habe ein imaginärer Drehbuchschreiber daraus einen Horrorfilm gemacht. Doch Karin Waghäusl konnte sich nicht dagegen wehren. Sie waren einfach da, diese dramatischen Szenen. Mitten in der Nacht, beim Lesen eines Buches oder jetzt an diesem sonnigen Morgen auf der Autobahn. Wie ein Film, der sich niemals stoppen ließ, so lief das Schreckliche unablässig vor ihrem inneren Auge ab. Alle Versuche, es zu verdrängen, zu löschen oder zu vergessen, halfen nichts. Es brandete immer wieder auf, um sie stets mit noch größerer Gewalt wieder zu treffen. In solchen Momenten fühlte sie sich wie gelähmt und der Realität entrückt. Dann konnte sie sich auf nichts konzentrieren und keinen Gesprächen folgen. Sie mied menschliche Kontakte und hätte sich am liebsten tief in ein Erdloch eingegraben. Manchmal schien es ihr, als sei es mit dem Beginn der Wechseljahre noch viel schlimmer geworden. Ihre Stimmungsschwankungen waren seit ihrem 50. Geburtstag, den sie im Dezember gefeiert hatte, extrem heftig, und oftmals lagen nur wenige Stunden zwischen kurzen Glücksmomenten und abgrundtiefer Traurigkeit.

    Obwohl sie diese regelmäßigen Treffen auf einer Berghütte sehr schätzte, wäre sie heute im Grunde ihres Herzens lieber daheimgeblieben. Es hatte sie sehr viel Überwindung gekostet, frühmorgens schon loszufahren. Doch dann hatte die Vernunft über die psychische Müdigkeit gesiegt, und sie war in ihren silberfarbenen Golf gestiegen. Sie fühlte sich auch gegenüber den anderen verpflichtet, von denen sich die meisten gewiss auf das Wiedersehen an diesen Tagen der Sommersonnwende in den Bergen freuten. Außerdem gab es einiges zu klären.

    Seit sie sich dank des Internets gefunden hatten, waren sie eine verschworene Gemeinschaft geworden. Sie telefonierten oft, schrieben sich E-Mails und konnten ausgiebig über Gott und die Welt philosophieren – vor allem aber über Dinge reden, für die nicht alle Menschen empfänglich waren. Viel zu sehr hatte sich die heutige Gesellschaft aufs Materielle ausgerichtet, um noch die Geheimnisse des Lebens wahrzunehmen – geschweige denn zu akzeptieren, was man nicht sehen, anfassen und berechnen konnte. Was nicht ins physikalisch-chemische Weltbild passte, war schlichtweg nicht existent.

    Und wer die Frage stellte, ob es Zufälle gab oder ob eine große Macht und Kraft den Lauf der Dinge vorherbestimmte, wurde als Querkopf oder Spinner abgetan. Karin Waghäusl allerdings mochte nicht mehr an Zufälle glauben. Wieder war es das Gebetbuch, das sie vor sich sah. Dass gerade das Rasthaus ›Allgäuer Tor‹ an ihr vorbei zog, nahm sie gar nicht zur Kenntnis. Wie so oft schon, ließen die monotonen Motorengeräusche Erinnerungen an Flüge wach werden – als sie noch gemeinsam um die Welt gejettet waren, sie und Mario. Hätte sie nur schon damals gewusst, was an seiner Seele nagte.

    4

    Damals, vor 14 Jahren, waren einige Passagiere bereits durch das veränderte Motorengeräusch verunsichert worden. Jetzt aber spürten sie zusätzlich, wie die Maschine rasch an Höhe verlor und eine Steilkurve flog. Eine erste Unruhe machte sich breit. Doch trotz angestrengter Blicke durch die Bullaugen entdeckten sie in der Schwärze der Nacht nichts Außergewöhnliches. Auch der Passagier, der in Reihe 21 auf Platz A saß, also in Flugrichtung links direkt am Fenster, war wieder wach geworden. Einen Grund zur Beunruhigung empfand er nicht. Dazu war er schon viel zu oft mit dem Flieger unterwegs gewesen, hatte heftige Turbulenzen erlebt und gelegentlich auch ungewöhnliche Flugmanöver. Doch dann kam die Durchsage, die für Entsetzen und Schrecken sorgte: Notlandung, Schwimmwesten anziehen. Panik. Schreie. Mario Waghäusls Herzschlag beschleunigte sich. Pulsrasen. Die beruhigende Stimme des Flugkapitäns im Lautsprecher ging in dem Gemisch aus Stimmen und Motorengeräuschen unter. Stewardessen eilten durch den Gang. Menschen sprangen auf, andere blieben wie gelähmt sitzen.

    Vorn im Cockpit nahm die Besatzung Kontakt zur Bodenkontrolle in Moncton auf. Seit ihrem Notruf waren vier Minuten vergangen, und der Rauch, der sie einhüllte, wesentlich dichter geworden. Der Kurskreisel des Kompasses stand auf 50 Grad – in Richtung Halifax.

    Flugkapitän Frohberger spürte Schweiß unter der Sauerstoffmaske. Sein Copilot hatte inzwischen Mühe, im dichten Rauch die Instrumente noch zu erkennen. Der Zeiger des Variometers, das die Sinkgeschwindigkeit angab, war ganz nach unten gerichtet.

    Dann endlich wieder die Stimme der Flugverkehrskontrolle im Kopfhörer. Kurs ändern auf 30 Grad. Eine Linkskurve also. Und dann zur Landebahn 06 eindrehen. 06 stand für die Landerichtung – nordöstlich. Die Lotsen hatten einen Direktanflug anvisiert. Aber dazu war der Airliner noch viel zu hoch. 21 000 Fuß wären auf den restlichen 30 Seemeilen nicht abzubauen. Frohberger teilte dies mit und erhielt die Anweisung, sofort auf Nordkurs zu gehen, um dann während einer vollen Linksdrehung an Höhe zu verlieren und einen erneuten Landeanflug zu machen.

    Chaos im Passagierraum. Kinder heulten, Frauen kreischten und ein Mann schrie: »Wir sterben.« Der rasche Höhenverlust und die Steilkurve, die plötzlich in die entgegengesetzte Richtung drehte, hatten Todesängste ausgelöst. Es war, als käme der Jet ins Trudeln.

    »Bitte bleiben Sie ruhig«, versuchte eine Stewardess, über die Bordlautsprecher die Menschen zu besänftigen. Doch ihre Stimme klang schrill und verbreitete alles andere als Gelassenheit. Sie wiederholte das Gesagte auf Englisch. Niemand hörte zu. Die meisten Passagiere waren längst in Panik verfallen. Das Anziehen der Schwimmwesten verursachte ein heilloses Durcheinander, weil niemand so genau wusste, wo welches Band durchgezogen oder befestigt werden musste. Einige betätigten bereits die Automatik, mit der sich die Westen aufbliesen. Doch in Hektik und Panik nutzten auch die Angebote der Stewardessen nichts, die versucht hatten, der Reihe nach zu helfen. Nur einige wenige Passagiere waren ruhig sitzen geblieben, nachdem sie die gelben Westen übergestreift hatten. Es schien so, als würden sie sich dem Schicksal ergeben. Auch Mario Waghäusl blieb still. Obwohl er seit Kindheitstagen nicht mehr gebetet hatte, entsann er sich jetzt seines Schutzengels. Es fiel ihm sogar spontan ein Gebet ein.

    Unten zogen die Lichter einiger kleiner Orte der kanadischen Provinz Nova Scotia vorbei. Sie würden jetzt über die St. Margaret’s Bay kommen und von dort aus, weiter sinkend, erneut Halifax anfliegen.

    5

    Jedes Mal, wenn sich diese Bilder ihrer bemächtigten, hatte Karin Waghäusl das Gefühl, sie mit allen psychischen und physischen Schmerzen körperlich zu durchleben. Den raschen Sinkflug, die Steilkurven, die Ungewissheit. Während ihrer vielen Flugreisen hatte es einige Situationen gegeben, die ihr bis heute rätselhaft erschienen. Einmal waren sie um Mitternacht in Bombay kurz vor dem Aufsetzen durchgestartet und erst bei einem zweiten Anflug gelandet – ohne, dass sie jemals erfahren hatten, was geschehen war. Endlos lang erschien ihr rückblickend auch der Nachtflug nach Südafrika, als sie über dem Schwarzen Kontinent Stunde um Stunde von heftigen Turbulenzen geschüttelt worden waren. Sie hatte damals einen Fensterplatz an den Tragflächen gehabt und im Schein der Positionslichter gesehen, wie die Naturkräfte an dem Airliner zerrten und die Tragflächen nach oben und unten gerissen wurden – als würden sie jeden Moment wie ein Stück Holz zerbersten.

    Mario war in solchen Fällen ihr Ruhepol gewesen. Alles ganz normal, hatte er ihr zugeflüstert. Die Konstruktion eines Flugzeugs sei auf solche Gewalten ausgerichtet und überstehe weitaus mehr als diese normalen Urkräfte der Natur. Ob er sich damals, in jener Septembernacht, genauso beruhigen konnte? Sie griff instinktiv zu dem goldenen Halskettchen, das er ihr vor dem Abflug geschenkt hatte, und das sie seither stets trug. Oft, wenn sie in tiefe Trauer verfiel, umklammerte sie den kleinen, filigran ausgearbeiteten Anhänger, der eine Posaune darstellte. »Sie soll dir immer schöne Melodien spielen – auch wenn du mal traurig bist und du glaubst, die Welt geht unter.« Die Worte klangen ihr immer noch nach. Seit 14 Jahren. Hatte Mario eine Vorahnung gehabt, als er damals, wie schon viele Male zuvor, in die USA flog? Er war ungewöhnlich sensibel, und manchmal erschien es ihr, als habe er einen siebten Sinn, der ihn Vergangenes und Zukünftiges erahnen ließ.

    6

    Mario Waghäusl versuchte, das Chaos um sich herum auszublenden. Mit der Sturheit eines knallharten Geschäftsmannes und dem Wissen, dass auch panisches Verhalten nichts verändern würde, saß er da und betete. Er, der noch bis vor wenigen Minuten über Geldgeschäfte und Finanztransaktionen nachgedacht hatte, klammerte sich plötzlich an eine große Macht, von der er nicht einmal so genau wusste, ob er an sie glauben sollte. Doch wenn es sie gab, dann konnte nur sie allein die Katastrophe noch verhindern. Falls sie nicht vorbestimmt war. Oder es nur ein grausamer Zufall war, dass er und die anderen 228 Menschen ausgerechnet mit dieser Maschine nach Genf hatten fliegen wollen. Vielleicht war für sie alle zu dieser Minute die Zeit abgelaufen. Es gab Zufälle. Auch grausame.

    Nur Dirk hatte sich allem entziehen können. Dirk, dem in New York ein geschäftlicher Termin dazwischen gekommen war. Hatte ihn ein gnädiges Schicksal vor diesem Flug bewahrt? War auch dies Zufall gewesen?

    Waghäusl wehrte sich gegen solche Gedanken. Er mochte sich auch nicht vorstellen, was sich vorn im Cockpit von Swissair111 in diesem Augenblick abspielte. Flugkapitän Frohberger und sein Kollege entschieden, über der Meeresbucht abseits von Peggy Cave einen Großteil des Treibstoffes abzulassen. Mit vollen Tanks war der Airliner für eine Notlandung zu schwer – und außerdem wäre es auch viel zu riskant. Doch bevor sie die nötigen Einstellungen vornehmen konnten, verlangte die Flugverkehrskontrolle erneut die Zahl der Passagiere und die Treibstoffmenge. Frohberger schluckte und holte unter seiner Sauerstoffmaske tief Luft. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn die vergangenen Minuten mitgenommen hatten. »215 Passagiere und 14 Besatzungsmitglieder«, meldete er monoton und bemerkte nicht, dass seine Konzentration nachließ. Die 230 Tonnen, die er als Treibstoff-Menge nannte, waren das Gewicht des gesamten Flugzeugs.

    Unter den Sauerstoffmasken der beiden Piloten sammelte sich Schweiß. Inzwischen quoll dicker dunkler Qualm aus den Lüftungsschlitzen.

    Knapp 13 Minuten, nachdem sie den seltsamen Geruch erstmals bemerkt hatten, drehten sie auf Anweisung der Fluglotsen von Moncton auf Südkurs. Eine halbe Minute später signalisierte ein Warnton, dass sich der Autopilot abgeschaltet hatte, worauf Riedel, der Copilot, instinktiv zur manuellen Steuerung griff. Ihm war heiß. Sein Puls raste. Er spürte plötzlich Todesangst in sich aufsteigen. Auch seinem Kollegen schien die angelernte Ruhe verloren zu gehen.

    Augenblicke später setzten sie gleichzeitig einen ›Emergency Call‹ ab – einen Notfall allerhöchster Priorität.

    In der Kabine hatte sich die erste große Unruhe wieder etwas gelegt. Die meisten Passagiere saßen mit angezogener Schwimmweste kreidebleich auf ihren Plätzen. Paare hielten sich gegenseitig mit den Händen fest oder umarmten sich und sprachen sich Trost zu. Frauen und Männer schluchzten gleichermaßen. »Wir sollten alle beten«, rief ein älterer Herr von hinten. »Wir werden alle sterben.«

    Mario Waghäusl auf Platz 21 A kämpfte inzwischen gegen heftige Magenkrämpfe. Sein Blutdruck war nach oben geschossen. Er schwitzte und zitterte am ganzen Körper. Nur nichts anmerken lassen, befahl er sich. Sein Nebenmann, ein jung-dynamischer Geschäftsmann mit viel Gel in den Haaren, hing mit entsetzt aufgerissenen Augen apathisch im Sitz.

    »Das wird schon«, flüsterte ihm Waghäusl zu. »Notlandungen gibt es immer mal. Das kann vorkommen.« Seine Stimme verriet jedoch, dass ihn selbst die Panik ergriffen hatte. Ihm war die Überzeugungskraft der vergangenen Tage völlig abhandengekommen. So sehr er sich auch bemühte, gelassen zu bleiben – seine innere Stimme, sein Instinkt, sein sensibles Gespür für Glück und Unheil sagten ihm, dass sie keine Chance mehr hatten.

    Und jetzt war es ihm so, als ziehe ein merkwürdiger Geruch durch die Maschine. Um ihn zuordnen zu können, sog er die Luft mit kurzen Atemzügen ein. Roch es tatsächlich nach Rauch? Die Gewissheit durchzuckte seinen ganzen Körper. Rauch. Das war Rauch. Oder doch nicht? Er atmete noch einmal langsam durch, konzentrierte sich auf seine Geruchsnerven, doch es gab keinen Zweifel mehr. Sein Puls raste.

    Nichts anmerken lassen, befahl er sich. Gerüche gab es in einem Flieger oft. Selbst Kerosin hatte er unterwegs schon gerochen. Oder es zog der Duft aus der Bordküche durch die Reihen. Besonders bei extremen Flugmanövern wie diesen konnte das vorkommen. Aber jetzt, verdammt noch mal, jetzt in dieser Notlage würde sicher in der Bordküche nichts erwärmt. Noch während er lauschte, ob andere Passagiere den Geruch auch schon bemerkt hatten, wurden seine schlimmsten Befürchtungen auf dramatische Weise bestätigt: Das Licht fiel aus, und augenblicklich war auch die Videoprojektion auf den Leinwänden vor den Sitzreihen erloschen. Undurchdringliche Schwärze, stockfinstre Nacht. Wieder Panik. Ein vielhundertfacher Schrei übertönte das Dröhnen der Triebwerke. »Wir stürzen ab«, schrie eine Frau – und wiederholte dies mit schriller Stimme – so laut, so durchdringend, wie dies nur im Angesicht des nahen Todes möglich ist. Die ganze Kabine war jetzt von Panik ergriffen.

    Der Passagier auf Platz 21 A klammerte sich mit schweißnassen Händen an das Polster des Sitzes. Er schloss die Augen und betete. »Es brennt«, rief jemand, »es brennt!« Alle hatten jetzt Brandgeruch bemerkt. War dies das Ende? Die Apokalypse eines jeden Einzelnen? Er hatte es geahnt, als kurz vor dem Abflug ein seltsames Gefühl über ihn gekommen war. Nein, er hatte keine Flugangst. Aber diesmal war beim Check-in alles anders gewesen. Hätte er mit jemandem darüber gesprochen, hätte er sich dem Gespött ausgesetzt. Wie konnte sich ein Finanzmanager von irgendwelchen zufälligen Zeichen beeindrucken lassen? Dass ihm beim Betrachten der Monitore, auf denen die Flüge der nächsten Stunden angezeigt wurden, immer wieder die Zahl 13 ins Auge stach – bei den Flugnummern, bei der Uhrzeit, bei den Gates. Immer 13. Außerdem war ihm bei der Zufahrt zum Flughafen ein Leichenwagen begegnet. Wann kam dies schon mal vor? Ein Leichenwagen in der Nähe eines Flughafens. Und heute früh im Hotel war ihm ein Glas auf den Boden gefallen und in tausend Teile zersprungen. Kein guter Tag heute.

    7

    Irgendjemand hatte am Rande der Autobahn offenbar etwas verbrannt. Karin Waghäusl hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Geruch es war, der ihr die Schreckensbilder von jener Nacht wieder in Erinnerung rief, oder ob sie ihn nur wahrgenommen hatte, weil ihr Gemütszustand heute wieder ganz besonders unter dem Eindruck dieser traumatischen Ereignisse litt. Sie versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Der Verkehr rollte an diesem Freitagvormittag problemlos dahin, zumal auf der A7 üblicherweise weniger Lastzüge unterwegs waren als auf anderen Autobahnen. Jetzt, Mitte Juni und außerhalb aller Ferien, fuhren jedoch Rentner und Wochenendurlauber in Richtung Allgäu oder in das österreichische Tannheimer Tal, das durch einen vorgelagerten Höhenzug topografisch von Deutschland getrennt ist.

    Das Wetter bot sich geradezu an, nach dem langen, strengen Winter und dem bisweilen sehr kühlen Mai den endlich erwachten Bergfrühling zu genießen. Karin Waghäusl musste daran denken wie sie vor vielen Jahren beschlossen hatten sich künftig stets am zweiten Wochenende nach Fronleichnam zu treffen. Kein anderer Termin würde so gut zu den Themen passen, über die sie sich gerne die Köpfe heiß redeten. Denn an diesem Wochenende wurde im Tannheimer Tal das Herz-Jesu-Fest gefeiert – mit Fackeln auf den Bergen und riesigen, weithin leuchtenden symbolträchtigen Darstellungen an den Steilhängen. Aus unzähligen kleinen Feuern formen sich dann Kreuze, Herze, Kelche oder betende Hände. Zwei Abende lang erinnern die Einheimischen auf diese Weise an die Franzosenkriege vor über 200 Jahren, als das Land Tirol von den mit Napoleon verbündeten Bayern beherrscht wurde. Damals weihten die Gläubigen ihre Heimat dem Herzen Jesu und entzündeten auf den Bergen Feuer als Zeichen des Widerstandes. Traditionell lodern diese Feuer seither am zweiten Wochenende nach Fronleichnam.

    Am Samstagabend, das wusste Karin Waghäusl, flackerten diese Leuchtfeuer von den Bergkämmen beim Haldensee; am Sonntagabend setzte sich der stille Lichterzauber über Tannheim, Zöblen und Schattwald fort, wo die Symbole immer größer und vielfältiger werden.

    Karin Waghäusls Gedanken schweiften ab. Gedenk- und Feiertage – welche Bedeutung hatten sie denn überhaupt noch? Tatsächlich waren doch Himmelfahrt und Fronleichnam, die gerade erst ein paar Wochen zurücklagen, nur noch ›Pfeiler‹ für ›Brückentage‹. Denn wer von denen, die sich zum Beispiel mit Himmelfahrt vier freie Tage gönnten, hatte schon eine Ahnung, was es mit diesem Feiertag auf sich hat, dachte sie. Manche mochten wahrscheinlich meinen, Himmelfahrt sei der Tag der Fliegerei – vielleicht zum Gedenken an die Flugpioniere oder die erste Mondlandung von 1969. Eigentlich verwunderlich, dass die Fluglinien an diesem Tag keine Schnäppchenflüge anboten.

    Wer nutzte eigentlich diese geschenkte freie Zeit für das, wozu sie eigentlich gedacht war? Zum Besuch eines Gottesdienstes und zum Gedenken an Jesus, dessen vergeistigter Körper nach der Auferstehung auf wundersame Weise die materielle Welt verlassen haben soll? Karin war tief davon überzeugt, dass die heutige Gesellschaft weit davon entfernt war, solche christlichen Werte zu achten und ihre Traditionen zu pflegen. Schon oft hatte sie im Kreis ihrer gleichgesinnten Freunde darüber philosophiert, weshalb es die Menschen in den hiesigen Breitengraden nicht mehr wagten, sich öffentlich dazu zu bekennen. Lag es daran, dass die Meinungsmacher in den Medien gleich alles als Hokuspokus abtaten, was nur annähernd etwas mit Glauben zu tun hatte?

    Für viele Männer jedenfalls war der Himmelfahrtstag nichts anderes als der Vatertag, der nahezu ungehemmte Ausgelassenheit versprach. Vor allem aber alkoholische Trinkgelage.

    Himmelfahrt. Allein dieses Wort hinterließ bei Karin einen schalen Geschmack. Viel zu sehr erinnerte es sie ans Fliegen. Für Mario war es gewiss kein Flug ins Licht gewesen, sondern in die Ewigkeit.

    8

    Weil auch die Bordsprechanlagen nicht mehr funktionierten, hatte sich eine Stewardess in der Finsternis durch die chaotischen Verhältnisse zum Cockpit vorgedrängt und den Stromausfall gemeldet. Beim Öffnen der Tür war ihr beißender Qualm entgegen geschlagen, der sich sogleich nach weiter hinten ausbreitete und für neue Entsetzensschreie sorgte.

    Die Piloten registrierten nur beiläufig das, was die panische Flugbegleiterin gestammelt hatte, und forderten sie mit einer schnellen Handbewegung auf, die Tür wieder von außen zu schließen. Kapitän Frohberger meldete den Lotsen, dass die SR 111 über der Bucht den Treibstoff ablassen werde, um nach der erfolgten Volldrehung sofort den Landeanflug zur Bahn 06 fortzusetzen. Doch in diesen Sekunden der allerletzten Entscheidung schien es so, als habe sich das Feuer – wo immer es sein mochte – zu den wichtigsten Systemen der Maschine durchgefressen.

    Innerhalb weniger Sekunden fiel der Gierdämpfer aus – jene Automatik, die das Drehen um die Hochachse verhindert. Die Maschine begann zu schlingern, worauf die Piloten einen neuerlichen Notfall meldeten. In den folgenden acht Sekunden fielen nacheinander alle wichtigsten Instrumente aus. Unterdessen gab die Flugsicherung die Erlaubnis zum Ablassen des Treibstoffes.

    Aber SR 111 bestätigte diesen Funkspruch nicht mehr. Aus den Kopfhörern im Tower waren nur noch unverständliche Gesprächsfetzen zu vernehmen. Vermutlich Schweizerdeutsch.

    Seit dem Start auf dem John-F.-Kennedy-Airport waren exakt eine Stunde, sieben Minuten und 46 Sekunden vergangen.

    In Mitteleuropa zeigten die Uhren 2:25 Uhr.

    Und Karin Waghäusl hatte geschlafen. Weshalb sie gerade jetzt aufwachte, führte sie auf die Unruhe zurück, die sie jedes Mal beschlich, wenn ihr Mann nach so langer Zeit wieder zurückkam. Es war die pure Vorfreude.

    Ganz gewiss nichts anderes, redete sie sich ein.

    9

    Sie zitterte. Die Tacho-Nadel hatte sich auf 80 eingependelt. Karin Waghäusl war immer langsamer geworden, obwohl ihr die nahezu leere Autobahn freie Fahrt ermöglicht hätte. Aber wenn sie an diesen Tag im September denken musste, formte sich der Bericht über die Absturzursache, den sie viel später erhalten hatte, zu einem Film. Obwohl offenbar geklärt werden konnte, was den Brand ausgelöst hatte, nämlich ein Kabel für die Unterhaltungselektronik an Bord, empfand sie dies niemals als Trost für den Verlust des Ehemannes. Mit einem Schlag war alles Geschichte und Vergangenheit gewesen, was sie in all den Jahren gemeinsam erlebt hatten. Warum waren sie auf diese entsetzliche Weise getrennt worden? Aber diese Frage stellten sich vermutlich tagtäglich Tausende Menschen, denen ebenfalls ein enger Angehöriger genommen wurde. Sie war damit nicht allein. Dies hatte sie in den folgenden Jahren dankbar spüren dürfen, als sich ein Freundeskreis zusammenfand, der sich regelmäßig traf – am liebsten in einer Berghütte hoch über dem Tannheimer Tal. Und immer an diesem Wochenende.

    Sie musste sich auf die Straße konzentrieren. Denn ihr Gedächtnis rief ihr auch den Tag danach in Erinnerung. Als das stundenlange Hoffen und Bangen, die endlose Ungewissheit, zur Endgültigkeit wurde: Niemand hatte den Absturz in die St. Margaret’s Bay überlebt. Mario würde nie wieder kommen.

    Vielleicht hatte er noch die Schwimmweste anlegen können und treibt irgendwo lebend auf dem Wasser, war damals ihre letzte Hoffnung gewesen. Bestimmt rief er bald an. Oder man würde ihr von irgendeiner kanadischen Klinik mitteilen, dass er überlebt habe.

    Doch mit jeder Stunde schwanden auch die allerletzten Hoffnungen.

    Sie konnte an jenem Tag auch die Nachrichten nicht mehr hören. Im Radio und im Fernsehen gab es nur dieses eine Thema – die Flugzeugkatastrophe der Swissair.

    Nur in den Morgenzeitungen war das nächtliche Unglück noch kein Thema gewesen.

    10

    Es wurde gewiss ein traumhafter Frühlingstag in den Bergen. Tau glitzerte auf den Wiesen des Tannheimer Tals, das sich geradezu bilderbuchmäßig in das Voralpengebiet schmiegte. Hier am Nordrand der Alpen, wohin die majestätischen Gipfel des Gebirges ihre Vorposten entsandt hatten, konnte der Besucher zu allen Jahreszeiten noch die

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