Endstation Südseite: Ein Frankfurt-Krimi
Von Claudia Herdt
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Über dieses E-Book
Claudia Herdts erster Roman ist eine Hommage an Frankfurt und das Gutleutviertel. Mit Einfühlungsvermögen und Tempo lässt sie eine Welt entstehen, in der "Erlebnis-Kioske", Moscheen und Männerwohnheime friedlich nebeneinander existieren. Und in der es einen echten Detektiv nicht einmal aus dem Konzept bringt, wenn eine wunderschöne Frau plötzlich eine Tüte Kokain in seinem Auto vergisst.
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Buchvorschau
Endstation Südseite - Claudia Herdt
Claudia Herdt
Endstation
Südseite
Ein Frankfurt-Krimi
2. Auflage 2008
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2007 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-131-1
Für meine Mutter, die mir das Lesen,
und meinen Vater, der mir das Schreiben beibrachte.
I
m Gutleut leben die „guten Leute" aus Tradition – so nannte man die Leprakranken, die seit 1267 im Hof der guten Leute, dem Aussätzigenspital der Stadt Frankfurt, untergebracht wurden. Später diente der Hof am Mainufer wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken, unter anderem aber auch als Gefängnis. Am Bittersdorfer Platz, also mitten im heutigen Bahnhofsviertel, stand bis 1806 der Galgen. Soviel zu den Schattenseiten der Südseite des Hauptbahnhofs.
Andererseits wird man auf einem Rundgang durchs Gutleut feststellen, dass dieser Stadtteil einer der ruhigsten Frankfurts ist. Dass die meisten Leute hier freundlich, offen, tolerant und hilfsbereit sind – und dass man in einigen Läden wie in alten Zeiten sogar anschreiben lassen kann. Man versteht, dass der höchst mittelmäßige Ruf des Gutleut von der Nähe des Rotlichtbezirks kommt – und ist der Ruf erst ruiniert, bleiben die Mieten niedrig und die Spekulanten weg. Vergangenheit!
In der Zeit des Umbruchs, während des großen Bauprojekts Westhafen und der WM 2006, platzt der Privatdetektiv Jens Hardenberg ins Gutleut. Ein Kleinstadtflüchtling, ein Träumer, der endlich etwas erleben, beziehungsweise sein Leben leben will …
Claudia Herdt, Frankfurt-Gutleut, den 30. August 2007
1.
S
ie war fast jung und sehr schön. Sie sah interessant aus, wie so viele Frauen in Frankfurt. Man würde wissen wollen, was sie beruflich macht, wie sie wohnt, ob sie Kinder hat oder nicht, ledig, geschieden, unglücklich verheiratet – welche Unterwäsche sie trägt, und man würde gern einmal mit ihr ins Bett gehen wollen. Weil man furchtbar gern wissen wollte, wie sie ist, wenn sie kommt. Wenn sie kommt.
Bestimmt ging sie in ein Fitness-Studio. Bestimmt hatte sie einen guten Friseur. Das merkte man daran, dass man es nicht sah. Sie wirkte natürlich, ungeschminkt, untrainiert und unfrisiert. Aber wenn man ein paar Frauen in seinem Leben gekannt hat, weiß man, wie viel Arbeit gerade hinter einer solchen Erscheinung steckt. Unternehmensberatung? Finanzdienstleistung? Public Relations?
Mit ihren hellen großen Augen wirkte sie hilflos. Sie stand einfach so da, am frühen Morgen schon auf dem Fahrradweg, vom Leben ausgeknockt. Was für ein Tag! Sie war fast jung, wunderschön, und sie hatte ein Problem: die Kette, schätzte ich, oder ein Platten. Ich lenkte meinen Wagen geschickt, nein elegant, aus dem üblichen Stau auf der Eschersheimer Landstraße auf den Bürgersteig. Verboten? Hier hat die Polizei Besseres zu tun. Außerdem leistete ich Hilfe in einem Notfall. Dafür, dass dieser so attraktiv war, konnte ich ja nichts.
Im Rückspiegel sah ich ihren erwartungsvollen Blick. Ich schwang mich heraus, warf schwungvoll die Fahrertür zu, weil ich mit schwer schließenden Autotüren groß geworden bin – „Kinder, sind die Türen auch richtig zu?" – und mich immer noch nicht an die neue sanfte, leise Auto-Generation gewöhnt hatte. Mit Zentralverriegelung und solchen Dingen, da fehlt mir das Urvertrauen.
„Kann ich helfen?, rief ich, während ich auf sie zuging, die Linke in der Hosentasche, die Rechte ohne Zigarette, flott, das war mein Eindruck von mir selbst, sympathisch und offen, männlich lächelnd, ohne sexistisch zu sein. Sie seufzte, nein stöhnte (stöhnte!), und sagte: „Ich weiß nicht.
Ich beugte mich zu den Tiefen ihres Fahrrads hinab. Es lag auf dem Boden.
Na ja, wirklich kein Markenfahrrad, drei Gänge, Korb am Lenker, typisch Frau. „Es hat keinen Ständer. (Wow!) Aus der Nähe betrachtet war sie immer noch fast jung, Pfirsichhaut, so um die 30 oder um die 40, und sie sah sehr nach Bank aus. Dunkles Twinset, grauer Rock, tolle Beine, langes dunkelblondes Haar, und ich hatte sie in einer der inkompetenten Situationen in ihrem Leben erwischt. Sie war dem Heulen nah. Mehr so der Moment für eine starke Schulter, für einen Mann, der weiß, wie man Schrauben festdreht, Reifen aufpumpt, die Dinge in Ordnung bringt. Ich hockte mich hin und schaute zu ihr hoch: „Schaunwirmal
, sagte ich.
„Ich habe überhaupt keine Zeit!, sagte sie und hob ihre große schwarze Handtasche schnell aus dem Fahrradkorb. Eine Lady. Obwohl ihr ein Knopf an der Strickjacke fehlte. „Ich lasse mich heute scheiden!
, sagte sie, irgendwie verwirrt. Wahrscheinlich wollte sie es dringend machen.
Die Lady hatte einen Platten. Da meldete sich mein innerer Schweinehund, ich sagte: „Da kann ich jetzt nichts machen."
„Ach du meine Güte, ich muss in zwanzig Minuten bei Gericht sein." Sie sah mich groß an, und dann in Richtung Wagen.
Ich hatte komplett vergessen, dass ich nicht, wie sonst, auch mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto unterwegs war. Es gehörte mir natürlich nicht. Das war der Saab von meinem Freund Uwe. Groß, geräumig, viel zu viel Spritverbrauch. „Ich muss in zwanzig Minuten am Bahnhof sein, knurrte ich und fand sie gar nicht mehr so attraktiv. Frauen machen Ärger. Die hier machte Ärger, und nachher, am Bahnhof, würde Leila Ärger machen. Leila, die ich abholen und bei der ich Auto fahrend Eindruck schinden wollte. Leila, für die ich Arabisch lernte. Leila, die ich vielleicht heiraten wollte. Vielleicht! Leila, der ich gerade in Gedanken untreu geworden war. Aber jetzt wusste ich wieder, wohin ich gehörte. Nur kam ich hier auch nicht raus. „Legen wir los!
, befahl ich und hob das Fahrrad hoch. „Steigen Sie schon mal vorne ein!"
Sie hieß Christine und ließ sich wirklich gleich scheiden. Ich fuhr wie gesengt die Eschersheimer Landstraße hinab Richtung Innenstadt. Richtung Familiengericht. Das kannte ich schon, aber nicht privat. Beruflich, weil ich Privatdetektiv bin. „Was machen Sie denn so beruflich?, fragte Christine. „Wenn ich fragen darf?
„Ich bin Privatdetektiv. Sagte ich schlecht gelaunt. Ich kam mir immer dämlich, albern und verträumt vor, wenn ich das zugab. Andererseits musste ich mir ja einen Namen machen. Immerhin war ich erst seit 2 Monaten selbstständig –nachdem Mr. Gungulu mich gefeuert hatte. Genauer: Gungulu Private Observation, meistens jedoch Private Body Guards und meistens gut aussehende afrikanische Jungs. Mich hatte er für die „weißen
Fälle eingestellt, aber die gab es nicht oft genug für eine dauerhafte Festanstellung. Wir schieden in Frieden, logisch, Mr. Gungulu und seine Jungs sind sehr sympathisch und sehr treu, und für die Fälle, für die er mich brauchte, würde er mich frei beschäftigen. Versprochen! Das erzählte ich Christine aber nicht.
Aber ich gab ihr meine Visitenkarte. Potenzielle Kundin. Frau, hin und wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Sie hauchte nur: „Wie interessant! Ab dem Eschenheimer Tor rauchte sie und erging sich in Andeutungen über den abgrundtief schlechten und verlogenen Charakter ihres Ex-Mannes. Ich fühlte mich angemacht. Noch 11 Minuten und noch ein paar Ecken. Vorm Familiengericht ließ ich sie raus, noch 6 Minuten bis zum Hauptbahnhof, das würde ich nie schaffen. Christine deutete Richtung Kofferraum: „Behalten Sie’s. Oder schmeißen Sie es weg. Vielen Dank noch mal …
Sie war schon außer Atem, bevor sie losgelaufen war. Hübsche Figur, irgendwie.
„Nett, Sie kennengelernt zu haben!", rief ich ihr hinterher. Hätte ich gewusst, was alles noch auf mich zukommen würde, hätte ich das nicht so überzeugend über die Lippen gebracht …
2.
I
ch ging noch mal mein Alibi durch: Uwe gab mir den Wagen zu spät, er war noch mal Zeitung holen gegangen, obwohl ich schon da war. Nicht meine Schuld. Voller Kofferraum, Damenfahrrad – auch seine Schuld. Nicht meine. Keine Ahnung, was da lief. Klang gut. Die Kippen im Auto-Aschenbecher – auch Uwe. Lippenstift am Filter – Uwe war nicht schwul. Die Packung Damenzigaretten, die die Lady rauchte, hatte sie liegenlassen. Ich beschloss, mich an ihnen zu vergreifen. Stellvertretend. Als ich den Deckel öffnete, fiel mir ein goldenes Feuerzeug entgegen. Und ein Beutel mit weißem Pulver. Und das kurz vorm Frankfurter Hauptbahnhof. Ich zündete eine Kippe an, packte den Beutel wieder in die Zigarettenschachtel und steckte alles in die Kunstleder-Seitentasche des Saab. Dachte nicht nach.
Vier Minuten zu spät bog ich zur Nordseite ein, wo die Kurzzeit-Parkplätze sind. Schnappte mir einen, fummelte debil mit der Funkverriegelung herum und sprang elegant und viel beschäftigt durch die McDonalds-Filiale in die Bahnhofshalle. Vorbei an einigen Leuten, die scharf auf weißes Pulver sind. Gleis 3, natürlich am anderen Ende. Zeit ist Geld, Zeit ist Geld – ich drängelte und schlängelte mich so durch – als wäre es mein Leben – und erwischte Leila gerade noch. Sie war schon in Richtung U-Bahn unterwegs. Araberinnen warten nicht. Ich sollte vielleicht sagen: Moderne Araberinnen. Moderne Musliminnen. Darauf legt Leila größten Wert.
„Leila, Habibi, Salamaleikum!, hechelte ich. „Uwe war zu spät …
Es hörte sich nicht gut an, irgendwie verlogen. Andererseits: Die Ereignisse sind oft erschreckend banal. Die langweiligsten Dinge passieren pausenlos. Leila schaute streng. Darin war sie die Weltbeste.
„Ja? Und ich soll hier warten, warten, warten. Da kann ich gleich U-Bahn fahren, das geht schneller. Wieso Uwe?"
„Ich habe mir extra seinen Wagen geliehen, mein Liebling. Geben Sie mir Ihr Gepäck. Ich bin Ihr Chauffeur. Selbstverständlich können wir auch mit der U-Bahn fahren. Wie Sie wünschen. Geschafft. Überraschungstaktik. Umgedreht – Kapitel 17, „Wie stärke ich meine Situation?
in „Der Privatdetektiv" von Holger Müller, München, 1954, nur noch antiquarisch erhältlich. Mein Exemplar verkaufe ich nicht. Alles über meinen Beruf, der kein Lehrberuf ist, habe ich aus diesem Schinken. Und von meinem Aikido-Trainer. Und von Mr. Gungulu.
Einer von diesen kleinen Bahnhofstransportern kam frontal auf uns zu. Wir trollten uns. Ich mit Leilas Koffer und sie mit Handtasche und Rucksack. Modern eben, emanzipiert und trotzdem damenhaft. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem wunderschönen, glänzenden Zopf geflochten. Sie hatte braune Haut, braune Augen und dunkelrot lackierte Fußnägel. Ihr Gesicht war klein, mit einer zierlichen angedeuteten Hakennase und einem formvollendeten Mund. Sie schaute mutig und offenen Auges in die Welt, sie war die klügste Frau, die ich kannte. Und die Schönste. Ich vergaß Christine auf der Stelle und trug Leila den Koffer hinterher. „Nordseite!", dirigierte ich, und Leila schritt vor mir mit einem ganz leichten, sportlichen, gut gepolsterten Hüftschwung.
„Zu Ihnen oder zu mir?, fragte ich sie, als wir im Wagen saßen, das Gepäck auf den Rücksitzen, wegen des Fahrrads im Kofferraum. Ein guter Detektiv denkt vor, nicht nach. Plötzlich klopfte es ans Fahrerfenster, und ein zerfurchtes Drogengesicht, ganz Skelett und ohne Geschlecht, rief: „Hast du Steine?
Leila war schreck-erstarrt. Ich schüttelte wild den Kopf und beschäftigte mich mit Zündung, Gangschaltung, Gaspedal. Rückwärts. Das passiert einem hier öfter, vor allem, wenn man mit dunklen schicken Autos unterwegs ist. Aber wenn man das nicht will und so ganz schrecklich unangenehm findet, wenn man „solche Leute" noch nicht mal von weitem erträgt, dann wirkt ein Aufenthalt im Stuttgarter Hauptbahnhof Wunder. Fahren Sie da mal hin. Sie werden froh sein, wenn Sie wieder hier sind.
Mir fiel wieder der Beutel mit dem Pulver ein, in der Zigarettenschachtel, in der Seitentasche der Tür. Im Hinterkopf behalten, notierte ich mir. Jetzt nicht. Leila wollte nach Hause. Als moderne, aufgeschlossene Muslimin wohnt sie getrennt von ihrem Freund. Das hat den Vorteil, dass die Wohnung in einem, sagen wir mal, eher femininen Zustand ist. Nicht ganz so verdreckt, der Kühlschrank nicht ganz so öde und erst das Bad … Getrennt wohnen hat natürlich sicher noch viele andere Vorteile.
Sie war müde, sie kam aus Paris, dort hatte sie a) Verwandtschaft, b) konnte man dort viel besser einkaufen, vor allem c) Bücher und Schreibwaren und d) wohnte dort ihre Schulfreundin Ewa, Gott sei Dank auf dem selben Kontinent, nur 6 Bahnstunden entfernt. Für Libanesinnen sind das keine Entfernungen, das ist ein Klacks, wenn dein Bruder in Kanada studiert, deine Onkel und Tanten in Australien sind und deine Schwestern in Saudi Arabien oder Dubai. Paris, ein Glücksfall.
„Wegen Ewa bleibe ich hier, sagte Leila. „Nicht wegen dir.
Und lächelte mich freundlich an. „Trotzdem kannst du auf einen Kaffee mit hochkommen, wenn du willst. Ich lade dich ein."
„Du siehst nicht gerade aus, als ob du viel geschlafen hättest", bemerkte ich, misstrauisch, weil sie mich nie fragte, ob ich mitfahren wolle, nach Paris. Na ja, Frauengespräche, dachte ich. Aber vielleicht gab es noch andere Gründe? Einen Vetter zum Heiraten? Durchtanzte Nächte oder der gute Ruf? Wusste überhaupt jemand von mir, mit dem sie nun schon seit 5 Jahren regelmäßig richtig guten Sex hatte, der ihr ein Schuhregal gebaut hatte, sie mit Verdacht auf Blinddarmentzündung in die Notaufnahme der Uni-Klinik gebracht hatte, ihr Geld geliehen, die BWL-Magisterarbeit und haufenweise Vorträge auf ihr Deutsch überprüft und ihre Hand gehalten hatte, als ihre Mutter starb, in Syrien, und sie hier war und nicht dort?
Statt mir direkt zu antworten, schaute sie direkt in meine Augen. Lange, intensiv – was wollte sie mir nur damit sagen? Was?
„Willst du mich heiraten?", fragte sie.
3.
A
uf Leilas Heiratsantrag musste ich nicht gleich antworten. Freundlicherweise ließ sie mir ein wenig Zeit zum Überlegen. Eigentlich ging es um den Aufenthalt, ein Thema, das mich mittlerweile die Wände hochgehen ließ. Sie hat Deutsch gelernt und hier studiert. Jetzt überlebt sie mit einem dieser üblichen schicken befristeten Uni-Verträge, bis sie ihren Doktor abgeschlossen hat. Und wenn sie keinen neuen Vertrag an Land zieht, dann heißt es Abschied nehmen, zumindest wird es dann schwierig – und sie hat Angst. Und wie soll sie so ihren Doktor machen, bei dieser Gelegenheit werden doch sowieso alle verrückt … Natürlich ging es auch nicht um den Aufenthalt, es ging auch um uns, um die Zukunft, die Sicherheit, um alles. Sie sagte, sie sei modern, aber durchaus Muslimin, und irgendwann müsse man sich mal entscheiden, wie ernst die Sache sei. Wahrscheinlich ist das der Inhalt der Gespräche mit Ewa. Würde Zeit, dass ich die Dame mal kennenlerne.
Ich ließ Leila schlafen und fuhr Uwes Schlitten von Eschersheim nach Bornheim. Nicht ohne Christines Zigarettenschachtel an mich zu nehmen, die mir im rechten Moment wieder einfiel. Ich liebe mein Gedächtnis. Nach fast 50