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Boden unter den Füßen: Bauernsöhne erzählen ihre Geschichte
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eBook279 Seiten3 Stunden

Boden unter den Füßen: Bauernsöhne erzählen ihre Geschichte

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Über dieses E-Book

Boden unter den Füßen so lautet eine der über 20 Erinnerungen an eine Kindheit auf dem Bauernhof, die in diesem Buch gesammelt wurden. Herausgeberin Ulrike Siegel, weitreichend bekannt durch ihre Sammlung der Kindheitserinnerungen von Bauerntöchtern, geht in diesem ihrem nächsten Buch neue Wege. Denn hier erzählen erstmals Männer, wie sie ihre Kindheit und Jugend zwischen den 50er und 80er Jahren auf dem Land erlebt haben. Diese neue, männliche Sichtweise auf das Landleben ergänzt absolut notwendig die bisherigen Aufzeichnungen der weiblichen Ansicht in Ulrike Siegels zeitgeschichtlicher Arbeit. Wie war es für Jungen und junge Männer in der Landwirtschaft aufzuwachsen? Welche Ängste, Sehnsüchte und Perspektiven gab es für sie? Was hat sie in dieser Zeit besonders geprägt? Diese und andere Fragen werden in den spannenden, heiteren und ehrlichen Beiträgen beantwortet.
SpracheDeutsch
HerausgeberLV Buch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2013
ISBN9783784390468
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    Buchvorschau

    Boden unter den Füßen - LV Buch

    Impressum

    Wie der Vater, so der Sohn?

    Hier sind sie endlich – die Geschichten der Bauernsöhne. Schon seit dem Erscheinen der Bauerntöchter-Geschichten wurde immer wieder der Wunsch geäußert, doch bitte schön auch die Brüder dieser Bauerntöchter-Generation zu Wort kommen zu lassen. Wie haben diese das Aufwachsen auf dem Bauernhof damals erlebt? Was hat sie geprägt, wie blicken sie denn heute auf diese Zeit zurück?

    16 Bauernsöhne gehen unter dem Arbeitstitel „Der Apfel fällt meist weit vom Stamm diesen Fragen nach. Es geht also um das Verhältnis Vater – Sohn, „Apfel – „Stamm", um die Verwurzelung in der bäuerlichen Herkunft oder die Entfernung davon. Wie weit kann ein Apfel von seinem Stamm fallen?

    Potenzielle Hoferben und passionierte Schlepperfahrer, aber auch weichende Erben und Weltenbummler beschreiben ihre Lebenswege, die alle auf einem Hof begannen und die sie in ganz unterschiedliche Richtungen führten. Alle haben sie in den 50er bis 70er Jahren auf Bauernhöfen in den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands ihre Kindheit und Jugend erlebt, in der Zeit des beginnenden Strukturwandels, der zunehmenden Technisierung und Spezialisierung, in einem immer randständiger werdenden bäuerlichen Umfeld. Einige sind der Landwirtschaft treu geblieben, haben den elterlichen Hof übernommen oder sind nach Umwegen wieder dahin zurückgekehrt, andere haben ihr auch für immer den Rücken gekehrt.

    Die autobiografischen Geschichten erzählen vom Aufwachsen mit Erfahrungen und Entbehrungen, zwischen Privileg und Verantwortung, von Weichenstellungen im Leben zwischen Bewahrung von Traditionen und der Entfaltung eigener Lebenspläne. Sie vermitteln mit Alltagsgeschichten ein Bild von Landwirtschaft, jenseits jeglicher Idealisierung und Verteufelung. Und sie reflektieren rückblickend den Wert bäuerlicher Sozialisation für ihr heutiges Leben. Sie machen damit einen spannenden Teil der Agrargeschichte erlebbar.

    Mein ganz herzlicher Dank gilt allen Autoren, die sich auf dieses Wagnis eingelassen haben, für ihre Zeit und ihre Offenheit, mit der sie mit ihren sehr persönlichen Geschichten einen Einblick in ihr Leben gegeben haben. Möge es ihnen gelingen, die Bauern und den Wert ihres Tuns wieder mehr ins Blickfeld zu rücken. Nicht zuletzt wird von ihnen die Zukunft der ländlichen Räume und der Landwirtschaft abhängen.

    Oktober 2009

    Ulrike Siegel

    Hans Georg Frank

    Der Zettel auf dem Küchentisch

    Hans Georg Frank, geb. 1954 in Gschwend im Welzheimer Wald (Baden-Württemberg), wächst mit zwei Brüdern auf. Nach dem Abitur arbeitet er als Redaktionsvolontär bei der Rundschau in Gaildorf, als Redakteur bei der Heidenheimer Zeitung und bei der Heilbronner Stimme. Seit 1985 als Korrespondent der Südwest Presse (Ulm) in Heilbronn. Verheiratet mit einer Fernsehjournalis­tin, zwei Kinder.

    Auf den Zettel war Verlass. Wenn ich von der Schule, dem Gymnasium in Welzheim, nach Hause kam, fand ich während der Erntezeit die Nachricht meiner Mutter auf dem Küchentisch, sauber abgelegt vorne links, also unübersehbar. Die handschriftliche Notiz teilte mir stets zweierlei mit. Erstens: Sind auf der Wiese/dem Acker xy. Zweitens: Dein Essen steht im Backofen. Die Bedeutung dieser Botschaft hatte ich bald verinnerlicht: Wir warten auf dich, du musst vorher etwas essen – Ernährung ist auf dem Bauernhof schließlich eine Selbstverständlichkeit, Hausaufgaben dagegen konnten später erledigt werden.

    Als braver Bub gehorchte ich natürlich, meistens wenigstens, und flitzte mit dem Fahrrad dorthin, wo die liebe Familie bereits schaffte. Nur wenn die Lehrer gar zu viel aufgegeben hatten, musste die Mithilfe reduziert werden. An Handlangerdienste war ich schließlich von klein auf gewöhnt. Zupacken, das gehörte zum Alltag auf dem Bauernhof. Ganz egal, was es zu erledigen galt, ob Kartoffeln roden, Rüben hacken, Grünfutter schneiden, Getreide ernten, auch für ein Kind gibt es immer etwas zu tun. Kaum, dass ich mich einigermaßen sturzfrei vorwärtsbewegen konnte, schon hatte ich irgendein Gerät in der Hand. Was eher spielerisch begann, entwickelte sich mit den Jahren zu scheinbar fest einkalkulierter Unterstützung. Rechen und Harke, Besen und Gabel gehören zu einem Bauernbuben, habe ich gelernt. In meinem kleinen Dorf im Schwäbischen Wald gab es keine Familie, in der dies nicht genauso gehandhabt worden wäre.

    Volkswirtschaftlich mögen die kindlichen Handreichungen von höchst untergeordneter Bedeutung sein. Für die technische Fortbildung des Buben waren sie allerdings sehr wichtig. Wenn der Vater ein bestimmtes Werkzeug benötigte, durfte ja auf keinen Fall das falsche herbeigeschleppt werden, es musste sowieso alles dalli dalli erledigt werden. Also lernte der tüchtige Sohn die Unterschiede zwischen diversen Hämmern und Schraubenschlüsseln. Selbst bei Schaufeln und Gabeln musste sorgfältig nach dem jeweiligen Zweck getrennt werden. Sogar ganz spezielle Utensilien wie der Sapi bei der Waldarbeit sind einem lernfähigen Agrar-Assistenten bestens vertraut.

    Ganz nebenbei wurde man Zeuge des technischen Fortschritts. Als kleiner Knirps guckte ich noch staunend zu, wie das Heu mit langen Gabeln auf einen Wagen mit eisenbeschlagenen Holzrädern gehievt wurde, auf dem der Großvater als Lademeister fungierte. Eine große Erleichterung war schon der „Heuschwanz", der am Schlepper befestigt wurde, um den Nachschub für das Winterfutter hinterrücks aufzunehmen. Bald schon diente diese Konstruktion als Gerüst für ein zeltartiges Lager, denn der revolutionäre Ladewagen machte sie überflüssig. Auch für einen Bauernbuben, der für Technik nur mittelmäßige Begeisterung mobilisieren kann, gibt es kaum ein großartigeres Ereignis als den Erwerb eines neuen Schleppers, den man zudem noch weit entfernt – in diesem Fall in Heilbronn – abholen kann. Es war ein Güldner S 30 (oder S 35?), mit dem wir am 24. Mai 1965 unterwegs waren und aus einem sehr ungewöhnlichen Grund eine Pause in der Nähe von Aspach einlegen mussten. Die englische Königin Elisabeth II. kreuzte unseren Weg, als sie von Schwäbisch Hall nach Marbach am Neckar fuhr. Natürlich stellten wir uns an den Straßenrand und starrten den Konvoi mit geziemender Neugier an. Eine leibhaftige Königin läuft einem ja schließlich nicht alle Tage über den Weg.

    Als Bauernsohn bist du ein Teil des Systems. Je älter du wirst, des­to unverzichtbarer ist deine Mitarbeit. Diese eherne Regel stellt man nicht einfach in Frage. Es gab ja schließlich auch schöne Aufgaben. Den Schlepper über die abgemähte Wiese zu lenken, während der Wagen mit Heu beladen wird, das ist für einen Sieben-, Achtjährigen schon eine tolle Sache, jedenfalls viel toller, als hinter dem Pflug über den Kartoffelacker zu stolpern und die letzten Knollen aufzuklauben. Wenn mit dem schweren Schleifrechen noch der letzte Grashalm von der Wiese gekratzt werden musste, gehörte diese Tätigkeit nun mal zum schwäbischen Agrar-Glaubensbekenntnis „Bloß nix verkomme lasse".

    Das Bewachen der Kühe auf einer Weide, wohin sie über einen Gemeindeverbindungsweg getrieben wurden, konnte ich dank meiner blühenden Fantasie zum Wildwest-Abenteuer eines unerschrockenen Cowboys verklären. Fester Bestandteil des Rituals war die Kontrolle des elektrischen Zauns mit Hilfe eines Grashalms. Mit fortschreitender Technisierung des Hofes trieb ich die Kühe nicht mehr, wie es der Schäfer mit seiner Herde macht, jetzt wurden die Tiere an den Traktor gekettet, der im Schneckentempo den abgelegenen Weidegründen entgegentuckerte. Mir fiel oft am späten Nachmittag das Abholen der Kühe auf diese motorisierte Art zu. Das habe ich auch gerne erledigt, war ja nicht weiter schwierig und eigentlich mit keiner beschwerlichen Handarbeit verbunden. Nur mittwochs hat mir das nicht so recht gepasst. Mittwochs kam damals im einzig empfangbaren Radioprogramm des Süddeutschen Rundfunks eine Sendung, die ein junger Mensch um nichts in der Welt verpassen durfte. „Mittwochsparty hieß dieses Muss. Da wurden die aktuellsten Hits gespielt, die sonst nicht so oft über den Äther gingen. Glücklicherweise konnte ich ein von meinem ältesten Bruder beschafftes Kofferradio der Marke „Grundig benutzen, damit mir bestimmt nichts entging. Inwiefern sich diese musikalische Berieselung auf die Milchleistung der von mir eskortierten Kühe auswirkte, ist nie untersucht worden.

    Schon mit zwei Jahren wurde Hans Georgs Begeisterung für Fahrzeuge aller Art deutlich

    Für das Füttern der Kühe und Bullen wurde ich immer mehr eingespannt. Samstags, wenn die Grasrationen für zwei Tage beschafft werden mussten, kam ich zum Zusammenrechen und Aufladen mit, nachdem nun alle vierzehn Tage ein verlängertes Wochenende ohne Unterricht in Mode gekommen war. Abends wurde ich abgestellt zum Auffüllen der Tröge, was sich allerdings einigermaßen gut mit dem Fußballspielen auf dem Hof verbinden ließ. Wenn freilich das Kicken gerade mal arg spannend war, konnte es schon geschehen, dass ich mit dem Nachschub für die Milchlieferanten etwas in Verzug gekommen bin. Wenn es jahreszeitlich passte, habe ich die Viecher manchmal mit einer Extraportion Futterrüben für das Warten entschädigt.

    Auch die Entsorgung der Verdauungsprodukte fand sich in meinem Aufgabenkatalog. Mit dem Mist hatte ich keinerlei Berührungsängste. Der Einsatz mit der Gabel ging mir sogar einigermaßen flott von der Hand: Aufladen und ruck, zuck mittels Kran abkippen. Das großflächige Ausbringen der Jauche machte mir wegen des Intensivaromas weniger Freude. Als ich jedoch alt genug war, mit dem Gespann auch über die Landstraße zu zuckeln, fand ich mehr Gefallen an der Beseitigung des Flüssigdüngers. Mit dem Fendt Dieselross (16 PS) ging es nämlich zunächst eine kleine Steigung hoch, sehr gemächlich. Weil die Strecke unübersichtlich war, mussten sich Autofahrer notgedrungen gedulden und hinten anstellen. Für manche eiligen Zeitgenossen war dieses Zeitlupentempo eine Zumutung, sie konnten gar nicht schnell genug jenen Punkt erreichen, an dem sie um die Kurve sehen und hoffentlich überholen konnten. Dazu jedoch rückten sie meist dem Fass mit der stinkenden Brühe sehr nahe. Ein Fehler: Wenn ich nämlich einen Gang hochschaltete, ließ ich die Kupplung ein bisschen abrupt los – physikalischen Gesetzen gehorchend, schwappte die Gülle aus dem lose befestigten Deckel auf die Motorhaube des Dränglers. Meine klammheimliche Freude konnte ich nur mühsam verbergen.

    Wegen des Schlepperfahrens werden Bauernbuben von Kumpels aus Arbeiterfamilien oder aus der Stadt oft beneidet. Dabei ist die Zugmaschine ein gefährlicher Apparat. Dies musste ich am eigenen Leib erfahren, ohne schon selbst am großen Lenkrad zu sitzen. Ich dürfte wohl um die sechs Jahre alt gewesen sein, auf jeden Fall noch kein Schüler, als ich mit der Familie auf die Wiese fuhr, um Grünfutter zu holen. Der Schlepper, ein Eicher, stand an einer ziemlich abschüssigen Halde. Einziger Passagier: ich auf dem Sitz über dem linken Rad. Plötzlich setzte sich der Bulldog in Bewegung, rollte zunächst ganz langsam den Abhang hinunter. Meine Mutter wollte die Handbremse ziehen, stürzte aber. Mein Vater versuchte gleichfalls, den grauen Eicher zu stoppen – vergebens, er zog sich mehrere Knochenbrüche zu. Während meine Eltern mit schweren Verletzungen auf der Wiese liegen blieben, überschlug sich der Schlepper und kam auf allen vier Rädern in einem Bach zum Stehen. Dem verdutzten Knirps ist dabei nicht ein Härchen gekrümmt worden: Ich hatte mich, wohl instinktiv, am Sitz festgeklammert. Lebensretter war das Dach, das den gewaltigen Einwirkungen standgehalten hatte. Überrollbügel gab es damals noch nicht.

    Als Reporter auf dem Schlepper 1978

    Später, im Gymnasium, war die Abstammung aus einer Bauernfamilie eine eher zwiespältige Erfahrung. Vielen Lehrern dieser kleinstädtischen Bildungsanstalt schienen Kinder von Höfen der weit verstreuten Weiler nicht ins soziale Raster zu passen. Diese sogenannten Pädagogen widmeten sich mit auffallender Fürsorge lieber den Nöten der Sprösslinge angesehener Mitglieder der besseren Gesellschaft. Hatte der begriffsstutzige Abkömmling eines Arztes oder Architekten eine Verständnisblockade, nahmen sich diese Zwei-Klassen-Studienräte ihrer besonders an. Der Bauernbub durfte derlei Hingabe nicht erwarten. Wenn für ihn der Unterrichtsstoff zu schwierig war, musste er sich eben eine andere Schule suchen. Glücklicherweise war ich mit ausreichend Intelligenz ausgestattet, um solche Benachteiligung in erträglichen Grenzen zu halten. Mitschüler Thomas, ein Bauernbub, bekam dagegen oftmals die volle Breitseite dieses seltsamen Auswahlverfahrens ab, bis hin zu körperlichen Übergriffen.

    Die Mitschüler hatten mit meiner Abstammung glücklicherweise keine Probleme. Ganz im Gegenteil: Musste etwa für den Biologieunterricht ein Anschauungsobjekt besorgt werden, das im Lehrmittelfundus nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stand, pflückte ich eben einige Büschel Salbei und schleppte selbige in die Schule. Mitunter führten solche Beschaffungsmaßnahmen auch zu Irritationen. Einmal verlangte Oberstudienrat Dr. Heiligmann nach frischen Birnenblüten. Eine leichte Aufgabe, dachte ich und stopfte das Material in eine große Plastiktüte. Als ich die Beute großzügig verteilte, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass ich ein Behältnis erwischt hatte, in dem vorher wohl Heringe eingepackt worden waren. Peinlich! Doch ich war extrem erleichtert, als der kluge Botanik-Experte die Schüler über das typische Fischaroma der Blüten aufklärte.

    Meine Klassenkameraden lernten auch den Freiraum eines Bauernhofes zu schätzen. Die Fertigstellung eines großzügig bemessenen Maschinenschuppens mit Trockenboden für das Getreide verknüpfte ich mit einer Party, wie es sie bis dahin noch nicht gegeben hatte. Weil ja reichlich Platz vorhanden war, wo später der Weizen gelagert werden sollte, konnten alle Gäste übernachten. Das Fest geriet zu einem vollen Erfolg, wenngleich die Nachbarn möglicherweise nicht zum Schlaf in der sonst gewohnten Ungestörtheit gefunden haben dürften. Solche geselligen Zusammenkünfte verlegte ich auch gerne in abseits gelegene Waldhütten, die ich dank guter Beziehung zum Forstpersonal nutzen durfte. Fuchs und Hase haben dann sicherlich keine ruhige Nacht gehabt, dafür war die Musik vom Kassettenrecorder leider viel zu laut.

    Das Dorfleben bot Freiräume, die sich meine Kinder heute nicht einmal annähernd vorstellen können. Wir hatten Platz, viel Platz, konnten auf vielen Wiesen kicken, stromerten durch Wälder, stauten Bäche auf und bauten „Lägerle, rasten querfeldein mit unseren Fahrrädern, bretterten auf selbst gebauten Fahrzeugen des Typs „Abenteuerlich die steilsten Gassen hinunter, kletterten auf schwindelerregend hohe Bäume. Wenn wir stundenlang unterwegs waren, musste sich keine Mutter Sorgen machen und sich bei Hinz und Kunz nach unserem Verbleib erkundigen. Wir kamen ja nach Hause, meistens allerdings ziemlich verdreckt und mit leicht ramponierter Kleidung – aber hungrig und glücklich.

    Immer nah an der Landwirtschaft: Interview mit einem Schäfer auf den Heilbronner Neckarwiesen 1980

    Schade nur, dass in den Ferien die familiären Verpflichtungen zum Nachteil gerieten, was mit fortschreitender Pubertät als Ein­engung der persönlichen Entfaltung empfunden werden musste. Entschwanden die lieben Freunde mit ihren Eltern an entlegene Strände von Mittelmeeranrainerstaaten, so durfte ich, der Bauernbub, meinen Sonnenbrand auf der heimischen Wiese kultivieren. Urlaub, das war ein Fremdwort, fast ein Tabu, weil so etwas einfach nicht mit dem landwirtschaftlichen Dasein zu vereinbaren war. Für ein paar Wochen mit einem Interrail-Ticket durch Europa ziehen? In einem Zug von Saloniki nach Stockholm? Völlig undenkbar! Für Abenteuer vor der Haustür sorgte allenfalls mein Freund Fittich, der mir zeigte, wie man ganz einfach mit der Hand eine Forelle aus dem Huberlesbach holt. Die Fische waren jedoch so klein, dass sie rasch wieder ihre Freiheit im klaren Wasser zurückbekamen.

    Ich musste schon 18 Jahre alt werden, ehe ich tatsächlich eine Reise unternehmen durfte/konnte, die diese Bezeichnung auch verdiente. Ein kleines Dorf namens Arcenant in Burgund war das Ziel. Doch dort ging es nicht um Laisser-faire mit Baguette und Coq au vin, wenigstens nicht in erster Linie. Kurz vor dem Abitur wollte ich mit meinen Freunden die nicht ganz befriedigenden Französischkenntnisse radikal verbessern. Das ehrenwerte Vorhaben konnte nicht ganz in die Tat umgesetzt werden, weil die Dorfjugend auffallend größeres Interesse an unseren schwäbischen Schimpfwörtern zeigte, als uns neue Vokabeln beizubringen. In dem Kaff gab es kaum mehr einen Burschen, dem nicht „Halbdackel und „Schafseckel flüssig über die Lippen gegangen wäre. Selbst einige Mädchen, die sich tagsüber bei der Himbeerernte die Finger einschmutzten, fanden Gefallen an den Exoten aus Allemagne.

    Den sommerlichen Arbeitseinsätzen waren freilich auch positive Aspekte abzugewinnen. Hier lernte ich, wie wichtig Solidarität ist. Nicht nur innerhalb der Familie, die gemeinsam eine Aufgabe erledigt. Gerne denke ich auch daran zurück, wie Nachbarn manchmal mit anpackten, wenn ein plötzlicher Regenschauer, von dem der Wetterbericht nichts gewusst hatte, das Heu kurz vor dem Einbringen einzunässen drohte. Dann wurde mit vereinten Kräften und erhöhtem Tempo geschafft, um der meteorologischen Unbill, ruck, zuck, ein Schnippchen zu schlagen. Und anschließend wurde gemeinsam gevespert. Alle zusammen am Küchentisch vor vollen Tellern, das war ein mehr als sättigendes Erlebnis.

    Jeden Tag aufs Neue wurde deutlich, dass nur durch Leistung etwas erreicht werden kann – „Wer nix tut, hat nix. Dieser Grundsatz fiel mir ein, als ich als Teenager das Angebot bekam, ganz scheußliche Bilder mit Schutzengeln und Kitschblumen zu verkaufen und dafür mein Taschengeld nennenswert aufzustocken. Ich muss ziemlich erfolgreich gewesen sein, denn der Händler hatte nicht mit einem solchen Absatz gerechnet. Wenn es eine Geldquelle anzuzapfen gab, war ich schnell zur Stelle. Das Zählen der Tiere in den Ställen für den Viehversicherungsverein brachte ebenso ein paar Pfennig ein wie das „Fleischumsagen, wenn nach einer Notschlachtung die Mitglieder der Solidargemeinschaft ihre Rationen abholen mussten.

    Keineswegs möchte ich den Eindruck erwecken, dass der Fortbestand unseres Familienbetriebs von meiner Arbeitskraft abhängig gewesen wäre. Ich war lediglich ein ganz kleines Rädchen in dem großen Getriebe. Eigentlich nur ein Ersatzrädchen. Denn zum legitimen Nachfolger war ja mein ältester Bruder auserkoren, auch wenn dieser sich auf einer weiterführenden Schule sicherlich bes­tens behauptet hätte. Ich hatte nicht sonderlich konkrete Überlegungen über meine berufliche Zukunft angestellt. Gewiss, es gab im Endspurt zur Reifeprüfung vage Planspiele: Pfarrer, Rechtsanwalt, Lehrer? Oder doch lieber Küchenchef? Dabei hatte mein Vater längst erkannt, wo es karrieremäßig langgehen könnte. Schon mit 16 Jahren hatte ich mir eine einträglich-abwechslungsreiche Freizeitbeschäftigung zugelegt – ich war freier Mitarbeiter für vier Tageszeitungen meiner von Gemeindegrenzen zerteilten Heimat. Ich ließ mich zu Hauptversammlungen von Vereinen aller Art chauffieren oder berichtete ausführlich über einen plötzlichen Wintereinbruch im Mai, auch die neue Stromleitung quer durch den Landstrich hielt ich als Chronist für die Nachwelt fest.

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