175 Jahre Cunard Line: Die Geschichte der renommiertesten Passagierreederei der Welt
Von Ingo Thiel
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Buchvorschau
175 Jahre Cunard Line - Ingo Thiel
Tabarelli
DIE EISENBAHN AUF DEM WASSER
Samuel Cunard führt den regelmäßigen Liniendienst über den Atlantik ein
Samuel Cunard und die von ihm gegründete Cunard Line gelten in Großbritannien und dem Commonwealth-Staat Kanada, dem Geburtsland Cunards, als Ikonen. Doch der Pionier des regelmäßigen Atlantikdienstes über den Atlantik ist gar nicht britischen Ursprungs. Die Stammbaumarchive der amerikanischen Quäker offenbaren Überraschendes: Das traditionsreichste noch bestehende Unternehmen in der Geschichte der Atlantikschifffahrt geht auf deutsche Wurzeln zurück.
Reedereigründer Samuel Cunard war der Ururenkel des 1653 in Krefeld geborenen Thomas Kunders, der wegen seiner Angehörigkeit zur mennonitischen Kirche in der Folge der Reformationskriege mit seiner Frau Magdalena in die Neue Welt auswanderte. Die Überfahrt erfolgte mit dem Segelschiff CONCORDE, mit dem die Familie Kunders am 16. August 1683 in Philadelphia ankam. Die Familie ließ sich in Germantown in der Quäkerkolonie Pennsylvania nieder, wo 1689 Sohn Henry geboren wurde. Der deutsche Nachname Kunders wurde im Laufe der Jahre mehrfach nach englischer Lautsprache geändert: Henry wurde zunächst als Cunders, später als Conred eingetragen. Sein 1731 geborener Sohn Samuel erhielt den Nachnamen Conrad. Dessen 1755 in Philadelphia auf die Welt gekommener Sohn Abraham, der Vater von Reedereigründer Samuel, nahm später zunächst den Namen Cunrad und dann schließlich Cunard an. Abraham Cunard siedelte nach dem Unabhängigkeitskrieg, der im Frieden von Paris mit der Anerkennung der Souveränität der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Briten 1783 endete, im gleichen Jahr nach Kanada um, weil er den Briten weiterhin loyal verbunden blieb und daraufhin enteignet wurde. Als Wohnsitz suchte der Zimmermann für sich und seine Frau Margaret Halifax in Nova Scotia aus, da Kanada als britische Kolonie weiterhin Teil des Empires blieb.
Hier erblickte Samuel Cunard als erster von fünf Brüdern am 21. November 1787 das Licht der Welt. Bereits als Jugendlicher sammelte er geschäftliche Erfahrungen, als er mit 17 Jahren eine Gemischtwarenhandlung aufmachte. 1808 überzeugte er seinen Vater, die Gesellschaft Abraham Cunard & Sohn zu gründen, die Firma engagierte sich zunächst im Eisen-, Kohle- und Holzhandel sowie Walfang und spezialisierte sich dann auf Transporte mit Schiffen. Erste Erfahrungen im Transatlantikdienst wurden mit dem eigenen Segelschiff WHITE OAK gemacht, das zwischen Halifax und London verkehrte. Am 4. Februar 1815 heiratete Samuel Cunard Susanne Duffus, die ihm neun Kinder schenkte, nach dreizehn Jahre Ehe 1828 aber früh verstarb, Cunard war mit 42 Jahren Witwer.
Die BRITANNIA im Hafen von Liverpool, kurz vor dem Ablegen
Fahrpläne oder feste Abfahrtszeit waren damals noch nicht üblich. Ein Schiff wartete an der Pier auf Passagiere, gesammelte Post oder Fracht, bis es voll beladen war, und fuhr erst dann los. Das änderte sich erst am 27. Oktober 1817 als in New Yorker Zeitungen die Anzeigen der neu gegründeten New York Packet Company erschienen, die eine neue Geschäftsidee ankündigten: Die Schiffe der neu gegründeten Gesellschaft sollten monatlich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit ablegen. Gleichlautende Anzeigen erschienen in New York sowie in Liverpool und erklärten: »Die Schiffe fahren, egal, ob voll beladen oder nicht.« Die »Black Ball Line«, wie das Unternehmen wegen seines Logos bald genannt wurde, war schnell erfolgreich mit ihrem neuen Konzept, das auch bei Samuel Cunard auf Interesse stieß.
Als Abraham Cunard 1819 in Rente ging und das Geschäft an Sohn Samuel übergab, unterhielt sein Unternehmen 40 Schiffe und hatte sich den lukrativen Auftrag gesichert, im Auftrag der englischen Post den Brief- und Paketservice entlang der amerikanischen Ostküste von Neufundland bis zu den Bermuda-Inseln zu unterhalten. Samuel Cunard entwickelte dabei effiziente Methoden zur Be- und Entladung der Schiffsfrachten, eine Erfahrung, die ihm im späteren regelmäßigen Transatlantikdienst sehr zugute kam. Im Januar 1825 wurde Cunard von der Ostindischen Handelsgesellschaft zum Agenten ernannt und übernahm den Teetransport von China nach Kanada. Zwei Jahre später übergab ihm die kanadische Regierung die Verantwortung für die Errichtung von Leuchttürmen entlang der Küste Novia Scotias.
Seereisen waren um diese Zeit eine eher beschwerliche Angelegenheit, gerade über den oftmals rauen Atlantik. Den Schiffen mangelte es an Bequemlichkeit und Komfort für die Passagiere. Die Schlafräume waren mit bis zu 24 mehrstöckigen Betten belegt, in den schmalen Gängen hing die Wäsche zum Trocknen. Man schlief auf harten Holzpritschen von 45 Zentimeter Breite, so tief sind heute die Regalbretter der Bibliothek an Bord der QUEEN VICTORIA. Bis zu vier Wochen mussten die Passagiere, meist Emigranten mit all ihren Habseligkeiten, in ihren düsteren Kojen ausharren. Und das ohne Toiletten, es gab nur Eimer, die bei stärkerem Seegang umkippten. Waschen konnte man sich nur mit Meerwasser, das gebunkerte Frischwasser wurde nur zum Kochen und Trinken verwendet. Auch in der Ersten Klasse waren die Verhältnisse nicht viel besser, ein eigenes Badezimmer wurde erstmals 1870 auf der ABYSSINIA eingeführt. Der Vielreisende Samuel Cunard bemerkte: »Eine Reise mit einem Ozeanriesen ist, als ob man ins Gefängnis kommt – mit dem Unterschied, dass man dort wenigstens nicht Gefahr läuft zu ertrinken.«
Gemeinsam mit seinen Brüdern Henry und Joseph beteiligte sich Samuel Cunard 1833 am Dampfschiff ROYAL WILHELM, das 235 Aktionären der Quebec and Halifax Steam Navigation Company gehörte. Das Schiff war für den regelmäßigen Personen- und Postverkehr zwischen Quebec City und der Ostküste Kanadas gebaut worden, wurde aber auch für die Überquerung des Atlantiks eingesetzt. Dabei fuhr die ROYAL WILHELM zwar viel unter Dampf, meistens wurden aber doch Segel eingesetzt, weil die Kessel gereinigt werden mussten. Dabei ging viel Zeit verloren, die schnellsten Schiffe konnten den Atlantik damals in gut zwei Wochen überqueren, wenn kein Sturm oder widrige Strömungsverhältnisse aufkamen. Es konnten aber auch ein oder zwei Wochen mehr werden, wenn Orkan oder Flaute herrschte, die Ankunftszeiten richteten sich nach den Witterungsbedingungen. Samuel Cunard sah sich nach einer verlässlicheren und schnelleren Methode um und entwickelte ein Konzept, das auf dampfgetriebenen Schaufelraddampfern basierte. Der Vorteil von Dampf- gegenüber Segelschiffen war die vorhersagbare und konstante Geschwindigkeit, die einen regelmäßigen Fahrplan erlaubte – eine Eisenbahn auf dem Wasser.
Cunards erstes Schiff
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt die B RITANNIA als das erste Schiff von Cunard. Doch das stimmt nicht: Zwar war die B RITANNIA der erste Cunard Liner, der den von der Admiralität gewonnenen Auftrag, die Post von der Alten in die Neue Welt und umgekehrt zu bringen, mit der Jungfernfahrt am 4. Juli 1840 erfüllte, doch das erste Schiff der Cunard Line war die winzige U NICORN.
Die UNICORN lief bereits 1836 in Greenock vom Stapel, hatte 648 Tonnen (die BRITANNIA lag bei 1.156 Tonnen) und war 9,5 Knoten schnell. Besitzer waren George und John Burns, die Partner von Samuel Cunard bei der Gründung der British and North America Royal Mail Steam Packet Company, die kurz Cunard Line genannt wurde.
Durch den Admiralitätsvertrag benötigte Cunard einen Zubringerservice von Halifax nach Pictou in Quebec. Die UNICORN war perfekt geeignet und so charterte Cunard das Schiff für sechs Jahre. Wann immer die BRITANNIA oder eines ihrer drei Schwesterschiffe in Halifax anlegte, nahm die UNICORN einige Passagiere auf, um sie über den Sankt-Lorenz-Strom ins Landesinnere Kanadas zu bringen. Die UNICORN verließ Liverpool am 16. Mai 1840 unter dem Kommando von Kapitän Walter Douglas, der damit zum ersten Kapitän der Cunard-Geschichte wurde. Mit 27 Passagieren an Bord erreichte das Schiff Halifax am 30. Mai und segelte weiter nach Boston, wo es am 3. Juni eintraf.
Die UNICORN blieb bis 1845 in Diensten Cunards, dann wurde der Zubringer nach Quebec eingestellt. Das Schiff wurde 1846 zunächst an die portugiesische Marine verkauft und später nach dem Einbau neuer Dampfkessel an eine Linie verkauft, die regelmäßig von Panama nach San Francisco fuhr. Die Spur des Schiffes verliert sich 1858, zuletzt fuhr die UNICORN im Liniendienst von Manila an die chinesische Küste und wurde vermutlich dort abgewrackt.
Um einen Eindruck von den Größenverhältnissen zu bekommen: Wenn man Schornstein und Masten der BRITANNIA entfernt hätte, würde der Rumpf locker in das BRITANNIA Restaurant der QUEEN MARY 2 passen. Und die noch kleinere UNICORN könnte gleichzeitig danebenliegen.
Postbote Ihrer Majestät
Zum Jahreswechsel 1838/1839 segelte Samuel Cunard mit der REINDEER nach London, als er an Bord eine fünf Wochen alte Anzeige der in Halifax erscheinenden Zeitung »Nova Scotia« las, in welcher der Postservice zwischen dem Britischen Königreich, Halifax und New York ausgeschrieben wurde. Die Bedingung war, dass Dampfschiffe eingesetzt werden sollten.
In London angekommen, gab Samuel Cunard sofort sein Angebot ab, obwohl die Frist bereits abgelaufen war: Er wollte Dampfschiffe mit 300 PS einsetzen, die im 14-tägigen Wechsel den Atlantik überqueren und am 1. Mai 1840 einsatzbereit sein sollten. Mit der ausgeschriebenen Vergütung von 55.000 Pfund für die Postbeförderung erklärte er sich einverstanden. Nach zwölf Wochen harter Verhandlungen gewann er den Vertrag, weil er freiwillig anbot, die Post auch in der gefährlichen Wintersaison auf dem Atlantik zu befördern: Die britische Admiralität gab Cunard am 18. März 1839 den Zuschlag, am 4. Mai wurde ein Sieben-Jahres-Vertrag unterzeichnet. Abfahrten sollten jeweils am 4. und am 19. eines Monats erfolgen, in den Wintermonaten von November bis Februar war eine Abfahrt monatlich garantiert.
Cunard wandte sich an Robert Napier, der seine Werft auf dem Clyde bei Glasgow hatte und wollte drei Schiffe mit einer Größe von je 800 Tonnen und 300 PS zum Preis von 30.000 Pfund in Auftrag geben. Napier überzeugte den Reeder aber, größere Schiffe zu bauen, die möglichen heftigen Stürmen einer Atlantikreise besser gewachsen wären. Außerdem rechnete der findige Werftbesitzer vor, dass mit einem Schiff mehr der Profit höher sei, denn im regelmäßigen Fahrplandienst entspräche dies etwa zwölf Segelschiffen – die neu zu bauenden