Chance für alle - Anonyme Bewerbung
Von Rocco Thiede
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Über dieses E-Book
Rocco Thiede
geb. 1963, ist als Journalist und Fotograf für Tages- und Wochenzeitungen, den DLF und viele ARD-Hörfunksender zu den Themen Gesellschaft und Soziales tätig.
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Buchvorschau
Chance für alle - Anonyme Bewerbung - Rocco Thiede
Rocco Thiede (Hg.)
Chance für alle
Anonyme Bewerbung
Impressum
Titel der Originalausgabe: Chance für alle – Anonyme Bewerbung
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Christian Langohr, Freiburg
Fotos: Rocco Thiede
E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
ISBN (E-Book): 978-3-451-80518-9
ISBN (Buch): 978-3-451-33280-7
Inhalt
»Wir bedauern, Ihnen keine günstigere Mitteilung machen zu können« (Vorwort von Rocco Thiede)
Auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Diskriminierung (Gespräch zwischen Christine Lüders und Klaus F. Zimmermann)
»Plötzlich löste der Stau sich auf!« (Michael Bus porträtiert von Martin Ahrends)
»Unsere Massai-Kriegerin« (Natalie Mankoleyio porträtiert von Rocco Thiede)
»Ich war Metzger mit Leib und Seele« (Steffen Müller porträtiert von Rocco Thiede)
»Für mich hat das gepasst« (Anne Geißenhöner-Schäfers porträtiert von Rocco Thiede)
»Mama Nina« (Nina Kutschera porträtiert von Susanne Van Volxem)
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Autoren
»Wir bedauern, Ihnen keine günstigere Mitteilung machen zu können«
Vorwort von Rocco Thiede
Aus den Medien habe ich zum ersten Mal davon erfahren. Das Thema sprach mich sofort an. Nach Jahren der Festanstellung in einer großen Stiftung war ich meiner Familie zuliebe in meine Heimatstadt Berlin zurückgekehrt und machte ich mich mit einem kleinen Medienbüro selbstständig.
Mein Plan war eigentlich ein anderer gewesen, nämlich: mir in der Hauptstadt eine neue Festanstellung zu suchen. Nicht ganz einfach, wie ich bald feststellen musste. Ab einem gewissen Alter in einer gewissen Gehaltsklasse schien die Luft dünner zu werden. Umso hellhöriger wurde ich, als ich zunächst in einigen überregionalen Zeitungen mehrere interessante Artikel zu einem neuen Bewerbungsverfahren las. Später hörte ich in einer Radiosendung des Deutschlandfunks von einem Pilotprojekt, das bundesweit zu diesem Verfahren starten sollte. Es ging um die »anonyme Bewerbung«. Natürlich stellte auch ich mir die Frage: Wie soll das gehen? Eine Bewerbung ohne Foto abzusenden, ohne Hinweis auf das Geschlecht des Bewerbers, ohne Angabe zu Staatsangehörigkeit und Religion?
Als Journalist bin ich gewohnt, meinen Namen für das, was ich schreibe oder für den Hörfunk produziere, preiszugeben. Das gehört sich nicht nur so, sondern ein Verschweigen der Urheberschaft ist noch dazu aus vielen Gründen eher problematisch als vorteilhaft. Doch wer sich anonym bewirbt, tut eben dies: Er verschweigt erst einmal seinen Namen. Das ist so gewollt und hat System. Die Anonymisierung soll helfen, Hürden zu überwinden. Unsichtbare Hürden, die immer existieren, ob beabsichtigt oder nicht, weil unser Unterbewusstsein stets mitwirkt, wenn wir neue Menschen kennenlernen und uns einander vorstellen. Und genau das ist der Punkt bei der anonymen Bewerbung: Es geht darum, die Chance zu erhalten, sich überhaupt irgendwo vorstellen zu dürfen. Direkt und persönlich.
Jede Frau und jeder Mann – ob jung oder alt, ob in Ost- oder Westdeutschland geboren, ob mit Vorfahren aus Schlesien oder gar einem anderen Kontinent – kennt die Unsicherheiten, die mit der Jobsuche verbunden sind. Da spielt es eigentlich keine Rolle, wie man sich bewirbt, online oder ganz traditionell mit einem Anschreiben per Post. Ziel jeder Bewerbung um eine ausgeschriebene Stelle ist es, im zweiten Schritt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Wer sich, sei es aus persönlichen Gründen, sei es der Karriere wegen, nach einem neuen Job umschaut und mit viel Aufwand seine Zeugnisse zusammenstellt, seinen Lebenslauf auffrischt und auch sonst weder Kosten noch Mühen scheut, kennt die deprimierende Erfahrung, wenn dann ein dicker Umschlag im Briefkasten liegt und man schon vor dem Öffnen weiß: Das sind sie, meine Bewerbungsunterlagen retour. Und dann liest man diese fürchterlich gestanzten Worte: »Nach sorgfältiger Prüfung Ihres Know-how-Profils müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass dieses sich nicht ganz mit dem Anforderungsprofil unseres Klienten deckt. Wir bedauern, Ihnen keine günstigere Mitteilung machen zu können. Wir bedanken uns für das Vertrauen und wünschen Ihnen bei der Suche nach einer neuen Aufgabe viel Erfolg.« Oder: »Inzwischen haben wir alle eingegangenen Unterlagen eingehend geprüft und dabei festgestellt, dass andere Kandidaten dem uns vorgegebenen spezifischen Anforderungsprofil bezüglich der hier zur Rede stehenden Position noch besser entsprechen. Aus diesem Grund konnten wir Sie in diesem Fall nicht für ein erstes Gespräch einladen.«
Doch woran lag es, dass man wieder nicht zum Zuge kam? Ist man zu alt? Wollen die mich nicht, weil ich eine Frau bin? Führte gar die Behinderung, Hautfarbe oder der fremdländisch klingende Name zur Ablehnung?
In meinem persönlichen Fall muss ich wohl, ohne es konkret nachweisen zu können, bei der einen oder anderen Ablehnung von »Altersdiskriminierung« ausgehen. Absurd genug bei jemandem, der zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal die Fünfzig erreicht hatte … Aber auf jeden Fall ein Anreiz, mehr über die Hintergründe und Methoden der anonymen Bewerbung zu erfahren. Natürlich wollte ich als neugieriger Journalist ebenso wissen, ob und wie das Ganze in der Praxis funktioniert. Wie das Individuum mit dieser Erfahrung umgeht. So geben die in diesem Buch versammelten Reportagen auf sehr persönliche Weise Einblick in das Leben von Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen an einem Wendepunkt. Sie wollten oder mussten sich beruflich verändern. Dank des Pilotversuches zum anonymen Bewerbungsverfahren in Deutschland gelang es ihnen. Das gilt in übertragenem Sinne auch für die Sängerin Nina Kutschera, die ihr überragendes künstlerisches Talent nur Dank einer vorherigen Anonymisierung einem Millionenpublikum im TV präsentieren konnte.
Ich danke meinen Mitautoren Susanne Van Volxem und Martin Ahrends, dass sie sich zusammen mit mir auf den Weg gemacht haben, sich von den in diesem Buch porträtierten Menschen ihre Geschichte erzählen zu lassen. Ich danke dem Herder Verlag. Und ich danke der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die diese Reportagensammlung ermöglicht hat.
Dieses Buch versteht sich auch als kleiner Beitrag für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, für Fairness zwischen Arbeitgebenden und Arbeitssuchenden und für Offenheit im Miteinander. Möge es alle ermutigen, den Kampf gegen Diskriminierung jedweder Art nicht aufzugeben!
Rocco Thiede
Auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Diskriminierung
Christine Lüders und Prof. Klaus F. Zimmermann
Ein Gespräch über die Chance des anonymisierten Bewerbungsverfahrens mit Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, und Klaus F. Zimmermann, Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) und Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn.
Wer sich mit dem anonymisierten Bewerbungsverfahren beschäftigt, muss erst einmal die Hintergründe kennen, Frau Lüders: Wie kamen Sie auf die Idee?
LÜDERS: Menschen, die benachteiligt werden, wissen oftmals gar nicht, was eine Diskriminierung ist. Und sie wissen auch nicht, wie sie sich dagegen wehren können. Wenn jemand zu einem Bewerbungsverfahren gar nicht erst eingeladen wird, ist das zunächst einmal keine nachweisbare Diskriminierung. Die vielen Anfragen bei uns haben gezeigt, dass eine Reihe von Leuten nicht zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wurde, weil sie einen türkisch oder arabisch klingenden Namen haben. Andere Menschen werden aufgrund von Klischees oder Vorbehalten in unserem Land benachteiligt. Wir von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes setzen uns dafür ein, etwas gegen diese Benachteiligungen zu tun: über Öffentlichkeitsarbeit, Forschung – und durch sehr viele Beratungsgespräche. Ich wollte konkrete Zeichen setzen, wie man Diskriminierung abbauen kann. Deshalb haben wir ein Netzwerk von Beratungsstellen gegründet, das über ganz Deutschland verteilt ist. Dort erhalten die betroffenen Menschen juristischen Rat und eine Einschätzung, wie sie sich gegen Diskriminierung wehren können. Außerdem haben wir weitere Strategien zur Verhinderung von Benachteiligung erarbeitet. Dazu haben wir das Pilotprojekt »Anonymisierte Bewerbungsverfahren« gestartet. Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass wir für die wissenschaftliche Begleitung auch Herrn Professor Zimmermann und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom IZA gewinnen konnten. Das IZA hatte kurz vorher mit einer Studie über Praktikantinnen und Praktikanten für Aufsehen gesorgt, die wegen ihres ausländisch klingenden Namens diskriminiert wurden. Für uns stellte sich die Frage, wie Menschen, die gut integriert in Deutschland leben, auch auf dem Arbeitsmarkt eine gleichberechtigte Chance bekommen können. Aus dieser Fragestellung heraus haben wir uns für einen Pilotversuch zum anonymisierten Bewerbungsverfahren entschieden. Wir wollten dabei die Tendenzen der Benachteiligung aufdecken und Konzepte entwickeln, wie man Vorurteile abbauen kann.
Für Sie als Wissenschaftler ist der Ansatz sicher ein anderer, Herr Professor Zimmermann …
ZIMMERMANN: Als Arbeitsökonomen erforschen wir weltweit die Arbeitsbedingungen und Erfolge von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen. Dazu gehört auch die Rolle von Diskriminierung. Jede Auswahl für einen Job wird persönlich als Benachteiligung empfunden, wenn jemand aus guten oder schlechten Gründen die ausgeschriebene Position nicht bekommt. Diskriminierungen sind Auswahlentscheidungen, die ungerecht sind, die man messen kann und bei denen man auch schauen muss, wie sie verhindert werden können. Für uns als Forscher stellt sich zuerst die Frage, wie Diskriminierung – also etwa die Benachteiligung von Frauen, von älteren Menschen oder von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen – offengelegt werden kann. Das anonymisierte Bewerbungsverfahren ist ein sehr innovatives Konzept, das bisher weltweit noch nicht im großen Stil benutzt wird. Es gibt global ganz unterschiedliche Herangehensweisen, um