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Wie viel verrückt ist noch normal?: Mein Leben, meine Neurosen und ich
Wie viel verrückt ist noch normal?: Mein Leben, meine Neurosen und ich
Wie viel verrückt ist noch normal?: Mein Leben, meine Neurosen und ich
eBook321 Seiten4 Stunden

Wie viel verrückt ist noch normal?: Mein Leben, meine Neurosen und ich

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Über dieses E-Book

Seit dem ersten Schultag fürchtet sich Diana vor Killer-Keimen im Klassenzimmer. Ihr Kopf erkennt: "Wer wäscht, gewinnt". Aus dem Waschen wird ein Zwang, dem weitere folgen: Diana berührt weder Türgriffe noch Pflasterfugen, brummt wie ein Bär und betet bis zum Morgengrauen. Dreißig Jahre später schafft sie es schließlich, den Teufelskreis der Ticks und obsessiven Gedanken zu durchbrechen.
Humorvoll und selbstironisch führt uns dieses Buch vor Augen, dass es Normalität nicht gibt und das in jedem von uns etwas Verrücktheit schlummert.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum16. Aug. 2016
ISBN9783451805615
Wie viel verrückt ist noch normal?: Mein Leben, meine Neurosen und ich

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    Buchvorschau

    Wie viel verrückt ist noch normal? - Diana Fey

    Diana Fey

    Wie viel verrückt ist noch normal?

    Mein Leben, meine Neurosen und ich

    596.png

    Zum Schutz von Personen wurden Namen, Biografien und Orte zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen abgewandelt.

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

    Umschlagmotiv: © KITCHENKISS Photograph

    E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

    ISBN (E-Book) 978-3-451-80561-5

    ISBN (Buch) 978-3-451-34881-5

    Für Gertrud

    Inhalt

    Vorwort

    Kapitel I:

    Einsteigen

    Zwanglos und Mann los

    Großmutter, warum hast du solch ein großes Mundwerk?

    Vom Waschwahn zum Gaga-Gang

    Wie das Unterirdische zum Außerirdischen wurde

    Ein kurzer Mädchentraum

    Das Leben ist kein Ponyhof

    Lieber lebendig?

    Stille Nacht, gestörte Nacht

    Die Zeit vergeht – Die Zwänge bleiben

    Warum furzet Ihr nicht?

    Wer nicht büßen will, der betet

    Das Märchen vom Pärchen

    Der leere Ernst des Lebens

    Liebeslast

    Der Schöne und das Beef

    Wasch & weg

    Psychotische Stille

    Kapitel II:

    Absteigen

    Neues Leben – Altes Laster

    Crazy and the City

    Heimische Hirngespinste

    Vom Zwang der Gewohnheit

    Einsteins Erkenntnis

    Vom Zwang zum Zwerg

    Wie die Angst, so der Zwang

    Kapitel III:

    Aussteigen

    Wer wird denn wieder zwängstlich werden?

    Liebesleben

    Alter Zwang – Neues Leben

    Schneeweißchen ist Neurosen-tot

    Mit der Zange an die Zwänge

    Fisch & fertig

    Die Freude vor dem Fall

    Das Ende vom Anfang

    Zwangsvollstreckung

    Chaosqueen

    Sinn der Sache

    Danksagung

    Über die Autorin

    Vorwort

    Ein bitterbös-humoriges Buch über mich und mein gestörtes Ich habe ich bereits geschrieben (wenn auch über mein essgestörtes Ich). Nun folgt Nummer Zwei und erzählt, wie mich meine Ängste in die Zwangsstörung trieben.

    Ja, was soll das denn?, werden Sie sich vielleicht fragen, ist die Frau tatsächlich so verrückt, gleichzeitig essgestört und zwangsgestört zu sein? Die Antwort lautet: Ja.

    Fakt ist, dass mich mein Kopf ein Vierteljahrhundert zu Dingen zwang, die ich nicht tun wollte und die auf Außenstehende ziemlich verrückt wirkten. Leider erkannte ich erst spät, dass meine sogenannte ÜberGebensstrategie mir mein (Über)-­Leben genauso wenig sichern konnte wie übersteigertes Waschen oder Wischen; dass mir Türgriffe, die ich ausschließlich mit dem ­Ellenbogen betätigte, ähnlich wenig brachten wie exzessives Beten oder Brummen.

    »Wahrlich verrückt«, kann auch ich heute, nach dem regelmäßigen Besuch einer Therapie und nüchtern betrachtet, dazu sagen. Und doch gibt es sicherlich den ein oder anderen Zwang, den auch Sie, liebe Leser, aus ihrem eigenen Leben kennen. Wobei wir auch schon beim Thema wären: Wer oder was ist eigentlich normal? Mit einer Lebensgeschichte wie dieser entlarven wir die scheinbare Normalität, die es nicht gibt, nicht geben kann und auch niemals geben wird.

    Ich wünsche Ihnen angenehme Lesestunden und hoffe, dass Sie nach der Lektüre nicht wie ferngesteuert zurück in die Küche eilen, um nach der ausgeschalteten Herdplatte zu sehen.

    Diana Fey, im August 2016

    Kapitel I

    Einsteigen

    Zwanglos und Mann los

    Es ist drei Uhr nachts. Ich bin zwangsgeheilt, stehe im rosafarbenen Schlafanzug vor der Haustür meiner Eltern und habe trotz wiederhergestellter Gesundheit allen Grund zum Heulen.

    Links trage ich mein schlafendes Kind, rechts einen schlampig gepackten Koffer, aus dem die linke Hälfte meines BHs hängt. Um die Klingel zu drücken, benutze ich meinen Ellenbogen. Nicht wegen akuter Ängste, sondern mangels anderer Möglichkeiten.

    Sofort flutet Licht aus allen Fenstern und der Lärmpegel steigt.

    »Diana!«, ruft mein Vater über den verschlafenen Ort, während er mir die Tür öffnet. »Hat er dich jetzt rausgeworfen?«

    Eine unnötige Frage. Die fünfhundert Kilometer in meine alte Heimat habe ich sicher nicht zum Spaß auf mich genommen. Mitten in der Nacht. Im Schlafanzug.

    Ich lasse meine Tränen sprechen und drücke Papa mein schlafendes Kind in die Arme. Was für ein Bild: Mein Vater, mein Sohn und mein verwirrter Geist.

    Schon verschwindet ersterer mit meinem Kind, so routiniert wie eine Säuglingsschwester. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn kleine Erdlinge gehören zum Fachgebiet meiner Eltern. Zum einen, weil sie selbst kaum die Einssiebzigmarke knacken, zum anderen, weil ihr Haus schon immer voller Kinder und Kleintiere war.

    Und nun bin auch ich wieder hier. In dem kleinen, nordhessischen Nest, aus dem ich damals in die Großstadt flüchtete, nicht wissend, dass es vielmehr die Zwänge waren, die mich zur Flucht trieben.

    Ich versuche, den nun aufkommenden Gedankenballast auszublenden, und atme erst einmal tief durch. Dann gehe ich zurück zum Auto und hole den Hund heraus. Schwanzwedelnd springt er durch die sperrangelweit offen stehende Haustür. Kaum, dass auch ich hindurchschreite, kommt mir mein rosafarbener Schlafanzug entgegen, mit dem Unterschied, dass meine Mutter darin steckt. Konsterniert schaue ich erst an ihr, dann an mir hinunter, während Mama gequält den Kopf schüttelt: »Er hat dich verlassen, weil du so querch bist, richtig?«

    Querch ist dorf-deutsch und bedeutet gaga, gestört, nicht ganz richtig im Kopf. Und ja, Mama hat Recht. Auch wenn meine Sucht nach Zwangshandlungen Geschichte ist – genauso wie meine Ehe –, so fühle ich mich doch quercher denn je. Die Frau, die mir einst das Leben schenkte, scheint es ähnlich zu sehen: »Konntest du dich denn gar nicht mehr zusammenreißen? Mensch, das arme Kind braucht doch einen Vater.«

    Ich bin kurz davor, im Sinne Edvard Munchs zu reagieren: Hände an die Ohren und laut losschreien. Das würde meine Querchheit allerdings nur unterstreichen, also zeige ich stattdessen auf Muttis Schlafanzug: »Das war wohl ein Sonderangebot, nicht wahr?«

    Mit einem geseufzten »Ja« bestätigt sie mir ihre nicht überwundene Sucht nach Schnäppchen in der Textilbranche. Mit ihrem Klamotten-Konsum kompensiert meine Mutter klägliche Gefühle. KARSTADT & Co. erledigen bei ihr das, wofür bei mir zahlreiche Zwangshandlungen herhalten mussten. Jetzt, da ich endlich zu meinen schlechten Gefühlen stehe, weiß ich, wie schlimm es ist, wenn man das nicht kann. Meine arme, arme Mama …

    »Mein armes, armes Kind«, schluchzt sie und drückt mich mit einer überwältigenden Herzlichkeit an sich. Klarer Fall: Zwei Querche, unzählige Gefühle, keine weiteren Worte. Meine Tränen durchtränken unsere Schlafanzüge. Kein Problem, denn wie ich die Kaufkraft meiner Mutter kenne, hat sie noch zwei weitere davon im Haus.

    »Willst du etwas essen?«, fragt sie mich, weil mein Kinn wohl etwas zu fordernd an ihrer Brust haftet. Ich lasse von ihr ab und schüttle meinen Kopf, dessen Schmerzen eine klare Sprache sprechen. Das einzige, was ich jetzt wirklich benötige, ist Ruhe. Zugegeben, dafür habe ich mir den unmöglichsten Platz der Welt ausgesucht. Der Lärmpegel in meinem Elternhaus macht dem eines Presslufthammers Konkurrenz. Tag und Nacht. Seufzend greife ich nach meinem Koffer und schlurfe die Treppen hinauf.

    »In dein Zimmer kannst du nicht, Schatz«, ruft Mama mir in gewohnt hoher Dezibelzahl hinterher.

    »Warum?«, frage ich, während ich schon den Türgriff be­tätige (mit der Hand wohlgemerkt), »Hat Papa dort etwa den zehnten Kleiderschrank reingeschreinert?«

    Irgendwo müssen Mamas Sonderangebote schließlich untergebracht werden und mein Vater muss ganz nebenbei seiner Sucht zu schreinern frönen.

    »Nein, Diana, da drin …«, höre ich meine Mutter noch sagen, erahne, dass es auch irgendetwas mit meinem nicht minder querchen Cousin zu tun haben könnte, der sich einfach nicht vom Haus meiner Eltern lösen will, doch es ist bereits zu spät. Ich stehe in meinem ehemaligen Kinderzimmer und spüre einen heftigen Schmerz an meiner Ferse. Mein Blick fällt nach unten. Dort hängt ein kleiner Fellball, der den Schmerz mit hoher Wahrscheinlichkeit verursacht hat. Ich schreie wie am Spies, woraufhin das Knäuel von mir ablässt und im Korridor verschwindet.

    »Keine Angst!«, beschwichtigt eine männliche Stimme. Es ist mein Cousin Holger, der in meinem alten Bett sitzt, eingerahmt von zwei kleinen Köpfchen, die mich anblicken, als sei ich der Weihnachtsschreck.

    »Kim! Kira! Das ist die Diana«, ergänzt er in einem Ton, als stünden sie vor einem Affen im Zoo. Ein Köpfchen meint erschrocken: »Müssen wir jetzt zu der gehen?«

    »Aber nein, schlaft bitte weiter«, entgegne ich bemüht zuvorkommend. »Ich gehe in ein anderes Zimmer.«

    »Aber Klops fehlt doch noch«, protestiert das andere Köpfchen.

    »Wer ist Klops?«, frage ich, während ich mich parallel frage, ob Kim und Kira noch ein Geschwisterchen namens Klops dazubekommen haben. Meinem Cousin wäre das durchaus zuzutrauen.

    »Der Hund, Diana, der Hund«, stöhnt Holger, dann schiebt er sich aus dem Bett und brüllt ein ohrenbetäubendes »­Klops« durch das ganze Haus.

    Ich husche in das nächstbeste Zimmer. Bis auf einen Kleider­berg in der hintersten Ecke, drei monströsen Schränken und einer mit Kleidungsstücken beladenen Ausziehcouch, die man aufgrund der Schränke nicht mehr ausziehen kann, ist dort niemand. Ich lasse meinen müden Körper auf die Klamotten sinken … ohne vorher mehrmals aus dem Zimmer hinaus und wieder hinein zu gehen, ohne Händewaschen, ohne Umziehen, ohne Brummen. Ja, ich sehe noch nicht einmal nach meiner schmerzenden ­Ferse.

    Tatsache ist, ich bin geheilt. Geheilt von meinen Zwängen, die ohnehin nie meine waren. Und doch habe ich das Gefühl, kurz vorm Wahnsinn zu stehen.

    Die Zimmertür öffnet sich und meine Eltern betreten den Raum. Mein noch immer schlafendes Kind liegt im Arm ­meines Vaters. Nichts in dieser Nacht konnte den kleinen Mann wecken. Nicht der lautstarke Streit seiner Eltern. Nicht das nächtliche Verfrachten ins Auto. Und auch nicht seine aufgewühlte Mama, die jetzt, nach fünf Stunden und fünfhundert Kilometern, fix und fertig auf dem Gipfel eines Klamottenberges sitzt. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so miserabel gefühlt, dabei versprach mir mein Therapeut: »Ohne Zwänge werden Sie so befreit und glücklich sein wie nie zuvor.« Dass ich mich mit den Zwängen auch von meinem Mann befreien könnte, erwähnte er nicht. Hätte ich das vorher gewusst, dann hätte ich die Zwänge verdammt noch mal behalten. Nun habe ich den Salat, sitze vor dem Scherbenhaufen meiner Ehe und sehe ein, dass neben Glücklich-Aussagen auch die Zeit relativ ist: Ich trage dreißig Lebensjahre auf dem Buckel. Davon vierundzwanzig zwangsgestörte, von denen die letzten sechs meine besten waren. Ein starkes Gefühl der Reue steigt in mir auf und ich sehne mich nach einem Beichtvater. Schon baut sich mein eigener Vater vor mir auf wie der Papst persönlich. Seine rechte Hand umfasst die Babyflasche wie einen Krummstab, die linke mein Kind wie einen Reichsapfel. Um dem ganzen noch einen Heiligenschein zu verpassen, verspricht er mir, dass ich immer auf ihn zählen könne, dass er immer für mich da wäre. Denn ich sei sein Kind, sein geliebtes Kind.

    Das ist zu viel. Ich krame in meinem Koffer nach dem Fläschchen mit Bachblüten, das mir die esoterische Erika vor meiner Abfahrt in die Hand gedrückt hat.

    »Sollen wir den Kleinen heute Nacht mit in unser Bett nehmen?«, fragt meine Mutter im lammfrommen Ton, während sie mir wohlwollend über den schmerzenden Kopf streichelt.

    Anscheinend gibt es gar keine andere Möglichkeit. Für das Reisebettchen ist hier dank Muttis Textiltrophäen und Vatis Sucht nach Selbstgeschreinertem kein Platz. Und die nicht ausgezogene Couch ist für mich allein schon zu klein. Ich gebe einen lauten Seufzer der Verzweiflung von mir. Verdammt, ich will jetzt nicht auch noch auf mein Kind verzichten!

    »Ach, wir schieben einfach einen Schrank in den Flur«, meint Papa aufmunternd.

    »Danke«, stammle ich und weiß ja selbst, dass meine Eltern so viel mehr als Worte verdient haben, doch leider bin ich noch nicht einmal in der Lage, mit meinen Fingern ein kleines Bachblüten-Fläschchen zu öffnen. Ich versuche es mit den Zähnen. Fast zerbeiße ich das Glas, so sehr erschrecke ich, als mein Vater plötzlich in einer Lautstärke sondergleichen durch das ganze Haus krakeelt: »Holger, komm mal ­runter!«

    Reflexartig nehme ich ihm mein Kind aus dem Arm. Es schläft noch immer. Woher nur nimmt es diese unerschütterliche Ruhe? Beeindruckt bette ich es in dem Berg Klamotten, der uns nun beide umgibt wie ein schützendes Nest. Und doch beschleunigt sich mein Herzschlag aufs Neue, als mein Cousin lauthals fluchend die Treppen hinuntergepoltert kommt und das ganze Haus zum Beben bringt. Ein Grund mehr, mich postwendend mit einer Überdosis Bachblüten ­ruhig zu stellen.

    Alles, was folgt, bekomme ich nur noch am Rande mit. Zum einen, weil ich durch die vielen Tränen nichts erkennen kann. Zum anderen, weil ich mir mit dem Fläschchen Bachblüten auf Ex eine nicht gerade geringe Menge Alkohol einverleibt habe. Und ich vertrage überhaupt keinen Alkohol.

    Ein paar Satzbruchteile finden dennoch den Weg in mein Gehör: »Scheiß Schränke!«, »Ich will schlafen!«, »Klops!« – untermalt von einem sirenenartigen »Ruhe!«.

    Gut, dass ich mich selbst sediert habe und mir weder Chaos noch Lautstärke etwas ausmachen. Wohlige Wärme und angenehme Schwere entspannen meinen Körper … bis unerwartet eine längst verdrängte Erinnerung in meinem entleerten Hirn erscheint. Ich sehe mich als sechsjähriges Mädchen, an meinem ersten Schultag. Und es ist der Tag, an dem …

    »Ruhe!«, kreischt es neben mir und eine Hand greift nach meinem Kind. Entgeistert blicke ich auf. »Wir nehmen den Kleinen mit in unser Schlafzimmer. Und du ruhst dich aus«, sagt Papa und verschwindet mitsamt meinem Kind im Korridor.

    Bevor ich etwas erwidern kann, schließt sich die Tür. Dunkelheit und Stille erfüllen den Raum. Ich möchte meinen Eltern gerade hinterherlaufen, als die Erinnerung erneut nach meinem gedanklichen Ärmel greift und mich zurück in die Zeit entführt, als ich ein kleines Mädchen war. Ein kleines Mädchen, das sich sehr fehl am Platz fühlte. Damals, zu der Zeit als das mit den Zwängen begann …

    Großmutter, warum hast du solch ein großes Mundwerk?

    Die Geschichte meiner Zwänge begann im Sommer 1986. Ich war sechs Jahre alt, scheinbar normal und schaute zu meinem großen Bruder Horst auf.

    »Jetzt kümmere ich mich um dich«, sagte dieser im gefühlvollen Ton. Leider nicht zu mir, sondern zu einer Tafel Luftschokolade, die er ungefragt aus meiner Zuckertüte entwendet hatte. Bevor ich protestieren konnte, hatte Horst die Tafel auch schon vertilgt und rülpste mir nur noch ihre molekularen Überreste in die Nase. Ich machte ein trauriges Gesicht.

    »War doch nur heiße Luft!«, rief Mama daraufhin. Ich dachte, sie meinte meine Schokolade, doch dann fiel mein Blick auf den blanken Babypopo, den sie dabei fixierte. Der wiederum gehörte meinem neuen Bruder, der trotz seiner Winzigkeit von einer Wichtigkeit umgeben war, die sogar seine Fürze erwähnenswert machte. Ich seufzte laut.

    »So, mein bestes Stück, jetzt bist du an der Reihe«, sprach Oma. Schön, dass sie mich mit ihrer Aufmerksamkeit bedachte. Schade, dass ihre aufmunternden Worte gar nicht mir, sondern ihrer Brille galten, die sie infolgedessen putzte.

    Als ich gerade überlegte, durch lautstarkes Losheulen auf meinen angeblich so aparten neuen Lebensabschnitt aufmerksam zu machen, übernahm auch das ein anderer. Sirenenartiges Geheul drang aus dem Keller zu uns herauf. Es stammte von einer Säge, mit der sich mein Vater just in dem Moment austobte. An und für sich keine ungewöhnliche Familiensituation, hätte meine Familie nicht vorab behauptet, dass dieser Tag ein ganz besonderer für mein zukünftiges Leben sei. Es war mein erster Schultag, und er hatte in der Tat ganz vielversprechend begonnen.

    Ein paar Stunden zuvor strahlte die Sonne mit meiner Lehrerin um die Wette, und ich startete meine ersten zaghaften Annäherungsversuche beim gleichen Geschlecht. Mädchen waren für mich absolutes Neuland. Bislang fristete ich ein Dasein als Anhängsel meines großen Bruders. Der ganze Sinn meines Lebens bestand darin, Horsts Latzhosen auf- und ihm seine Autos hinterherzutragen, während mein großer Bruder wiederum viel lieber einen kleinen Bruder gehabt hätte. Vor ein paar Monaten wurde sein Wunsch dann Wirklichkeit. Billy kam. Mit einem gewaltigen Knall.

    »Mama, bitte nicht noch ein Junge«, schluchzte ich, während Horst vor Freude hüpfte. Es hatte vier Tage gedauert, bis wir unser neues Familienmitglied zum ersten Mal begutachten konnten. Billy wurde zeitgleich mit radioaktiven Strahlen in unsere Welt gesetzt, weshalb mein Vater ihn in Tscherno-Billy umtaufte. Nun, da sich die Männer unseres Hauses über ihre Verstärkung freuten, strahlte Mama wie ein kleiner Kernreaktor. »Mutterglück« nannte sie das und ergänzte: »Du kannst dich glücklich schätzen, einen großen Bruder zu haben«. Auch wenn ihre Worte nicht mir, sondern Billy galten, konnte ich diese so nicht bestätigen. Mit meinem eineinhalb Jahre älteren Bruder Horst fühlte ich mich nämlich alles andere als gesegnet. Nicht nur, weil er mich regelmäßig unterdrückte und mir meine Süßigkeiten stibitzte, sondern auch, weil all die wichtigen Lebensetappen bei ihm berauschende Premiere feierten, während mir bloß die abgespeckte Ein-Jahr-darauf-Version vergönnt war. So auch jetzt. Als Horst eingeschult wurde, waren mindestens vierzig Gäste um den reich gedeckten Tisch versammelt. Am Tag meiner Einschulung saß meine übermüdete Mutter neben unserem einzigen Gast: Oma.

    Ich blickte auf die viereinhalbköpfige Runde und dann auf den mit Babyartikeln überladenen Tisch, in dessen Mitte ein paar ölige Nussecken noch immer aus der Bäckerstüte lugten, in der sie Oma mitgebracht hatte. Anstatt nach Nuss­ecken griff Horst zum wiederholten Male in meine Zuckertüte, Oma widmete sich abermals ihren Brillengläsern und Mama dem neu in unsere Familie gekommenen und bestimmt auch deshalb so laut protestierenden Billy.

    Ich beschloss, die letzten Stunden noch einmal Revue passieren zu lassen, und dachte an die Mädchen. Die langhaarigen, lebenslustigen, liebenswürdigen Mädchen, die meinen ersten Schultag allein durch ihre Anwesenheit zu etwas Besonderem gemacht hatten. Meine Zukunft an ihrer Seite sah wahrhaft rosig aus. Bald schon würde mein Leben nicht mehr nur aus Horst und seinem Männerkram bestehen. Nein, mit meinen neuen Freundinnen würde ich richtige Mädchensachen tun, ohne als verweichlichter Schlappschwanz abgestempelt zu werden. Ich könnte verletzlich und rosarot sein, ohne mich ausgeschlossen und verspottet zu fühlen. Und das Beste: Ich müsste mich nicht mehr länger verstellen, um dazuzugehören. In dieser Erwartung freute ich mich wie ein Honigkuchenpferd, dachte an Flechtfrisuren, frische Blumen und Ponyhöfe, als Oma mich urplötzlich aus meiner kitschigen Träumerei riss. Die Brille ruhte wieder auf ihrer Nase und ihr Blick nun auf mir: »Kind, wir müssen reden!«

    Na also. Voller Vorfreude strahlte ich sie an. Und dann versiegte die Vorfreude, da ich lediglich von den Schattenseiten der Schule erfahren sollte. Eigentlich wollte ich solche Dinge gar nicht wissen, schließlich begann meine Welt endlich und zum ersten Mal rosarot zu werden. Und doch hörte ich Oma zu, und das aus zweierlei Gründen: Zum einen waren meine Gesprächspartner rar. Papa sprach meist nur mit ehemaligen Bäumen. Horst sprach nur über Horst. Und Mama war nur noch die Mama meines Minibruders, der wiederum noch nicht einmal sprechen konnte. Zum anderen tat man lieber das, was Oma wollte. Trotz ihres Alters war sie nämlich so willensstark und durchsetzungsfähig, dass man den Eindruck bekommen könnte, sie regiere unser Land. Oma legte auch gleich los. Für sie war die Schule ein Hort des Drecks. Das irritierte mich nun doch, denn so schmutzig kam es mir dort gar nicht vor. Ich meinte mich sogar an eine Putzfrau samt Putzwagen zu erinnern, die einen künstlichen Zitronenduft hinter sich herzogen.

    »Papperlapapp! Das Klassenzimmer ist voller Krankheitserreger. Viren, Bakterien, Keime. Klitzekleine Tierchen, die du nicht sehen kannst. Und die dich trotzdem umbringen.«

    Mit kleinen Tieren hatte ich keine Probleme, denn die schleppte Horst Zeit seines Lebens in unser Haus. Mit dem Tod hingegen konnte ich so ganz und gar nicht. Wenn dieses Thema aufkam, wurde mir ganz schwindelig und ich versuchte krampfhaft, an etwas anderes – möglichst etwas Lebendiges – zu denken.

    Just da zählte Oma jene Seuchen auf, die einen dahinsiechen ließen. Ich erfuhr von abfallenden Körperteilen (Lepra), einer sich auflösenden Luftröhre (Tuberkulose), sich erst schwarz färbender und dann verschwindender Haut (Pest) sowie vom langsamen Sterben an einem simplen Husten (Aids). Tatsächlich war meine Oma ein wandelndes Krankheitslexikon. Kaum ein Wehwehchen, das sie nicht kannte. Zu ihrer Ehrenrettung muss ich jedoch sagen, dass sie sich auch bestens mit Gegenmitteln auskannte, allerdings nur solchen aus dem Mittelalter.

    »Übrigens sehen die meisten Kranken nicht einmal krank aus. Und doch tragen sie todbringende Bakterien in sich, die sofort auf dich überspringen.«

    Sofort sprang mein besorgter Blick zu meiner Mutter, die aber nur selig vor sich hinlächelte, ihre Brust auspackte und das Billy-Baby anstöpselte. Omas Wissen war noch lange nicht erschöpft: »Kennst du die Tollwut? Die macht dein Hirn kaputt, dann wirst du ganz bösartig. Manche Menschen werden durch diese Krankheit sogar zu Mördern. Und wo verbreitet sich die Tollwut? Na? In der Schule natürlich. Erst letzte Woche stand in der BILD, dass ein Schüler seinen Lehrer verprügelt hatte. Schwarz auf weiß.«

    Jetzt bekam ich wirklich Angst. Anders als Mama, die leise vor sich hin kicherte, sodass ihre Brust aus dem Säuglingsmund flog, der sich daraufhin sofort in eine Sirene verwandelte.

    »Oma, wie merke ich denn, dass ich Tollwut habe?«

    »Du hast Schaum vorm Mund. Unkontrolliertes Sabbern. Dann ist es aber schon fast zu spät.«

    Mein Blick fiel auf Tscherno-Billy, für den wohl schon jetzt jede Hilfe zu spät käme. Zum Glück war er noch zu klein, um meine Mutter zu verprügeln. Letztere erkannte den Ernst der Lage irgendwie nicht. Im Gegenteil. Sie kicherte noch immer. Wohl auch deshalb, weil sie die Schule längst überlebt und keine Angst mehr vorm Sterben haben musste. Ich dagegen besaß weder Schulerfahrung noch eine eigene Meinung. Tatsächlich nahm ich all das für bare Münze, was mir dominant zu Ohren getragen wurde. Und überzeugend konnte Oma wie kein anderer sein. Zumindest in meiner Familie, in der neben meinem großen Bruder und meiner Großmutter niemand mit Durchsetzungskraft glänzte. Mama war mit einem milden Gemüt gesegnet, immerzu freundlich und gegenüber Fremden stets verhalten. Generell nahm sie sich zurück, selten erlebte ich sie in Rage. Und das bei drei kleinen Kindern.

    So stoisch wie sie war mein Vater schon aufgrund seines lauten Sprechorganes nicht. Letzteres zu nutzen, um anderen die Meinung zu geigen, lag ihm allerdings auch fern. Papa litt offensichtlich unter Harmoniesucht, die oftmals zu einem selbstlosen Helfersyndrom ausartete. Zur Freude von Verwandten und Nachbarn baute er Küchen ein, richtete Gartenzäune auf oder bewältigte komplette Umzüge. Zu Hause kompensierte er Frust und Kummer mit seinem »Holzventil«, schnitzte kleine Spielzeuge oder schreinerte ganze Schränke. An meinem ersten Schultag entstand im Keller ein mittelgroßes Regal, während Oma mich einschneidend über alle Seuchengefahren der Schule aufklärte.

    Mittlerweile waren wir bei der Blutvergiftung angekommen:

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