Opfern am Mittag: Novelle
Von Helga Brehr
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Über dieses E-Book
Helgas Brehrs einfühlsame Novelle basiert auf der Tragödie "Iphigenie in Aulis" und erzählt auf's Neue den Drang der Menschheit sich oder andere zu opfern. Ob man eigene Ziele verfolgt oder für das Wohl seiner Mitmenschen besorgt ist – die Entscheidung, ein Opfer zu bringen, ist stets ein moralisches Dilemma. Erst recht, wenn die Opfer Teil der Pharmaindustrie des 21. Jahrhunderts sind. Und wenn es die eigene Gesundheit betrifft? Wie würden Sie sich entscheiden? Würden Sie auch opfern am Mittag?
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Buchvorschau
Opfern am Mittag - Helga Brehr
Verlagsprogramm
Kapitel 1
Kristina Töpfer hält die Kontoauszüge in der Hand, die der Automat gerade ausgespuckt hat. Ein heißes Kribbeln steigt ihr in den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem einundfünfzigjährigen Leben hat sie durch eigene Arbeit solche Summen verdient. Sie starrt versunken auf die fünfstelligen Zahlen, hört nichts von dem Geratter der anderen Automaten in der Schalterhalle, von dem leisen Stimmengewirr, bemerkt nicht die Zugluft, die ihren Rücken streift, wenn sich die großen Glastüren öffnen, sie nimmt nicht einmal den Bratwurstgeruch wahr, der durch die Türen dringt und der sie bei Aufenthalten in dieser Bank im Zentrum von Kassel sonst immer so stört.
Es ist Dienstag, der 18. Oktober 2011, kurz nach zehn Uhr, sie ist auf dem Weg vom Einkaufen an der Bank vorbeigekommen und hat der Versuchung nicht widerstehen können, einen Blick auf ihre Kontoauszüge zu werfen. Noch zweifelnd, ob die Überweisungen für den Verkauf ihrer Skulpturen bereits eingetroffen seien, hat sie die Halle mit den Automaten betreten. Die Ausstellung ihrer Werke lief die ganze vergangene Woche. Während dieser Zeit schaute sie staunend zu, wie einer Skulptur nach der anderen ein roter Punkt aufgeklebt wurde. Insgesamt vierzehn Objekte hat sie verkauft, und nun sind schon mehr als die Hälfte davon bezahlt.
Kristina steckt die beiden wertvollen Zettel in ihre Handtasche und geht langsam, mit erhobenem Kopf, hinaus durch die Schiebetür, die sich leicht zischend hinter ihr schließt. Sie dreht sich nach links, von den Wurstbuden weg, und schlendert langsam den Gehweg entlang, vorbei an Schaufenstern mit Schuhen, Taschen und Arzneimitteln. Mit abwesendem Blick schaut sie hinein, ohne wirklich wahrzunehmen, was dort ausgestellt ist.
Dann sieht sie ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe, ihre mittelgroße Statur, die schlanken Beine, den leicht gerundeten Bauch, den vollen Busen. Ihr wird erneut bewusst, wie feminin sie wirkt. »Und das bin ich ja auch«, denkt sie, im Grunde sogar hoffnungslos romantisch. Ihre Lieblingskomponisten sind Brahms, Chopin und Tschaikowski, und sie liest gelegentlich gerne einen melodramatischen Liebesroman.
Trotzdem hat sie auch etwas Energisches an sich, eine zupackende und entschlossene Seite. Wie könnte sie sonst harte Steine bearbeiten? Es braucht Kraft und Klarheit, Überflüssiges wegzuschlagen, Konturen herauszuarbeiten. Konturen, die allerdings überwiegend weiche, fließende Formen haben, wie bei Gerald Moore, ihrem großen Vorbild.
In letzter Zeit jedoch hat sie ihren Skulpturen mehr und mehr etwas Eckiges und Kantiges gegeben. Als sie an diesem Morgen ihr eigenes Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete, kam ihr die Idee, dass es eine Parallele zu dieser Tendenz geben könnte: Ist nicht ihr früher eher volles und rundliches Gesicht etwas markanter geworden? Kommen nicht die kräftigen Wangenknochen stärker hervor? Wirken die vollen Lippen nicht etwas trotziger? Und haben die sanften braunen Augen nicht einen leidenschaftlichen Ausdruck bekommen, seit sie sich wieder mehr mit der Kunst beschäftigt?
In den welligen braunen Haaren hat sie heute die ersten Silberfäden entdeckt und mit Überzeugung beschlossen, sie auf keinen Fall wegfärben zu lassen, ebenso wenig wie sie die langsam tiefer gehenden Falten um Mund und Augen unterspritzen lassen würde.
Während sie noch immer vor dem Schaufenster steht, kreisen ihre Gedanken um das Geld auf ihrem Konto. Und um ihren Durchbruch in der Bildhauerei. Die erste große Anerkennung. Soll sie Anton davon erzählen?
Er, der ihre künstlerische Arbeit immer ein bisschen belächelt hat als Freizeitbeschäftigung, als Bastelei, als nettes Hobby – würde er sich freuen über ihren Erfolg? Oh nein! Erfolg ist seine Sache. Seine Frau soll sich mit hübschen Dingen umgeben und ansonsten für ihn da sein – wenn er denn auftaucht. Nie hat er einen wirklich anerkennenden Blick oder ein positives Wort für ihre Skulpturen. Seit längerer Zeit schon hat sie ihm ihre Werke weder gezeigt noch mit ihm darüber gesprochen. Wenn er nach Hause kommt, will er selbst erzählen und möglichst nicht unterbrochen werden. Kristina spürt auch, dass Anton ihr keineswegs ein eigenes Einkommen gönnt. Er ist der Versorger der Familie, und er verdient genug. Sie hat es nicht nötig, von anderen außer ihm Geld zu bekommen. Kristina hat den Verdacht, sie soll von ihm abhängig sein und dadurch nach seinen Wünschen manipulierbar.
Als Jutta, eine ehemalige Studienkollegin von der Kunstakademie, die in der Kasseler Innenstadt eine Galerie betreibt, sie zum wiederholten Mal aufforderte, ihre Werke bei ihr auszustellen, sagte Kristina diesmal aus einer unerklärlichen Laune heraus ja. Aber sie erzählte weder ihrem Mann noch ihren Töchtern davon. Die Gefahr, dass jemand aus ihrer Familie sich in eine Galerie verirrt, ist sehr gering. Und die kurze Ankündigung im Kulturteil der Zeitung las auch keiner ihrer Lieben.
An dem Tag, als Kristina ihre Arbeiten in die Galerie brachte, hätte sie mit einem so durchschlagenden Erfolg niemals gerechnet. Nun steht sie vor dem Dilemma: Weiterhin schweigen und aus ihrer Künstlerkarriere, die nach so vielen Jahren endlich in Gang zu kommen scheint, ein Geheimnis machen? Oder die Karten auf den Tisch legen und Anton sagen: Ich habe Erfolg, und ich mache weiter. Ich lasse mich nicht mehr auf die Rolle als deine Ehefrau reduzieren.
Ist sie sich sicher genug, dass es ihm nicht gelingen würde, sie von ihrem Vorhaben abzubringen?
Grübelnd überquert sie die Straße, übersieht fast, dass ein Bus sich von der Haltestelle aus in Bewegung setzt, springt zurück und führt dann bedächtig ihren Weg fort.
Sie findet zu keiner Entscheidung.
Sie weiß nicht, dass bei ihrer nächsten Begegnung mit Anton weit brisantere Ereignisse im Vordergrund stehen werden und sie sich daher im Moment ganz umsonst den Kopf zerbricht.
Kapitel 2
Kristina Töpfer parkt ihr Auto beim Herkulesdenkmal, einem der Wahrzeichen von Kassel.
»Nun lasst uns noch einen schönen Abendspaziergang machen«, sagt sie zu ihren beiden Töchtern Irene und Erika, nachdem sie ausgestiegen sind. Die beiden Schwestern haben während der Fahrt schweigend im Auto gesessen, jede in ihre Gedanken vertieft. Kristina hat Irene, die fertige Studentin, die neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, mit vorsichtigen Blicken gestreift und Erika auf dem Rücksitz im Spiegel